Man kann nicht sagen, dass das Everhard-Manuskript ein wichtiges historisches Dokument sei. In Bezug auf das Historische strotzt es von Irrtümern — Irrtümern nicht betreffs der Tatsachen, sondern deren Auslegung. Wenn wir auf die sieben Jahrhunderte zurückblicken, die seit Vollendung des Manuskripts durch Avis Everhard vergingen, sind uns die Ereignisse, die ihr verworren und verschleiert erscheinen mussten, klar. Ihr fehlte die Perspektive. Sie war den Ereignissen, über die sie schreibt, zu nahe, ja, sie war mit ihnen verschmolzen. Nichtsdestoweniger ist das Everhard-Manuskript als persönliches Dokument von unschätzbarem Wert. Aber auch hier sind ihr Irrtümer unterlaufen, die ihre Ursache sowohl in ihrem Mangel an Perspektive wie in den Vorurteilen haben, welche ihr die Liebe eingegeben hat. Aber wir verzeihen Avis Eberhard lächelnd die Heldenverehrung ihres Gatten. Heute wissen wir, dass er nicht so bedeutend war, nicht so groß in den Ereignissen jener Zeit, wie das Manuskript uns glauben machen möchte.
Wir wissen, dass Ernst Everhard ein ungewöhnlich befähigter Mensch war, aber nicht so außergewöhnlich, wie seine Frau glaubte. Alles in allem war er nur einer in der großen Zahl von Helden, die, über die ganze Welt verstreut, ihr Leben der Revolution weihten, wenn auch zugegeben werden muss, dass er Ungewöhnliches, namentlich in seinem Werk über die Philosophie der Arbeiterklasse, leistete. Er bezeichnete sie als »Proletarische Wissenschaft« oder »Proletarier-Philosophie«, ein Beweis für die Enge seines Geistes — ein Mangel, der jedoch der Zeit zuzuschreiben ist und dem sich niemand in jenen Tagen zu entziehen vermochte. Doch zurück zu dem Manuskript. Ganz besonders wertvoll darin ist, dass es das Gefühl jener schrecklichen Zeiten übermittelt. Nirgends finden wir lebendiger die Psychologie der Personen dargestellt, die in dieser wilden Periode, in den Jahren 1912 bis 1932 lebten — ihre Irrtümer und ihre Unwissenheit, ihre Zweifel, Befürchtungen und Missverständnisse, ihren Wahn, ihre heftigen Leidenschaften, ihre unbeschreibliche Gewinn- und Selbstsucht. Diese Dinge sind für unser erleuchtetes Jahrhundert so schwer begreiflich. Die Geschichte berichtet jedoch, dass sie existierten, und Biologie und Psychologie erwecken sie nicht wieder zum Leben. Wir nehmen sie als Tatsache hin, ohne jedoch Mitgefühl und Verständnis für sie aufbringen zu können.
Dieses Mitgefühl empfinden wir jedoch, wenn wir das Everhard-Manuskript aufmerksam lesen. Wir identifizieren uns mit den Darstellern in diesem längst vergangenen Weltdrama, und für die Dauer unseres Lesens ist ihr Denken das unsere. Wir verstehen nicht allein Avis Everhards Liebe für ihren Heldengatten, wir fühlen, wie er in jenen ersten Tagen, das undeutliche und schreckliche Auftauchen der Oligarchie. Wir fühlen, wie die (so treffend genannte) Eiserne Ferse heraufstieg und die Menschheit zerstampfte.
Und nebenbei finden wir, dass dieser historisch gewordene Ausdruck, die Eiserne Ferse, Ernst Everhard zum Urheber hat. Dies ist die eine strittige Frage, die durch das kürzlich aufgefundene Dokument geklärt wird. Vorher ist der Ausdruck, soweit bekannt, nur in dem im Dezember 1912 von George Milford veröffentlichten Pamphlet »Ihr Sklaven« angewandt. Dieser George Milford war ein unbedeutender Agitator, von dem nichts bekannt ist außer dem wenigen, das man aus dem Everhard-Manuskript erfährt, wonach er in der Chicagoer Kommune erschossen wurde. Offenbar hatte er den Ausdruck Ernst Everhards in irgendeiner öffentlichen Rede anwenden hören, höchstwahrscheinlich bei dem Wahlkampf für den Kongress im Herbst 1912. Aus dem Manuskript erfahren wir, dass Ernst Everhard den Ausdruck in einer Privatgesellschaft im Frühling 1912 gebrauchte. Es ist dies zweifellos die erste bekannte Gelegenheit, bei der die Oligarchie so bezeichnet wurde.
Die Erhebung der Oligarchie wird stets der Anlass geheimer Verwunderung für Historiker und Philosophen bleiben. Andere große historische Ereignisse haben ihren Platz in der sozialen Entwicklung. Sie waren unvermeidlich, und ihr Kommen hätte mit derselben Sicherheit vorausgesagt werden können, wie Astronomen heute die Bewegung der Sterne voraussagen. Ohne diese anderen großen historischen Ereignisse hätte die soziale Entwicklung sich auch nicht vollziehen können. Primitiver Kommunismus, Besitzsklaverei, Leibeigenschaft und Lohnsklaverei waren die notwendigen Meilensteine auf dem Wege der menschlichen Entwicklung. Es wäre jedoch lächerlich, zu behaupten, dass die Eiserne Ferse ein solcher notwendiger Meilenstein gewesen sei. Heute wird sie vielmehr als ein Fehltritt oder Rückschritt zu der gesellschaftlichen Tyrannei beurteilt, die die Erde früher zur Hölle machte, die aber für ihre Zeit ebenso notwendig, wie die Eiserne Ferse unnötig war.
So schwarz der Feudalismus auch war, sein Kommen war doch unvermeidlich. Was sonst als Feudalismus konnte dem Zusammenbruch der großen zentralisierten Regierungsmaschine folgen, die man als Römisches Kaiserreich kennt? Nicht so jedoch die Eiserne Ferse. In dem ordnungsgemäßen Vorwärtsschreiten der sozialen Entwicklung war kein Platz für sie. Sie war weder notwendig noch unvermeidlich. Sie wird immer die große Merkwürdigkeit der Geschichte bleiben, eine Laune, eine Phantasie, eine Erscheinung, etwas Unerwartetes, Ungeahntes; und sie sollte den übereiligen politischen Theoretikern von heute, die mit Gewissheit von sozialen Prozessen sprechen, zur Warnung dienen.
Nach dem Urteil der Soziologen jeder Zeit bedeutete der Kapitalismus den Höhepunkt der bürgerlichen Herrschaft, die reife Frucht der bürgerlichen Revolution. Und wir können heute dieses Urteil nur unterschreiben. Selbst geistige Riesen und Kämpfer wie Herbert Spencer glaubten dass auf den Kapitalismus der Sozialismus folgen würde Man glaubte, dass auf dem Schutt des selbstsüchtigen Kapitalismus die Blume des Zeitalters, die Brüderlichkeit der Menschheit, erblühen würde. Statt dessen gebar der Kapitalismus, zum Entsetzen für uns, die wir heute auf jene Zeit zurückblicken, wie für die, die damals lebten, in seiner Überreife einen ungeheuren Spross, die Oligarchie.
Zu spät erriet die sozialistische Bewegung zu Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts das Kommen der Oligarchie.
Als man sie kaum ahnte, war sie schon da. Eine zutiefst begründete Tatsache, eine staunenerregende furchtbare Wirklichkeit. Wie das Everhard-Manuskript zeigt, glaubte man selbst damals nicht an eine Dauer der Eisernen Ferse, Das Urteil der Revolutionäre war, dass ihre Niederringung eine Sache weniger kurzer Jahre sein würde. Es ist wahr, man vergegenwärtigte sich, dass die Bauernrevolte unvorbereitet, die erste Revolution vorzeitig erfolgt war; aber man vergegenwärtigte sich kaum, dass die zweite, wohlvorbereitete Revolution zu derselben Zwecklosigkeit und zu noch schrecklicherer Strafe verurteilt war.
Offenbar beendete Avis Everhard ihr Manuskript in den letzten Tagen der Vorbereitung für die zweite Revolution. Daher die Tatsache, dass sie deren unglückseliges Ergebnis mit keinem Worte erwähnt. Es ist klar, dass sie das Manuskript zur sofortigen Veröffentlichung nach Vernichtung der Eisernen Ferse bestimmt hatte, damit alles, was ihr soeben verstorbener Gatte gewagt und vollbracht hatte, anerkannt wurde. Dann aber erfolgte die furchtbare Zerschmetterung der zweiten Revolution, und wahrscheinlich hat sie in einem Augenblick der Gefahr, ehe sie floh oder durch die Söldner gefangen genommen wurde, das Manuskript in der hohlen Eiche zu Wake Robin Lodge versteckt. Über Avis Everhard gibt es keine weiteren Nachrichten. Zweifellos ist sie von den Söldnern hingerichtet worden; bekanntlich wurden keine Berichte über derartige Hinrichtungen seitens der Eisernen Ferse aufbewahrt. Aber selbst damals, als sie das Manuskript versteckte und sich zur Flucht vorbereitete, hat sie sich kaum vergegenwärtigt, wie schrecklich der Zusammenbruch der zweiten Revolution sein würde. Sie hat sich kaum gedacht, dass die qualvolle, irregehende Entwicklung der nächsten drei Jahrhunderte eine dritte und vierte und viele weitere Revolutionen nötig machen sollte, die alle in Seen von Blut erstickt wurden, ehe die Weltrevolution der Arbeiter zu ihrem Rechte kommen konnte. Und wenig ließ sie sich träumen, dass das Zeugnis ihrer Liebe zu Ernst Everhard sieben Jahrhunderte lang ungestört im Herzen einer alten Eiche zu Wake Robin Lodge ruhen sollte.
Ardis, 27. November 419 B. d. M. Anthony Meredith
Der sanfte Sommerwind rauscht in den Riesentannen, und das Wildwasser plätschert liebliche Kadenzen über sein moosiges Gestein. Schmetterlinge spielen im Sonnenschein, und überall erhebt sich das einschläfernde Summen der Bienen. Es ist so still und friedlich, und ich sitze hier, sinne und bin ruhelos. Die Stille ist es, die mich ruhelos macht. Sie scheint unwirklich zu sein. Die ganze Welt ist ruhig, aber es ist die Ruhe vor dem Sturm. Ich strenge meine Ohren, all meine Sinne an, um etwas von dem drohenden Sturme zu spüren. Ach, dass er nur nicht zu früh losbricht! Dass er nur nicht zu früh losbricht(1)!
Ist es ein Wunder, dass ich ruhelos bin? Ich denke und denke und kann nicht aufhören zu denken. So lange bin ich im Schwärm des Lebens gewesen, dass ich mich jetzt bedrückt fühle von der Ruhe und dem Frieden rings, und ich kann mich des Gedankens nicht erwehren, dass der tolle Wirbel von Tod und Vernichtung plötzlich losbrechen muss. In meinen Ohren tönt das Geschrei der Getroffenen, und wie ich es früher sah(2), so sehe ich auch jetzt, wie all die frische, schöne Jugend zerfleischt und zerstückelt wird, und wie die Seelen gewaltsam aus den stolzen Leibern gerissen und zu Gott emporgeschleudert werden. So erreichen wir armen Sterblichen unser Ziel, indem wir durch Blut und Vernichtung der Welt dauernden Frieden zu bringen suchen. Und ich bin so einsam. Wenn ich nicht an das denke was kommen muss, so denke ich an das, was war und nicht mehr ist — an meinen Adler, den seine unermüdlichen Schwingen durch den Raum trugen, hinauf zu dem, was stets seine Sonne war, dem flammenden Ideal der menschlichen Freiheit. Ich kann nicht müßig dasitzen und auf das große Ereignis warten, das sein Werk ist, wenn er es auch nicht mehr sehen soll. Ihm weihte er all seine Mannesjahre und gab sein Leben dafür. Es ist sein Werk. Er hat es geschaffen(3).
Und so will ich denn in dieser bangen Zeit des Harrend von meinem Gatten schreiben. Viel Licht kann ich allein von allen Lebenden auf seinen Charakter werfen, und ein so edler Charakter kann gar nicht leuchtend genug geschildert werden. Er war eine große Seele, und wenn meine Liebe auch zu immer größerer Selbstlosigkeit wächst, so ist es doch mein größter Schmerz, dass er die kommende Zeit nicht mehr erleben soll. Es kann nicht fehlschlagen. Dazu hat er zu hartnäckig und zu sicher gebaut. Wehe der Eisernen Ferse! Bald wird sich die niedergetretene Menschheit unter ihr erheben. Wenn der Ruf dazu ergeht, werden die Arbeiterscharen der ganzen Welt aufstehen. Nie hat die Weltgeschichte dergleichen gesehen. Die Arbeiter stehen zusammen, und in der ersten Stunde wird eine Revolution ausbrechen, die die ganze Welt umspannt(4).
Ihr seht, ich bin erfüllt von dem, was da kommen soll. Tag und Nacht habe ich es immer und immer wieder so durchlebt, dass es mir stets vor Augen steht. Und so oft ich n meinen Gatten denke, muss ich auch daran denken. Er war die Seele von alledem, und wie könnte ich ihn in Gedanken davon trennen?
Wie ich schon sagte, bin ich allein imstande, viel Licht auf seinen Charakter zu werfen. Man weiß, dass er für die Sache der Freiheit hart arbeitete und schwer litt. Wie hart er arbeitete, und wie schwer er litt, weiß ich selbst am besten, denn diese zwanzig aufreibenden Jahre war ich bei ihm, und ich kenne seine Geduld, sein unermüdliches Streben, seine grenzenlose Hingabe für die Sache, für die er nun, vor kaum zwei Monaten, sein Leben gegeben hat.
Ich will versuchen, schlicht zu erzählen, wie Ernst Everhard in mein Leben trat — wie ich ihm zuerst begegnete, wie er groß wurde, bis ich ein Teil von ihm ward, und welch ungeheure Veränderungen er in mein Leben brachte. So mögt ihr ihn durch meine Augen sehen und ihn kennen lernen, wie ich ihn kennen lernte — in allem, außer in dem, das zu heilig und zu süß ist, als dass ich es erzählen könnte.
Es war im Februar 1912, dass ich ihm zum ersten Male begegnete, und zwar als Gast im Hause meines Vaters(5) in Berkeley. Ich kann nicht sagen, dass der erste Eindruck, den er auf mich machte, besonders günstig war. Bei Tisch war er einer von vielen, und im Salon, wo wir die Gäste empfingen, wirkte er etwas seltsam. Es war »Pastorentag«, wie mein Vater unter vier Augen sagte, und unter diesen Männern der Kirche war Ernst sicher nicht recht am Platze. Erstens saß sein Anzug nicht. Es war ein fertig gekauften aus dunklern Stoff, der sich seinem Körper schlecht anschmiegte. Fertig gekaufte Anzüge passten ihm überhaupt nie. Wie immer beutelte sich auch an diesem Abend der Stoff über seinen Muskeln, während der Rock zwischen den überbreiten Schultern ein Labyrinth von Falten zeigte. Sein Hals war der eines Preiskämpfers(6), dick und stark. So also sieht der Sozialphilosoph und frühere Hufschmied aus, den mein Vater entdeckt hat, dachte ich. Und wahrlich: Man sah ihm seine Vergangenheit an den schwellenden Muskeln und dem Stiernacken an. Sofort war ich mir klar über ihn — eine Sehenswürdigkeit, dachte ich, ein Blinder Tom(7) der arbeitenden Klasse.
Und als er mir dann die Hand schüttelte! Sein Händedruck war stark und fest, seine schwarzen Augen aber sahen mich kühn an — fast zu kühn, wie mir schien. Ihr seht, ich war ein Produkt meiner Umgebung und besaß damals ein ausgeprägtes Klassenbewusstsein. Bei einem Manne meiner eigenen Klasse wäre eine solche Kühnheit fast unverzeihlich gewesen. Ich weiß noch, wie ich unwillkürlich die Augen senken musste; ich fühlte mich ganz erleichtert, als ich ihn stehen lassen konnte, um Bischof Morehouse zu begrüßen
— einen meiner Lieblinge, ein Mann von mildem Ernst in reiferen Jahren, eine gütige Christuserscheinung und dabei ein tüchtiger Gelehrter.
Aber diese Kühnheit, die mir als Anmaßung erschien, war ein Grundzug in Ernst Everhards Wesen. Er war einfach und geradezu, fürchtete sich vor nichts und verschmähte es, Zeit auf konventionelles Getue zu verschwenden. »Du gefielst mir,« erklärte er mir viel später einmal; »und warum sollten sich meine Augen nicht sattsehen an dem, was mir gefiel?« Ich sagte, dass er sich vor nichts fürchtete. Er war der geborene Aristokrat — und das trotz der Tatsache, dass er im Lager der Nichtaristokraten stand. Er war ein Übermensch, eine blonde Bestie, wie Nietzsche(8) sie beschrieben hat, und zu alledem ein glühender Demokrat.
Die Begrüßung der übrigen Gäste nahm mich in Anspruch, und dazu kam der ungünstige Eindruck, den der Arbeiterphilosoph auf mich gemacht hatte, so dass ich ihn ganz vergessen haben würde, hätte er nicht ein- oder zweimal meine Aufmerksamkeit auf sich gelenkt, und zwar durch ein Aufblitzen seiner Augen, während er den Worten eines der Geistlichen lauschte. Er hat Humor, dachte ich und verzieh ihm fast seine Kleidung. Aber das Essen ging seinem Ende zu, ohne dass er den Mund zum Sprechen geöffnet hätte, während die Geistlichen ununterbrochen von der arbeitenden Klasse und ihren Beziehungen zur Kirche, sowie von dem redeten, was die Kirche für sie getan hatte und noch tat. Ich merkte, dass mein Vater sich ärgerte, weil Ernst nichts sagte. Einmal nahm er eine Pause wahr, um ihn zu bitten, etwas zu sagen; Ernst aber zuckte mit einem »Ich habe nichts zu sagen« die Achseln und fuhr fort, Salzmandeln zu essen.
Vater ließ sich jedoch nicht abweisen. Nach einer Weile sagte er:
»Wir haben ein Mitglied der arbeitenden Klasse unter uns. Ich bin sicher, dass er manches von einem neuen, interessanten und erfrischenden Standpunkt aus beleuchtet! könnte. Was meinen Sie, Herr Everhard?«
Die ändern bezeigten geziemendes Interesse und baten Ernst um eine Darlegung seiner Ansichten. Ihr Benehmen gegen ihn war so duldsam und liebenswürdig, dass es schon beinahe herablassend wirkte. Und ich sah, dass Ernst es bemerkte und belustigt war. Er blickte sich langsam um, und ich sah das Lachen in seinen Augen.
»Ich bin nicht in der Höflichkeit geistlicher Unterhaltung bewandert«, begann er, stockte dann aber bescheiden und unschlüssig.
»Nur zu«, drängten die ändern, und Dr. Hammerfield sagte: »Wir stoßen uns nicht an der Aufrichtigkeit eines Menschen, wenn sie nur ehrlich ist.«
»Sie machen also einen Unterschied zwischen Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit?« Ernst lächelte flüchtig bei diesen Worten.
Dr. Hammerfield schnappte nach Luft; dann erwiderte er: »Die besten unter uns können irren, junger Mann, die besten unter uns.«
Ernst änderte sein Benehmen augenblicklich. Er wurde ein anderer.
»Also schön«, sagte er, »dann lassen Sie mich Ihnen gleich von vornherein sagen, dass Sie alle irren. Von der arbeitenden Klasse wissen Sie nichts, weniger als nichts. Ihre Soziologie ist ebenso falsch und wertlos wie ihre ganze Denkart.«
Es war nicht so sehr, was er sagte, wie die Art, wie er es sagte.
Beim ersten Klang seiner Stimme war ich aufgerüttelt.
Diese Stimme war ebenso kühn wie seine Augen. Sie durchdrang mich wie eine Fanfare. Und die ganze Tafelrunde war aufgerüttelt und aus ihrer Eintönigkeit und Schläfrigkeit geweckt.
»Was ist denn so Falsches und Wertloses an unserer Denkart, junger Mann?« fragte Dr. Hammerfield, und schon war eine gewisse Unliebenswürdigkeit in seiner Stimme und Sprechweise zu spüren.
»Sie sind Metaphysiker. Durch Metaphysik können Sie alles beweisen; und demzufolge kann jeder Metaphysiker jedem ändern Metaphysiker — zu seiner eigenen Genugtuung — beweisen, dass er irrt. Sie sind Anarchisten im Reiche des Gedankens. Und schlechte Weltordner sind Sie dazu! Jeder von Ihnen lebt in seiner selbst geschaffenen Welt, die seiner Phantasie und seinen eigenen Wünschen entsprungen ist. Die wirkliche Welt, in der Sie leben, kennen Sie nicht, und in der wirklichen Welt hat Ihr Denken nur insofern Platz, als diese Welt eine durch Geistesverwirrung hervorgerufene Erscheinung ist.
Wissen Sie, woran ich denken musste, als ich bei Tisch Ihren Gesprächen lauschte? Sie erinnerten mich ganz an die Welt der Scholastiker im Mittelalter, die feierlich und unter Aufgebot ungeheurer Gelehrsamkeit die fesselnde Frage behandelten, wie viele Engel auf einer Nadelspitze tanzen könnten. Ja, meine verehrten Herren, dem geistigen Leben des zwanzigsten Jahrhunderts stehen Sie ebenso fern wie ein indianischer Medizinmann, der vor zehntausend Jahren im Urwald seine Beschwörungen vornahm.«
Eine schöne Leidenschaft schien Ernst beim Sprechen zu erfüllen; sein Antlitz glühte, seine Augen leuchteten und sprühten, und Kinn und Kiefer zeigten eine angriffslustige Beredtheit. Aber es war dies nur seine Art. Sie war es, die stets die Menschen aufrüttelte. Seine Art, anzugreifen, wie ein Hammer niederzuschmettern, ließ sie alles um sich vergessen. Und so geschah es auch jetzt. Bischof Morehouse beugte sich vor und lauschte gespannt. Zorn und Ärger röteten das Gesicht Dr. Hammerfields. Einige von den ändern waren auch aufgebracht, während wieder andere belustigt und überlegen lächelten. Ich selbst fand es außerordentlich drollig. Ich warf einen Blick auf meinen Vater und bekam Angst, dass er im nächsten Augenblick losplatzen würde über den Erfolg der Bombe, die er selbst geschleudert hatte.
»Ihre Worte sind recht unklar«, unterbrach Dr. Hammerfield das Schweigen. »Präzisieren Sie bitte, das Sie damit meinen, wenn Sie uns Metaphysiker nennen.«
»Ich nenne Sie Metaphysiker, weil Sie metaphysisch denken«, fuhr Ernst fort. »Sie denken alles andere eher als! wissenschaftlich. Ihre Folgerungen haben keine Gültigkeit. Sie können alles und nichts beweisen, ohne dass auch nur zwei von Ihnen einig wären. Jeder von Ihnen sucht sich und das All nach seiner eigenen Überzeugung zu erklären. Ebenso gut können Sie sich an Ihren eigenen Stiefelstrippen hochheben, wie eine Überzeugung durch die andere erklären.«
»Ich verstehe Sie nicht«, sagte Bischof Morehouse. »Mir scheint doch, dass alles Geistige metaphysisch ist. Die exakteste und überzeugendste aller Wissenschaften, die Mathematik, ist durch und durch metaphysisch. Jeder Denkprozess eines Wissenschaftlers ist es. Geben Sie mir da nicht recht?«
»Ja, insofern Sie sagen, dass Sie mich nicht verstanden haben«, erwiderte Ernst. »Der Metaphysiker urteilt deduktiv aus seiner eigenen Subjektivität heraus. Der Wissenschaftler urteilt induktiv aus der Erfahrung heraus. Der Metaphysiker schließt von der Theorie auf die Tatsachen, der Wissenschaftler von den Tatsachen auf die Theorie. Der Metaphysiker erklärt das Universum aus sich, der Wissenschaftler sich aus dem Universum.«
»Gott sei Dank, dass wir keine Wissenschaftler sind«, murmelte Dr. Hammerfield selbstgefällig.
»Was sind Sie denn?« fragte Ernst.
»Philosophen.«
»Ach so!« Ernst lachte. »Sie haben den festen Boden verlassen und sich mit einer Nachricht für ein Flugzeug in die Luft begeben. Bitte, kommen Sie wieder zur Erde herab und sagen Sie mir kurz und bündig, was Sie unter Philosophie verstehen.«
»Philosophie ist —«, Dr. Hammerfield machte eine Pause und räusperte sich, »etwas, das nur denen verständlich gemacht werden kann, die selbst nach Geist und Temperament Philosophen sind. Der begrenzte Wissenschaftler, der seine Nase in ein Reagenzglas steckt, versteht von Philosophie nichts.«
Ernst überging den Stich. Es war stets seine Art, die Spitze gegen den Gegner zu kehren, und er tat es auch jetzt, wobei seine Miene seine Worte ausdrucksvoll unterstrich.
»Dann werden Sie aber zweifellos die Erklärung verstehen, die ich Ihnen jetzt von der Philosophie geben werde. Zuvor aber ersuche ich Sie, etwaige Irrtümer darin festzustellen oder schweigender Metaphysiker zu bleiben. Die Philosophie ist unbedingt die umfassendste aller Wissenschaften. Ihre Denkmethode ist dieselbe wie die irgendeiner Sonderwissenschaft, und wie die aller Sonderwissenschaften. Und durch eben diese Methode, die induktive, sammelt die Philosophie alle Sonderwissenschaften zu einer einzigen großen Wissenschaft. Wie Spencer sagt, sind die Grundzüge jeder Sonderwissenschaft teilweise gleichartige Erkenntnisse. Die Philosophie vereinigt das Wissen, das von allen ändern Wissenschaften zusammengetragen ist. Die Philosophie ist die Wissenschaft der Wissenschaften, die Meisterwissenschaft, wenn Sie wollen. Wie gefällt Ihnen meine Erklärung?«
»Nicht schlecht, nicht schlecht«, murmelte Dr. Hammerfield zögernd.
Aber Ernst war unerbittlich.
»Vergessen Sie nicht«, warnte er ihn, »dass meine Erklärung für die Metaphysik verhängnisvoll ist. Wenn Sie jetzt keine Lücke in meiner Erklärung finden, sind Sie später nicht berechtigt, metaphysische Argumente vorzubringen. Sie müssen Ihr ganzes Leben nach dieser Lücke suchen und metaphysisch schweigen, bis Sie sie gefunden haben.«
Ernst hielt inne. Das Schweigen war peinlich. Dr. Hammerfield war verlegen und zugleich verblüfft. Der scharfe Angriff hatte ihn aus der Fassung gebracht. Diese einfache und direkte Kampfmethode war er nicht gewöhnt. Er sah sich flehend am Tische um, aber niemand sprang für ihn in die Bresche. Ich ertappte meinen Vater, wie er lachend in seine Serviette biss.
»Es gibt noch eine Art, die Metaphysiker zu widerlegen«, sagte Ernst, als die Niederlage Dr. Hammerfields besiegelt war. »Beurteilen Sie sie nach ihren Werken. Was haben sie für die Menschheit getan, außer dass sie lästige Phantasiegebilde ersannen und ihre eigenen Schatten für Götter hielten . Sie haben zur Erheiterung der Menschheit beigetragen, das gebe ich zu; aber was haben Sie Greifbares für die Menschheit getan? Sie philosophierten, wenn Sie mir den Missbrauch des Wortes verzeihen wollen, über das Herz als den Sitz der Regungen, während die Wissenschaftler den Kreislauf des Blutes feststellten. Sie redeten von Pest und Hungersnot als Geißeln Gottes, während die Wissenschaftler Kornspeicher bauten und Städte kanalisierten. Sie schufen Götter nach ihrem eigenen Bilde und ihren eigenen Wünschen, während die Wissenschaftler Straßen und Brücken bauten.
Sie erklärten unsre Erde für den Mittelpunkt des Alls, während die Wissenschaftler Amerika entdeckten und den Himmelsraum nach den Sternen und ihren Gesetzen durchforschten. Kurz, die Metaphysiker haben nichts, absolut nichts für die Menschheit getan. Fuß um Fuß sind sie vor dem Fortschritt der Wissenschaft zurückgewichen. Ebenso schnell, wie die festgestellten wissenschaftlichen Tatsachen ihre subjektiven Erklärungen über den Haufen warfen, ebenso schnell stellten sie wieder neue subjektive Erklärungen auf, die die letzten wissenschaftlichen Tatsachen einbezogen. Und das werden sie zweifellos bis ans Ende der Dinge tun. Meine Herren, ein Metaphysiker ist ein Medizinmann. Der Unterschied zwischen ihm und dem Eskimo, der sich einen pelzbekleideten, walspeckfressenden Gott macht, besteht nur in einigen tausend Jahren festgestellter Tatsachen. Das ist alles.«
»Und doch haben die Gedanken des Aristoteles Europa zwölfhundert Jahre lang beherrscht«, verkündete Dr. Ballingford feierlich. »Und Aristoteles war Metaphysiker.«
Dr. Ballingford blickte sich um und erntete beifälliges Nicken und Lächeln.
»Ihr Beispiel ist sehr unglücklich gewählt«, erwiderte Ernst. »Sie beziehen sich auf eine sehr dunkle Periode der menschlichen Geschichte. Diese Periode nennen wir in der Tat das dunkle Mittelalter. Es war eine Periode in der die Wissenschaft von den Metaphysikern vergewaltigt wurde, in der die Physik den Stein der Weisen suchte, die Chemie zur Alchimie und die Astronomie zur Astrologie wurde. Die Herrschaft der Gedanken des Aristoteles ist ein trauriges Kapitel.«
Doktor Ballingford sah verstimmt aus, dann aber erheiterte sich seine Miene, und er sagte:
»Wenn ich auch zugebe, dass das schreckliche Bild, das Sie gezeichnet haben, der Wirklichkeit entspricht, so müssen Sie doch gestehen, dass die Metaphysik insofern Gutes bewirkt hat, als sie die Menschen aus diesem dunklen Zeitalter heraus und in die Erleuchtung der glücklichen Jahrhunderte getrieben hatte.«
»Damit hatte die Metaphysik nichts zu tun«, entgegnete Ernst.
»Wie?« rief Dr. Hammerfield. »War es nicht ihr Denken und Grübeln, das zu den Entdeckungsreisen führte?«
»Ach, mein Lieber«, Ernst lächelte. »Ich dachte, Sie wären erledigt, denn bis jetzt haben Sie die Lücke in meiner Erklärung der Philosophie nicht gefunden. Sie stehen nicht auf dem Boden der Wirklichkeit. Aber das ist die Art der Metaphysiker, und ich verzeihe Ihnen. Nein, ich wiederhole: Die Metaphysik hat nichts damit zu tun. Brot und Butter, Seide und Juwelen, Dollars und Cents und, nebenbei, die Unterbindung des Verkehrs auf dem Landwege nach Indien, das waren die Ursachen der Entdeckungsreisen. Mit dem Fall Konstantinopels im Jahre 1453 blockierten die Türken den Karawanenweg nach Indien. Die Kaufleute Europas mussten einen ändern Weg finden. Das war der eigentliche Anlass zu den Entdeckungsreisen. Kolumbus schiffte sich ein, um einen neuen Weg nach Indien zu suchen. Das steht in jedem Geschichtsbuch. Zufällig erfuhr man dabei manches Neue über die Natur, die Form und Größe der Erde, und das ptolemäische System begann seinen Glanz zu verlieren.«
Doktor Hammerfield schnaufte.
»Sie pflichten mir nicht bei?« fragte Ernst. »Worin habe ich denn unrecht?«
»Ich kann meine Behauptung nur aufrechterhalten«, erwiderte Doktor Hammerfield mürrisch. »Es würde jetzt zu viel Zeit in Anspruch nehmen, wollte man sich in die Sache vertiefen.«
»Für den Wissenschaftler dauert nichts zu lange«, sagte Ernst liebenswürdig. »Daher erreicht der Wissenschaftler eben sein Ziel. Daher kam er nach Amerika.«
Ich will nicht den ganzen Abend schildern, obgleich es mir eine Freude ist, mir jeden Augenblick, jede Einzelheit dieser ersten Stunde meiner Bekanntschaft mit Ernst Everhard ins Gedächtnis zurückzurufen.
Ein prachtvoller Kampf entspann sich, die Geistlichen bekamen rote Köpfe und regten sich auf, namentlich, als Ernst sie romantische Philosophen, Schattenspieler und dergleichen mehr nannte. Und immer wieder wartete er ihnen mit Tatsachen auf.
»Tatsachen, Verehrtester, unwiderlegbare Tatsachen!« rief er triumphierend, sobald er einen von ihnen zu Fall gebracht hatte. Er strotzte von Tatsachen. Mit Tatsachen stellte er ihnen eine Falle, mit Tatsachen überfiel er sie, mit den Breitseiten von Tatsachen bombardierte er sie.
»Sie scheinen den Altar der Tatsachen anzubeten«, spöttelte Doktor Hammerfield.
»Es gibt keinen Gott außer der Tatsache, und Herr Everhard ist ihr Prophet«, zitierte Doktor Ballingford.
Ernst lächelte zustimmend.
»Ich bin wie der Mann aus Texas«, sagte er, und um eine Erklärung gebeten, fuhr er fort: »Ja, der Mann aus Missouri sagt immer: >Sie müssen es mir zeigen.< Der Mann aus Texas aber sagt: >Sie müssen es mir in die Hand legen.< Was beweist, dass er kein Metaphysiker ist.«
Als Ernst einmal geradezu sagte, dass die metaphysischen Philosophen nie den Wahrheitsbeweis erbringen könnten, fragte Dr. Hammerfield hastig: »Was ist der Wahrheitsbeweis, junger Mann? Wollen Sie uns freundlichst erklären, worüber klügere Leute als Sie sich so lange den Kopf zerbrochen haben?«
»Gern«, antwortete Ernst. Seine absolute Sicherheit irritierte die ändern. »Die klugen Leute haben sich den Kopf so über der Wahrheit zerbrochen, weil sie auf der Suche nach ihr ins Blaue gerieten. Wären sie auf dem festen Boden geblieben, so würden sie sie leicht gefunden haben — ja, sie hätten entdeckt, dass sie selbst mit allem praktischen Tun und Denken ihres Lebens eben den Wahrheitsbeweis erbrachte.
»Den Beweis, den Beweis«, wiederholte Dr. Hammerfield ungeduldig, »ohne Umschweife. Geben Sie uns, was wir so lange gesucht haben: den Wahrheitsbeweis. Geben Sie ihn uns, und wir werden Götter sein.«
Seine Worte und sein ganzes Benehmen zeigten einen unhöflichen, höhnischen Skeptizismus, an dem jedoch die meisten bei Tische heimliches Gefallen fanden. Nur Bischof Morehouse schien aufgebracht.
»Dr. Jordan(9) hat es ganz klar ausgesprochen«, sagte Ernst. »Sein Wahrheitsbericht ist: >Wird es wirken? Willst du dein Leben daran wagen?<«
»Pah!« höhnte Dr. Hammerfield. »Sie haben nicht mit Bischof Berkeley(10) gerechnet. Er wurde nie widerlegt.«
»Der prächtigste Metaphysiker von allen«, Ernst lachte. »Aber Ihr Beispiel ist unglücklich gewählt. Berkeley bezeugt selbst, dass seine Metaphysik wirkungslos sei.«
Jetzt war Dr. Hammerfield zornig, rechtschaffen zornig. Es war, als hätte er Ernst bei einem Diebstahl oder einer Lüge ertappt.
»Junger Mann«, stieß er hervor, »diese Behauptung ist allen ändern Äußerungen, die Sie heute abend getan haben, ebenbürtig. Sie ist eine niedrige, unverantwortliche Anmaßung.«
»Ich bin ganz zerschmettert«, murmelte Ernst demütig Nur weiß ich noch nicht, wodurch. Sie müssen es mir in die Hand legen, Herr Doktor.«
»Das will ich, das will ich«, sprudelte Doktor Hammerfield heraus. »Woher wissen Sie das? Woher wissen Sie, dass Bischof Berkeley bezeugte, seine Metaphysik sei wirkungslos. Sie haben keinen Beweis dafür, junger Mann, sie war immer wirksam.«
»Ich halte es für einen Beweis für die Unwirksamkeit von Berkeleys Metaphysik, dass« — Ernst hielt einen Augenblick inne — , »dass Berkeley die unabänderliche Gewohnheit hatte, durch Türen statt durch Mauern zu gehen. Dass er sein Wohl Brot und Butter und gebratenem Fleisch anvertraute. Dass er sich mit einem Messer rasierte, welches wirkte, indem es die Haare aus seinem Gesicht entfernte.«
»Aber das sind wirkliche Dinge«, rief Doktor Hammerfield. »Metaphysik ist etwas Geistiges.«
»Und sie wirkt — geistig?« fragte Ernst ruhig.
Der andere nickte.
»Dann können also unzählige Engel auf einer Nadelspitze tanzen — geistig«, fuhr Ernst sinnend fort. »Und ein pelzgekleideter, speckfressender Gott kann existieren und wirken — geistig; und es gibt keine Gegenbeweise — geistig. Ich nehme an, Herr Doktor, dass Sie geistig leben?«
»Mein Geist ist mein Königreich«, lautete die Antwort.
»Mit ändern Worten, Sie leben im Blauen. Aber ich bin überzeugt, dass Sie zur Erde herabkommen, wenn Essenszeit ist, oder wenn ein Erdbeben stattfinden sollte. Oder, sagen Sie, Herr Doktor, fürchten Sie beim Erdbeben nicht, dass Ihr unkörperlicher Leib von einem unkörperlichen Ziegelstein getroffen werden könnte?«
Im selben Augenblick fuhr Doktor Hammerfields Hand unbewusst nach dem Kopfe, wo er eine Narbe unter dem Haar hatte. Zufällig hatte Ernst ein passendes Bild gewählt.
Doktor Hammerfield wäre bei dem Großen Erdbeben(11) fast von einem herabstürzenden Schornstein erschlagen worden. Alles brach in schallendes Gelächter aus.
»Nun?« fragte Ernst, als sich die Heiterkeit gelegt hatte. »Ihre Gegenbeweise!«
Aber Doktor Hammerfield hatte für einen Augenblick genug bekommen, und der Kampf nahm eine andere Wendung. Punkt für Punkt forderte Ernst die Geistlichen heraus. Behaupteten sie, die arbeitende Klasse zu kennen, so sagte er ihnen gründlich die Wahrheit, bewies ihnen, dass sie die arbeitende Klasse gar nicht kannten, und forderte sie auf, ihn zu widerlegen. Er wartete ihnen mit Tatsachen auf, bremste ihre Ausflüge ins Blaue und holte sie mit seinen Tatsachen auf den festen Boden zurück.
Wie klar sehe ich die Szene vor mir! Noch jetzt kann ich ihn mit dem kriegerischen Ton in seiner Stimme hören, wie er seine Gegner mit seinen Tatsachen quälte, deren jede wie ein Peitschenhieb war, und er war unerbittlich. Er verlangte keinen Pardon und gab keinen(12). Nie vergesse ich den Hieb, den er ihnen zum Schluss versetzte.
»Sie haben mehrmals, teils offen, teils unbewusst, bewiesen, dass Sie die arbeitende Klasse gar nicht kennen. Aber daraus mache ich Ihnen keinen Vorwurf. Wie könnten Sie etwas von ihr wissen? Sie wohnen nicht mit ihr zusammen. Sie wohnen mit der kapitalistischen Klasse zusammen in ändern Gegenden. Und warum nicht? Die kapitalistische Klasse bezahlt Sie, ernährt Sie, gibt Ihnen die Kleidung, die Sie tragen. Und dafür predigen Sie eben die Metaphysik, die Ihren Brotherren angenehm ist. Und diese Metaphysik ist Ihnen wiederum angenehm, weil sie die hergebrachte Gesellschaftsform nicht bedroht.« Bei diesen Worten erhob sich lärmender Widerspruch. »Oh ich stelle Ihre Lauterkeit nicht in Frage«, fuhr Ernst fort »Sie sind ehrlich. Sie predigen, was Sie glauben. Darin liegt eben Ihre Kraft und Ihr Wert — für die kapitalistische Klasse. Sollten Sie aber Ihrem Glauben irgendeine Richtung geben, die bedrohlich für die bestehende Ordnung wäre, so würde man Ihre Predigten unangenehm empfinden und Sie Ihres Amtes entheben. Hin und wieder geschieht das ja auch wohl nicht wahr(13)?«
Diesmal erhob sich kein Widerspruch. Die Geistlichen saßen stumm ergeben da, und nur Dr. Hammerfield sagte:
»Wenn ihre Anschauungen unrichtig sind, werden sie ersucht, ihren Abschied zu nehmen.«
»Mit ändern Worten, wenn diese Anschauungen unbequem sind«, antwortete Ernst und fuhr dann fort: »Und darum sage ich Ihnen, machen Sie weiter, predigen Sie und verdienen Sie sich Ihr Geld damit, aber lassen Sie um Himmels willen die arbeitende Klasse in Frieden. Sie stehen im Lager des Feindes. Sie haben keine Gemeinschaft mit der arbeitenden Klasse. Ihre Hände sind weich von der Arbeit, die andere für Sie getan haben. Sie essen so viel, dass Sie schon Bäuche haben. (Hier fuhr Doktor Bailingford zusammen, und alle Augen richteten sich auf seinen mächtigen Bauch. Man sagte von ihm, dass er seit Jahren seine eigenen Füße nicht mehr gesehen hätte.) Sie haben keine anderen Lehren im Kopfe als die, welche die mächtigen Grundpfeiler der herrschenden Ordnung sind. Sie sind Söldner — ehrliche Söldner, gebe ich zu — genau wie die Leute der Schweizer Garde(14).
Bleiben Sie Ihrem Salz und Sold treu. Behüten Sie mit Ihren Predigten die Interessen ihrer Brotherren, aber steigen Sie nicht zur arbeitenden Klasse hinab und dienen ihr als falsche Führer. Als ehrliche Menschen können Sie nicht in zwei Lagern auf einmal stehen. Die arbeitende Klasse ist ohne Sie ausgekommen. Glauben Sie mir, sie wird es auch ferner. Und mehr noch, sie wird besser ohne Sie auskommen.«
(1) Die zweite Revolution war in der Hauptsache ein Werk Ernst Everhards, wenn er auch natürlich mit den europäischen Führern zusammenarbeitete. Die Festnahme und heimliche Hinrichtung Everhards war das große Ereignis des Jahres 1932. So gründlich aber hatte er die Revolution vorbereitet, dass es seinen Mitverschworenen möglich war, seine Pläne fast ohne Verwirrung oder Aufschub ins Werk zu setzen. Nach der Hinrichtung Everhards begab seine Frau sich nach Wake Robin Lodge, einem kleinen Landsitz in den Sonoma-Bergen in Kalifornien.
(2) Zweifellos spielt sie hier auf die Chicagoer Kommune an.
(3) Bei aller Hochachtung vor Avis Everhard, muss doch erwähnt werden, dass ihn Mann nur einer der vielen fähigen Männer war, die den Plan für die zweite Revolution ausarbeiteten. Und wenn wir heute durch die Jahrhunderte zurückblicken, so können wir kaum mit absoluter Gewissheit sagen, ob die zweite Revolution, wenn Everhard am Leben geblieben, weniger unglücklich ausgefallen wäre.
(4) Die zweite Revolution war wirklich international. Der Plan war ungeheuer — zu ungeheuer, als dass er im Geist eines einzelnen Menschen hätte entstehen können. Die Arbeiterschaft in allen Oligarchien der Welt war bereit, sich auf das Signal hin zu erheben. Deutschland, Italien, Frankreich und Australien waren Arbeiterländer — sozialistische Staaten. Sie waren bereit, die Revolution zu unterstützen. Sie taten es tapfer, und das war der Grund, dass, als die zweite Revolution ausbrach, auch sie von den vereinigten Oligarchien der Welt unterdrückt wurden, die die sozialistischen Regierungen dieser Länder durch oligarchische ersetzten.
(5) John Cunnigham, der Vater Avis Everhards, war Professor an der Staatsuniversität zu Berkeley in Kalifornien. Sein Fach war die Naturwissenschaft; als schöpferischer Forscher machte er sich einen Namen. Seine Hauptwerke waren seine Studien über die Elektronen und seine monumentale Arbeit über »Die Identität von Stoff und Kraft«, in der er, über alle Spitzfindigkeit erhaben, für alle Zeit festlegte, dass die letzten Einheiten von Materie und Energie eines sind. Diese Idee war zwar schon früher von Sir Oliver Lodge und ändern Forschern auf dem Gebiete der Radio-Aktivität ausgesprochen, aber nicht bewiesen worden.
(6) In jenen Tagen pflegten manche Menschen um Geld zu kämpfen. Sie fochten mit den Fäusten. Sobald der eine besinnungslos oder totgeschlagen war, erhielt der andere das ausgesetzte Geld.
(7) Diese dunkle Andeutung bezieht sich auf einen blinden Neger-Musiker, der in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts der christlichen Zeitrechnung die Welt im Sturm eroberte.
(8) Friedrich Nietzsche, der tolle Philosoph des neunzehnten Jahrhunderts der christlichen Zeitrechnung, der Lichtblitze der Wahrheit erfasste, aber im menschlichen Denken immer im Kreise ging, bis er sich schließlich in den Irrsinn hineindachte.
(9) Ein bekannter Pädagoge vom Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts der christlichen Zeitrechnung. Er war Rektor der Stanforder Universität, ein Wohltäter der Menschheit seiner Zeit.
(10) Idealistischer Monist, der lange die Philosophen seiner Zeit dadurch in Aufregung versetzte, dass er die Existenz der Materie leugnete, dessen einfache Argumente aber schließlich widerlegt wurden, als die neuen empirischen Tatsachen der Wissenschaft philosophisch verallgemeinert wurden.
(11) Das Große Erdbeben von 1906, das San Franzisko zerstörte.
(12) Dieses Bild ist den Gewohnheiten jener Zeit entnommen. Wenn in den wilden tierischen Kämpfen auf Tod und Leben ein Getroffener die Waffe senkte, war es dem Sieger überlassen, ihn zu erschlagen oder zu schonen.
(13) In jener Zeit wurden viele Geistliche aus der Kirche ausgeschlossen, weil sie unannehmbare Lehren predigten. Namentlich geschah das, wenn ihre Predigten einen sozialistischen Einschlag hatten.
(14) Die aus fremden Söldnern bestehende Leibgarde Ludwigs XVI., eines Königs von Frankreich, der von seinem Volke enthauptet wurde.
Als die Gäste gegangen waren, warf mein Vater sich auf einen Sessel und brach in ein schallendes Gelächter aus. Seit dem Tode meiner Mutter hatte ich ihn noch nie so lachen hören.
»Ich wette, Doktor Hammerfield ist noch nie in seinem Leben so aufgebracht gewesen«, meinte er dann. »>Die Höflichkeit geistlicher Unterhaltung!< Hast du es bemerkt, wie er sanft wie ein Lamm anfing — Everhard, meine ich —, und wie schnell er zum brüllenden Löwen wurde? Er hat einen glänzend geschulten Geist. Er hätte einen vorzüglichen Wissenschaftler abgegeben, wenn seine Energie in die Richtung gelenkt worden wäre.«
Ich brauche kaum zu sagen, dass Ernst Everhard mich ungeheuer interessierte. Es war nicht allein das, was er gesagt, und wie er es gesagt hatte, sondern der Mann an sich. Nie war ich einem solchen Manne begegnet. Ich glaube, es kam daher, dass ich trotz meiner vierundzwanzig Jahre noch nicht verheiratet war. Er gefiel mir, das gestand ich selber.
Und mein Gefallen an ihm beruhte auf Dingen, die jenseits von Intellekt und Argument lagen. Ungeachtet seiner schwellenden Muskeln und seines Preisboxer-Halses machte er auf mich den Eindruck eines geistreichen jungen Mannes. Ich hatte das Gefühl, dass unter der Maske eines intelligenten Eisenfressers ein zarter, empfindsamer Geist lebte. Woher dies Gefühl kam, weiß ich nicht, aber es muss wohl meine weibliche Intuition gewesen sein.
In dieser tönenden Stimme lag etwas, das mir zu Herzen ging. Sie klang mir noch in den Ohren, und ich fühlte, dass ich sie gern wiederhören und ebenso gern das Lachen in seinen Augen wieder sehen würde — dieses Lachen, das den leidenschaftlichen Ernst seines Antlitzes Lügen strafte.
Und eine ganze Reihe wirrer, unbestimmter Gefühle regten sich in mir. Schon damals liebte ich ihn, wenn ich auch überzeugt bin, dass, hätte ich ihn nie wieder gesehen, diese unklaren Gefühle vergangen wären und ich ihn mit Leichtigkeit vergessen hätte.
Aber ich sollte ihn wieder sehen. Das neu erwachte Interesse meines Vaters für Soziologie, die Gesellschaften, die er gab, waren die Ursache. Mein Vater war nicht Soziologe. Seine Ehe mit meiner Mutter war sehr glücklich gewesen, und in den Forschungen, die er in seiner eigentlichen Wissenschaft, der Physik, anstellte, hatte er ebenfalls Glück gehabt. Als aber meine Mutter starb, konnte seine Arbeit nicht die entstandene Leere ausfüllen. Zuerst befasste er sich ein wenig mit Philosophie, dann ließ er sich, als das Interesse wach wurde, in das Studium der Nationalökonomie und der Soziologie hineintreiben. Er hatte einen starken Gerechtigkeitssinn und fasste bald eine wahre Leidenschaft, geschehenes Unrecht wiedergutzumachen. Diese Zeichen neuerwachten Lebensmutes nahm ich dankbar wahr, wenn ich mir auch nicht träumen ließ, was dabei herauskommen sollte. Mit der Leidenschaft eines Jünglings stürzte er sich in diese neuen Studien, unbekümmert, wohin sie ihn führten.
Er war stets gewohnt gewesen, im Laboratorium zu arbeiten, und so wurde unser Esszimmer bald zu einem soziologischen Laboratorium. Hierher kamen zum Essen Männer aller Art und Klassen — Gelehrte, Politiker, Bankleute, Kaufleute, Professoren, Arbeiterführer, Sozialisten und Anarchisten. Er reizte sie zur Diskussion und analysierte ihre Gedanken über Leben und Gesellschaft.
Ernst hatte er kurz vor dem »Pastoren-Abend« kennen gelernt. Und als die Gäste gegangen waren, erfuhr ich, wie er seine Bekanntschaft gemacht hatte. Beim Passieren einer Straße war er eines Abends stehen geblieben, um einem Mann zuzuhören, der auf einer Seifenkiste stand und zu einer Schar von Arbeitern redete. Der Mann auf der Kiste war Ernst. Aber er war kein gewöhnlicher Seifenkistenredner. Er stand in hohem Ansehen bei der sozialistischen Parteileitung, war einer der Führer, und zwar der anerkannte Führer in der sozialistischen Philosophie. Aber er hatte eine klare bestimmte Art, Schwerverständliches in einfachen Worten auszudrücken, er war der geborene Erklärer und Lehrer und verschmähte die Seifenkiste nicht als ein Mittel, den Arbeitern seine Parteilehren darzulegen.
Mein Vater war stehen geblieben, um zuzuhören, hatte Interesse gefasst, ihn angeredet und ihn, nachdem die Bekanntschaft gemacht war, zum »Pastoren-Abend« eingeladen. Nach der Gesellschaft erzählte mir mein Vater das wenige, was er von ihm wusste. Er stammte aus der Arbeiterklasse, wenn er auch zu den Everhards gehörte, die schon vor mehr als zweihundert Jahren in Amerika ansässig gewesen waren(1). Im Alter von zehn Jahren musste er schon in der Mühle arbeiten, und später kam er in die Lehre und wurde Hufschmied. Er war Autodidakt, hatte sich selbst Deutsch und Französisch beigebracht, und fristete nun sein Leben durch das Übersetzen wissenschaftlicher und philosophischer Werke für einen schwer kämpfenden sozialistischen Verlag in Chikago. Seine Einnahmen wurden vermehrt durch das geringe Honorar, das seine eigenen volkswirtschaftlichen und philosophischen Schriften ihm eintrugen.
So viel erfuhr ich, ehe ich zu Bett ging, und lange lag ich wach und hörte im Geist noch den Klang seiner Stimme. Ich erschrak vor meinen eigenen Gedanken. Er war so anders als die Männer meiner Klasse, so fremdartig und so stark. Seine Überlegenheit entzückte und erschreckte mich zu-gleich, denn meine phantastischen Gedanken trieben ihr mutwilliges Spiel so weit, bis ich mich dabei ertappte, dass ich ihn mir als meinen Geliebten, als meinen Gatten vorstellte. Ich hatte stets gehört, dass die Stärke eines Mannes eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf Frauen ausübte; aber er war zu stark. »Nein! Nein!« rief ich. »Es ist unmöglich, unsinnig!« Und am Morgen erwachte ich mit der Sehnsucht, ihn wieder zu sehen. Ich wollte ihn sehen, wie er andere Männer mit dem kriegerischen Klang seiner Stimme in der Diskussion abtat; ihn sehen, in all seiner Sicherheit und Kraft, wie er sie aus ihrer Behaglichkeit herausriss und aus ihren ausgetretenen Gedankenbahnen rüttelte. Warum er seine Klopffechterei betrieb? Um seinen eigenen Ausdruck zu gebrauchen, weil es »zog«, Effekt machte. Und zudem war seine Klopffechterei ein prachtvolles Schauspiel. Sie erregte einen wie der Angriff zur Schlacht.
Mehrere Tage vergingen, in denen ich Ernsts Bücher las, die mein Vater mir lieh. Er schrieb, wie er sprach, knapp, klar und überzeugend. Eben diese klare Schlichtheit war es, die selbst dann überzeugte, wenn man noch zweifelte. Er hatte die Gabe, Klarheit um sich zu verbreiten. Er war der vollendete Erklärer. Und doch war ich trotz seines Stils in vielem nicht mit ihm einverstanden. Er legte zuviel Gewicht auf das, was er Klassenkampf nannte -- den Gegensatz zwischen Arbeit und Kapital, den Streit der Interessen. Vater erzählte mir mit großem Vergnügen das Urteil, das Doktor Hammerfield über Ernst gefällt hatte, und das in der Behauptung gipfelte, Ernst sei »ein frecher junger Laffe, den sein bisschen sehr unzureichendes Wissen aufgeblasen hätte«. Doktor Hammerfield wünschte auch nicht wieder mit ihm zusammenzutreffen.
Dagegen erklärte Bischof Morehouse, dass Ernst ihn interessiere, und dass er ihn gern wieder sehen wolle. »Ein starker junger Mann«, sagte er. »Und lebhaft, sehr lebhaft. Aber er ist zu sicher, zu sicher.«
Eines Nachmittags kam Ernst mit Vater. Der Bischof war bereits anwesend, und wir tranken Tee auf der Veranda. Dass Ernst so oft in Berkeley war, erklärte sich aus der Tatsache, dass er an der Universität Vorlesungen über Biologie hörte, und dass er ferner stark an seinem neuen Buche »Philosophie und Revolution(2)« arbeitete.
Die Veranda schien plötzlich zu eng geworden, als Ernst kam. Nicht, dass er außergewöhnlich groß gewesen wäre — er maß nur ein Meter fünfundsiebzig —, aber er schien eine Atmosphäre von Größe auszustrahlen. Als er mich begrüßte, verriet er eine leichte Verlegenheit, die befremdend wirkte und nicht im Einklang stand mit seinem kühnen Blick und seiner festen, sicheren Hand, die die meine im Augenblick der Begrüßung drückte. Und eben in diesem Augenblick waren seine Augen ruhig und sicher. Er betrachtete mich lange, und eine Frage schien in seinem Blick zu liegen.
»Ich habe gerade in Ihrer >Philosophie der arbeitenden Klasse< gelesen«, sagte ich und sah seine Augen zufrieden auf leuchten. »Sie haben doch natürlich das Publikum in Betracht gezogen an das das Buch sich richtet«, antwortete er. »Ja, und eben deshalb muss ich ein Wörtchen mit Ihnen reden«, sagte ich herausfordernd.
»Ich habe auch einen Strauß mit Ihnen auszufechten, Herr Everhard«, sagte Bischof Morehouse.
Ernst hob die Schultern und nahm eine Tasse Tee, die ich ihm reichte.
Der Bischof ließ mir mit einer Verbeugung den Vortritt. »Sie schüren den Klassenhass«, sagte ich. »Ich halte es für unrecht und sträflich, all die niedrigen und rohen Instinkte der arbeitenden Klasse wachzurufen. Klassenhass ist unsozial, und, wie mir scheint, antisozialistisch.«
»Falsch«, erwiderte er. »Weder im Wortlaut noch im Geist irgendeiner meiner Schriften ist Klassenhass.« »Oho!« rief ich vorwurfsvoll, nahm sein Buch und schlug es auf. Er nippte lächelnd an seinem Tee, während ich die Seiten überflog.
»Seite hundertzweiunddreißig«, las ich laut. >»Daher gibt es im jetzigen Stadium der sozialen Entwicklung als einziges Mittel den Klassenkampf zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern.<«
Ich blickte ihn triumphierend an.
»Keine Spur von Klassenhass«, gab er lachend zurück.
»Aber Sie sprechen doch von Klassenkampf«, sagte ich.
»Etwas ganz anderes als Klassenhass«, erwiderte er. »Und glauben Sie mir, wir schüren den Hass nicht. Wir sagen, dass der Klassenkampf eine Folge der sozialen Entwicklung ist. Wir sind nicht dafür verantwortlich. Wir schaffen den Klassenkampf nicht. Wir erklären ihn nur, wie Newton das Gesetz der Gravitation erklärt hat. Wir erklären lediglich das Wesen des Interessenkonflikts, der den Klassenkampf hervorruft.«
»Aber es sollte keinen Interessenkonflikt geben!« rief ich.
»Da bin ich völlig mit Ihnen einig«, antwortete er. »Das ist es ja, was wir Sozialisten erstreben — die Beendigung des Interessenkonflikts. Entschuldigen Sie bitte einen Augenblick; lassen Sie mich vorlesen.« Er nahm das Buch und blätterte darin. »Seite hundertsechsundzwanzig: >Die Periode der Klassenkämpfe, die mit der Zersetzung der ursprünglichen Gütergemeinschaft und der Entstehung des Privateigentums begann, wird mit dem Aufhören des Privateigentums im Sinne des Sozialismus endigen.<«
»Aber da stimme ich nicht mit Ihnen überein«, fiel der Bischof ein, dessen blasses, asketisches Gesicht durch schwaches Erröten seine Erregung verriet. »Ihre Voraussetzung ist falsch. Es gibt nichts Derartiges wie einen Interessenkonflikt zwischen Arbeit und Kapital — oder, vielmehr, es sollte ihn nicht geben.«
»Danke«, sagte Ernst mit Nachdruck. »Durch diese Behauptung haben Sie mir meine Voraussetzung wiedergegeben .«
»Aber warum muss es einen Konflikt geben?« fragte der Bischof eifrig.
Ernst zuckte die Achsel. »Weil wir einmal so geschaffen sind, denke ich.«
»Aber das sind wir ja gar nicht!« rief der andere.
»Sprechen Sie vom Idealmenschen?« fragte Ernst. »Von dem selbstlosen, gottähnlichen Idealmenschen, der so selten ist, dass er praktisch gar nicht in Frage kommt, oder sprechen Sie vom gewöhnlichen Durchschnittsmenschen?«
»Vom gewöhnlichen Durchschnittsmenschen«, lautete die Antwort.
»Der schwach und fehlbar und Irrtümern verfallen ist?«
Bischof Morehouse nickte.
»Und kleinlich und selbstsüchtig?« Er nickte wieder. »Beachten Sie wohl,« sagte Ernst, »ich sagte >selbstsüchtig<.«
»Der Durchschnittsmensch ist selbstsüchtig«, gab der Bischof tapfer zu.
»Begehrt alles, was er bekommen kann.«
»Begehrt alles, was er bekommen kann — leider wahr.«
»Dann habe ich Sie.« Ernst ließ seine Kiefer wie eine Falle zuklappen. »Ich werde es Ihnen zeigen. Nehmen Sie einen Mann, der an der Straßenbahn arbeitet.«
»Er hätte diese Arbeit nicht, wenn das Kapital nicht wäre«, unterbrach ihn der Bischof.
»Stimmt, aber Sie werden mir zugeben, dass das Kapital zugrunde gehen würde, wenn die Arbeiter nicht die Dividenden verdienten.«
Der Bischof schwieg.
»Geben Sie das zu?« beharrte Ernst.
Der Bischof nickte.
»Dann heben unsere Behauptungen sich gegenseitig auf«, sagte Ernst geschäftsmäßig, »und wir sind wieder, wo wir waren. Also lassen Sie uns wieder von vorne anfangen. Die Arbeiter bei der Straßenbahn liefern die Arbeit. Die Aktionäre liefern das Kapital. Durch die vereinigte Wirkung von Arbeit und Kapital wird das Geld verdient(3). Das verdiente Geld wird zwischen ihnen geteilt. Der Verdienstanteil des Kapitals heißt >Dividende<, der der Arbeit >Lohn<.«
»Sehr richtig«, bemerkte der Bischof. »Und es ist kein Grund vorhanden, dass die Teilung nicht auf friedlichem Wege erfolgen sollte.«
»Sie haben schon vergessen, worüber wir uns einig waren«, erwiderte Ernst. »Wir waren uns darüber einig, dass der Durchschnittsmensch selbstsüchtig ist. Er ist der Mensch der Tatsache. Sie sind ins Blaue geflogen und haben einen Unterschied zwischen den Menschen aufgestellt, wie sie sein sollten, aber nicht sind. Kehren Sie wieder auf die Erde zurück. Der Arbeiter, der selbstsüchtig ist, will bei der Teilung haben, was er bekommen kann. Der Kapitalist, der auch selbstsüchtig ist, will ebenfalls bei der Teilung haben, was er bekommen kann. Wenn es aber nur soundso viel zum Teilen gibt, und wenn zwei alles haben wollen, dann ist der Interessenkonflikt zwischen Arbeit und Kapital ein unversöhnlicher. Solange es Arbeiter und Kapitalisten gibt, werden sie sich über die Teilung streiten. Wenn Sie heute abend in San Franzisko wären, müssten Sie zu Fuß gehen. Dort fährt nicht eine Straßenbahn.«
»Wieder Streik(4)?« fragte der Bischof erschrocken. »Ja, sie streiten sich über die Verteilung des Gewinns der Straßenbahn.«
Bischof Morehouse wurde erregt.
»Es ist unrecht«, rief er. »Es ist so kurzsichtig von den Arbeitern. Wie können sie Sympathie von uns erwarten —« »Wenn wir gezwungen werden, zu Fuß zu gehen«, Ernst schmunzelte.
Aber Bischof Morehouse beachtete ihn nicht und fuhr fort: »Ihr Horizont ist zu eng. Menschen sollten Menschen sein und keine wilden Tiere. Jetzt wird es wieder Gewalt und Mord, trauernde Witwen und Waisen geben. Kapital und Arbeit sollten Freunde sein. Sie sollten Hand in Hand zu gegenseitigem Nutzen arbeiten.«
»Ach, jetzt schweben Sie wieder im Blauen«, bemerkte Ernst trocken. »Kommen Sie auf die Erde zurück. Vergessen Sie nicht: Wir waren uns einig, dass der Durchschnittsmensch selbstsüchtig ist.«
»Aber er sollte es nicht sein«, rief der Bischof.
»Da stimme ich mit Ihnen überein«, lautete Ernsts Erwiderung- »Er sollte nicht selbstsüchtig sein. Aber er wird es sein solange er unter einem sozialen System lebt, das auf einer Schweine-Ethik beruht.«
Der Bischof war entsetzt, und mein Vater schmunzelte.
»Ja, Schweine-Ethik«, fuhr Ernst unbarmherzig fort, »das ist das kapitalistische System. Und dafür tritt Ihre Kirche ein, die predigen Sie, so oft Sie die Kanzel besteigen. Schweine-Ethik! Es gibt keine andere Bezeichnung dafür.«
Bischof Morehouse wandte sich flehend zu meinem Vater, aber der nickte lachend.
»Ich fürchte, Herr Everhard hat recht«, sagte er. »Laissez-faire, die Unterlassungspolitik, jeder für sich, und den Rest soll der Teufel holen. Wie Herr Everhard neulich sagte, ist es die Aufgabe von euch Männern der Kirche, die bestehende Gesellschaftsordnung aufrechtzuerhalten, und auf dieser Grundlage steht die Gesellschaft eben.«
»Aber das ist nicht die Lehre Christi!« rief der Bischof.
»Die heutige Kirche lehrt nicht Christus«, warf Ernst schnell ein. »Deshalb will der Arbeiter nichts mit der Kirche zu tun haben. Die Kirche sanktioniert die furchtbare Brutalität und Grausamkeit der Kapitalisten gegen die arbeitende Klasse.«
»Die sanktioniert die Kirche nicht«, wandte der Bischof ein.
»Jedenfalls protestiert die Kirche nicht dagegen«, erwiderte er. »Und wenn die Kirche nicht protestiert, sanktioniert sie; denn vergessen Sie nicht, dass die Kirche von der kapitalistischen Klasse unterhalten wird.«
»In diesem Licht habe ich es noch nicht gesehen«, sagte der Bischof naiv. »Sie müssen unrecht haben. Ich weiß wohl, dass manches in dieser Welt hässlich und schlecht ist. Ich weiß, dass die Kirche das — das Proletariat(5), wie Sie es nennen, verloren hat.«
»Sie haben das Proletariat nie gehabt«, rief Ernst. »Das Proletariat ist abseits von der Kirche und ohne sie entstanden.«
»Ich verstehe Sie nicht«, sagte der Bischof verzagt.
»Dann lassen Sie es mich Ihnen erklären. Mit der Einführung der Maschine und des Fabriksystems gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts wurde die große Masse der arbeitenden Bevölkerung heimatlos gemacht. Das alte Arbeitssystem war zusammengebrochen. Das arbeitende Volk wurde von seinen Dörfern vertrieben und in Fabrikstädten zusammengepfercht. Mütter und Kinder mussten an den neuen Maschinen arbeiten. Alles Familienleben hörte auf. Die Bedingungen waren furchtbar. Es ist eine blutige Geschichte.«
»Ich weiß, ich weiß«, unterbrach Bischof Morehouse ihn mit schmerzlicher Miene. »Es war schrecklich. Aber das ist anderthalb Jahrhunderte her.«
»Und damals, vor anderthalb Jahrhunderten entstand eben das moderne Proletariat«, fuhr Ernst fort. »Und die Kirche kümmerte sich nicht darum. Während die Kapitalisten aus der Nation ein Schlachthaus machten, blieb die Kirche stumm. Sie protestierte damals so wenig, wie sie es heute tut. Wie Austin Lewis(6), wenn er von jener Zeit spricht, sagt, haben die, an welche das Gebot >Weidet meine Lämmer< ergangen ist, ruhig zugesehen, wie diese Lämmer in die Sklaverei verkauft wurden und sich zu Tode arbeiten mussten(7). Damals war die Kirche stumm, und ehe ich fortfahre, bitte ich Sie, mir zu sagen, ob Sie mir recht geben oder nicht. War die Kirche damals stumm?«
Bischof Morehouse zögerte. Wie Dr. Hammerfield war er einen solchen »Zusammenprall«, wie Ernst es nannte, nicht gewohnt.
»Die Geschichte des achtzehnten Jahrhunderts ist geschrieben«, sagte Ernst schnell. »Wäre die Kirche nicht stumm, würde sie in den Büchern nicht schweigen.«
»Ich fürchte, die Kirche war stumm«, gestand der Bischof.
»Und die Kirche ist heute noch stumm.«
»Da muss ich widersprechen«, sagte der Bischof.
Ernst machte eine Pause, sah ihn forschend an und nahm dann die Herausforderung an.
»Also schön«, sagte er. »Lassen Sie uns sehen. In Chikago gibt es Frauen, die die ganze Woche für nur neunzig Cents arbeiten. Hat die Kirche dagegen protestiert?«
»Das ist mir ganz neu«, lautete die Antwort. »Neunzig Cents die Woche! Das ist ja schrecklich.«
»Hat die Kirche dagegen protestiert?« beharrte Ernst.
»Die Kirche weiß das nicht.« Der Bischof war offenbar in schwerer Bedrängnis.
»Aber der Kirche ist doch befohlen: >Weidet meine Lämmer«, höhnte Ernst. Und im nächsten Augenblick sagte er: »Verzeihen Sie meinen Hohn, Herr Bischof. Aber können Sie sich wundern, wenn wir die Geduld mit Ihnen verlieren? Wann haben Sie je bei Ihren kapitalistischen Verbänden gegen die Verwendung von Kindern zur Arbeit in den Baumwollspinnereien des Südens protestiert(8)? Sechs -und siebenjährige Kinder arbeiten jede Nacht in Zwölfstundenschichten. Sie sehen nie die Sonne. Sie sterben wie die Fliegen. Die Dividenden werden mit ihrem Blute bezahlt. Und aus den Dividenden werden in Neuengland prachtvolle Kirchen gebaut, in denen Ihresgleichen den schlauen, dickbäuchigen Beziehern dieser Dividenden Plattheiten predigen.«
»Das wusste ich nicht«, murmelte der Bischof leise. Sein Gesicht war bleich, und ihm schien übel zu werden.
»Dann haben Sie also nicht dagegen protestiert.«
Der Bischof schüttelte den Kopf.
»Dann ist die Kirche heute noch so stumm, wie sie es im achtzehnten Jahrhundert war?«
Der Bischof schwieg, und Ernst gab dem Gespräch unvermittelt eine andere Wendung. »Sie wissen, dass ein Geistlicher, der protestieren wollte, entlassen würde.« »Ich glaube kaum, dass das leicht ist«, lautete die Erwiderung.
»Wollen Sie protestieren?« fragte Ernst. »Zeigen Sie mir solche Schäden, wie Sie sie anführen, in unserer eignen Gemeinde, und ich werde protestieren.«
»Ich werde sie Ihnen zeigen«, sagte Ernst ruhig. »Ich stehe Ihnen zur Verfügung. Ich will mit Ihnen eine Wanderung durch die Hölle machen.«
»Und ich werde protestieren.« Die Glieder des Bischofs strafften sich, und seine feinen Züge nahmen die Härte eines Kriegers an. »Die Kirche soll nicht stumm sein.«
»Man wird Sie entlassen«, sagte Ernst.
»Ich werde Ihnen das Gegenteil beweisen«, lautete die Antwort. »Ich werde beweisen, dass die Kirche nur aus Unwissenheit geirrt hat. Und mehr noch, ich bin überzeugt, dass, was auch immer Schreckliches in der Industrie vorkommt, nur durch die Unwissenheit der kapitalistischen Klasse ermöglicht wird. Sobald sie es erfährt, wird sie alles Unrecht gutmachen. Und dass sie es erfährt, soll Sache der Kirche sein.«
Ernst lachte. Er lachte brutal, und mich trieb es, dem Bischof beizustehen.
»Vergessen Sie nicht«, sagte ich, »dass Sie nur die eine Seite der Sache sehen. Es ist viel Gutes in uns, wenn Sie es auch nicht sehen wollen. Bischof Morehouse hat recht. Das Unrecht der Industrie ist schrecklich, aber er sagt, es rührt nur von der Unwissenheit her. Der Schlund, der zwischen den verschiedenen Schichten der Gesellschaft klafft, ist zu breit geworden.«
»Der wilde Indianer ist nicht so roh und grausam wie die kapitalistische Klasse«, erwiderte er, und in diesem Augenblick hasste ich ihn.
»Sie kennen uns nicht«, antwortete ich. »Wir sind nicht roh und grausam.«
»Beweisen Sie das«, forderte er mich auf.
»Wie kann ich es Ihnen beweisen?« Ich wurde zornig.
Er schüttelte den Kopf.
»Ich verlange ja nicht, dass Sie es mir beweisen sollen. Beweisen Sie es sich selber.«
»Ich weiß Bescheid«, sagte ich.
»Sie wissen nichts«, erwiderte er grob.
»Aber Kinder«, sagte Vater besänftigend.
»Es ist mir ganz einerlei — «, begann ich unwillig, aber Ernst unterbrach mich.
»Ich glaube, Sie — oder Ihr Vater, was dasselbe ist — haben Geld in den Sierra-Spinnereien angelegt.«
»Was hat das damit zu tun?« rief ich.
»Nicht viel«, begann er langsam. »Nur, dass das Gewand, das Sie tragen, mit Blut befleckt ist. Dass die Nahrung, die Sie essen, blutig ist. Dass das Blut kleiner Kinder und starker Männer von Ihren Dachbalken herabtropft. Wenn ich jetzt die Augen schließe, kann ich es immerfort über mir tropfen hören: Tripp, tropp, tripp, tropp.«
Und indem er die Tat den Worten folgen ließ, schloss er die Augen und lehnte sich in seinem Sessel zurück. Vor Zorn und verletzter Eitelkeit brach ich in Tränen aus. Nie in meinem Leben war man mir so brutal begegnet. Sowohl der Bischof wie mein Vater waren verlegen und bestürzt. Sie versuchten die Unterhaltung in ruhigere Bahnen zu lenken, aber Ernst öffnete die Augen, ließ sie einen Augenblick auf mir ruhen und wandte sich dann ab. Sein Mund war starr und seine Augen auch, und sie lächelten nicht. Was er mir sagen, welche furchtbare Züchtigung er mir angedeihen lassen wollte, habe ich nie erfahren, denn in diesem Augenblick blieb ein Mann, der auf dem Bürgersteig vorbeiging, stehen und sah zu uns herein. Er war groß, ärmlich gekleidet und trug auf dem Rücken eine schwere Last von Rohr- und Bambusständern, Stühlen und Ofenschirmen. Er sah zum Hause herauf, als sei er unschlüssig, ob er eintreten und versuchen sollte, etwas von seiner Ware zu verkaufen. »Der Mann heißt Jackson«, sagte Ernst. »Mit dem kräftigen Körper sollte er arbeiten und nicht hausieren«, antwortete ich kurz. »Sehen Sie seinen linken Ärmel«, sagte Ernst höflich. Ich blickte hin und sah, dass der Ärmel leer war. »Blut von diesem Arm war es, das ich von Ihren Dachbalken tropfen hörte«, sagte Ernst mit immer gleich bleibender Höflichkeit. »Er verlor seinen Arm in den Sierra-Spinnereien, und wie ein niedergebrochenes Pferd warfen sie ihn zum Sterben auf die Landstraße. Unter >sie< verstehe ich den Generaldirektor und die Beamten, die von Ihnen und den anderen Aktionären für die Leitung der Spinnerei bezahlt werden. Es war ein Unfall. Er erlitt ihn bei dem Versuch, der Gesellschaft ein paar Dollar zu retten. Er geriet mit dem Arm zwischen die Zahnräder. Er hätte das Steinchen ruhig lassen können, das er zwischen den Zähnen sah. Es wäre nur eine Reihe von Stiften verbogen worden. Aber er griff nach dem Stein, und dabei wurde sein Arm gepackt und von den Fingerspitzen bis zur Schulter zerfleischt. Es war Nacht. Die Spinnerei machte Überstunden. Sie schütteten damals eine fette Dividende aus. Jackson hatte viele Stunden gearbeitet, seine Muskeln waren erlahmt, und so führten sie die Bewegung ein wenig langsam aus. Deshalb packte ihn die Maschine. Er hat eine Frau und drei Kinder.« »Und was tat die Gesellschaft für ihn?« fragte ich darauf. »Nichts. Ach ja, doch, etwas taten sie. Sie führte den Prozess, den Jackson nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus auf Schadenersatz anstrengte, erfolgreich durch. Die Gesellschaft beschäftigt sehr tüchtige Rechtsanwälte, wissen Sie.«
»Sie haben nicht alles erzählt«, sagte ich mit Überzeugung. »Oder Sie wissen nicht alles. Vielleicht war der Mann unverschämt.«
»Unverschämt! Ha! Ha!« Sein Lachen war teuflisch. »Du lieber Gott, unverschämt! Mit seinem verstümmelten Arm! Trotz allem war er demütig und bescheiden und dachte gar nicht daran, unverschämt zu sein.«
»Aber das Gericht«, drängte ich. »Der Prozess wäre doch nicht zu seinen Ungunsten entschieden worden, wenn nicht noch etwas gewesen wäre, das Sie nicht erwähnt haben.«' »Der erste Anwalt der Gesellschaft ist Ingram, ein scharfsinniger Jurist.« Ernst sah mich einen Augenblick gespannt an, dann fuhr er fort: »Ich will Ihnen etwas sagen, Fräulein Cunningham. Untersuchen Sie den Fall Jackson.«
»Das hatte ich mir sowieso vorgenommen«, sagte ich kühl.
»Schön«, meinte er freundlich. »Und ich will Ihnen sagen, wo Sie den Mann finden können. Aber ich zittere für Sie, wenn ich daran denke, was Sie durch Jacksons Arm erfahren werden.«
Und so kam es, dass sowohl der Bischof wie ich auf den Vorschlag Ernsts eingingen. Die beiden entfernten sich und ließen mich allein mit dem schmerzlichen Gefühl eines Unrechts, das mir und meiner Klasse angetan war. Dieser Mann war ein wildes Tier. Ich hasste ihn und tröstete mich nur mit dem Gedanken, dass man eben von einem Angehörigen der arbeitenden Klasse kein anderes Benehmen erwarten konnte.
(1) In jenen Tagen machte man einen scharfen Unterschied zwischen Eingeborenen und Eingewanderten.
(2) Dieses Buch wurde in den dreihundert Jahren der Herrschaft der Eisernen Ferse immer wieder heimlich gedruckt. In der Nationalbibliothek von Ardis befinden sich eine ganze Reihe von Ausgaben verschiedener Verleger.
(3) In jenen Tagen übten räuberische Individuen die Kontrolle über alle Transportmittel aus und erhoben vom Publikum eine Abgabe für deren Benutzung.
(4) Diese Streitigkeiten waren in jenen irrationellen und anarchistischen Zeiten sehr häufig. Zuweilen weigerten die Arbeiter sich, zu arbeiten. Zuweilen weigerten die Kapitalisten sich, die Arbeiter arbeiten zu lassen. Bei der Heftigkeit und Verwirrung solcher Unstimmigkeiten wurde viel Eigentum zerstört und manches Leben vernichtet. Alles dies ist uns heute unverständlich — ebenso unverständlich wie eine andere Gewohnheit jener Zeit, nämlich die Gepflogenheit von Männern der niederen Klasse, die Einrichtung zu zertrümmern, wenn sie sich mit ihren Frauen zankten.
(5) Proletariat: stammt ursprünglich von dem lateinischen proletarii, ein Name, der zur Zeit des Servius Tullius denen gegeben wurde, die für den Staat nur als Erzeuger von Nachkommenschaft (proles) Wert hatten; mit ändern Worten, sie kamen weder für Besitz und Stellung, noch für außergewöhnliche Befähigung in Betracht.
(6) Von den Sozialisten bei der Wahl im Jahre 1906 der christlichen Zeitrechnung aufgestellter Kandidat für den Gouverneurposten von Kalifornien. Er war Engländer von Geburt, Verfasser vieler national-ökonomischer und philosophischer Bücher und einer der bedeutendsten Sozialistenführer seiner Zeit.
(7) Es gibt kein schrecklicheres Blatt in der Geschichte als die Behandlung von Kindern und Frauen in den englischen Fabriken in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts der christlichen Zeitrechnung. Aber manche der stolzesten Schicksale jener Tage erwuchsen aus diesen Industriehöllen.
(8) Ein noch besseres Beispiel hätte Everhard vorbringen können, wenn er daran gedacht hätte, wie die Kirche vor ihrer Zeit für die Sklaverei eingetreten war. Im Jahre 1835 stellte die Versammlung der presbyterianischen Kirche fest: »Sklaverei ist sowohl im Alten wie im Neuen Testament anerkannt und von Gott nicht verboten.« Die Charlestoner Baptisten-Gesellschaft veröffentlichte im Jahre 1835 folgendes: »Das Recht des Herrn, über die Zeit seiner Sklaven zu verfügen, ist klar vom Schöpfer aller Dinge anerkannt, der unbedingt das Besitzrecht über jeden Gegenstand zuerteilen kann, wem ihm beliebt.« Referend E.D. Simon, Doktor der Religionsgeschichte und Professor am Randolph-Macon Methodist-College in Virginia, schrieb: »Die Heilige Schrift bestätigt an viele»Stellen unwiderruflich das Recht auf Sklavenhaltung in Gemäßheit des allgemeinen Besitzrechtes. Das Recht, zu kaufen und zu verkaufen, ist klar bestätigt, ob wir nun die von Gott selbst vorgeschriebene Politik des jüdischen Staates oder die gleichartige Behandlung dieser Angelegenheit durch die Gesetze in allen Jahrhunderten, die Vorschriften des Neuen Testamentes oder unsere Moralgesetze befragen. Immer kommen wir zu dem Schlüsse, dass Sklaverei nicht unmoralisch ist. Wenn einmal feststeht, dass die ersten afrikanischen Sklaven gesetzmäßig in die Sklaverei gebracht worden sind, so folgt daraus unerbittlich das Recht, auch ihre Kinder in der Sklaverei zu behalten. Wir sehen also, dass die Sklaverei in Amerika zu Recht besteht.«
Es ist durchaus nicht merkwürdig, dass wir dieselben Anschauungen etwa eine Generation später wieder von der Kirche vertreten sehen, und zwar zur Verteidigung des kapitalistischen Eigentums. Im Museum zu Asgard befindet sich ein Buch Henry van Dykes, »Angewandte Essays«. Das Buch erschien im Jahre 1905 der christlichen Zeitrechnung, und wir können daraus ersehen, dass van Dyke Geistlicher gewesen sein muss. Es ist ein gutes Beispiel für das, was Everhard bourgeoises Denken genannt haben würde. Man beachte die Ähnlichkeit zwischen den oben zitierten Äußerungen der Charlestoner Baptistengesellschaft und dem folgenden, siebzig Jahre später von van Dyke geprägten Satze: »Die Bibel lehrt, dass die Welt Gott gehört. Er teilt jedermann nach Gutdünken in Überreinstimmung mit den allgemeinen Gesetzen aus.«
Ich ließ mir nicht träumen, welch verhängnisvolle Rolle Jacksons Arm in meinem Leben spielen sollte. Jackson selbst machte, als ich ihn aufsuchte keinen besonders starken Eindruck auf mich. Ich fand ihn in einem wackligen, baufälligen(1) Hause, dicht an der Bucht, am Rande des Sumpfes. Rings um das Haus waren Tümpel stagnierenden Wassers, dessen Oberfläche von grünem fauligen Schlamm bedeckt war, und aus denen ein unerträglicher Gestank aufstieg.
Ich fand Jackson so demütig und bescheiden, wie Ernst ihn geschildert hatte. Er war mit der Herstellung eines Rohrgeflechts beschäftigt und arbeitete stumpf weiter, während ich mit ihm sprach. Aber trotz seiner Demut und Bescheidenheit glaubte ich in ihm das erste Anzeichen einer keimenden Erbitterung zu entdecken, als er sagte:
»Man hätte mich aber doch wenigstens als Wächter(2) einstellen sollen.«
Ich bekam nur wenig aus ihm heraus. Er machte den Eindruck eines Stumpfsinnigen, und doch schien die Gewandtheit, mit der er mit seiner einen Hand arbeitete, seinen Stumpfsinn Lügen zu strafen. Das brachte mich auf einen Gedanken.
»Wie kam es, dass Ihr Arm in die Maschine geriet?«
Er warf mir einen langen, forschenden Blick zu und schüttelte dann den Kopf.
»Ich weiß nicht. Es ist eben passiert.«
»Fahrlässigkeit?« fragte ich.
»Nein«, antwortete er. »So kann man es nicht nennen. Ich machte Überstunden und war, glaube ich, etwas übermüdet. In den siebzehn Jahren, die ich in der Spinnerei arbeitete, habe ich bemerkt, dass die meisten Unglücksfälle gerade vor Arbeitsschluss(3) vorkommen. Ich möchte wetten, dass in der letzten Arbeitsstunde mehr Unfälle vorkommen als während der ganzen übrigen des Tages. Wenn der Mensch stundenlang anstrengend gearbeitet hat, ist er nicht mehr so gewandt. Ich habe zu viele zerlöchert und zerrissen und bis zur Unkenntlichkeit zerfetzt gesehen.«
»Viele?« forschte ich.
»Hunderte und aber Hunderte, auch Kinder.«
Bis auf die schrecklichen Einzelheiten stimmte seine Beschreibung des Unfalls mit der überein, die ich bereits vernommen hatte. Als ich ihn fragte, ob er vielleicht eine der Bedienungsvorschriften der Maschine außer acht gelassen hätte, schüttelte er den Kopf.
»Ich riss mit der rechten Hand den Treibriemen ab«, sagte er, »und griff mit der Linken nach dem Steinchen. Ich hielt nicht an, um nachzusehen, ob der Treibriemen wirklich ab wäre. Ich dachte, meine rechte Hand hätte es getan — aber das war nicht der Fall. Ich griff schnell hin, aber der Riemen war nicht ganz herunter, und da wurde mir der Arm abgerissen.«
»Es muss sehr geschmerzt haben«, sagte ich mitleidig.
»Das Krachen der Knochen war nicht schön«, lautete seine Antwort.
Ü ber seinen Prozess war er sich noch nicht ganz klar. Nur so viel wusste er, dass er keinen Schadenersatz erhalten hatte. Er hatte das Gefühl, dass die Aussagen des Direktors und des Werkmeisters die ungünstige Entscheidung des Gerichts herbeigeführt hatten. Ihre Aussagen, wie er sie hinstellte, »waren nicht, wie sie hätten sein sollen«. Und ich beschloss, diese Zeugen aufzusuchen.
Eines war klar, die Lage Jacksons war erbärmlich. Seine Frau war leidend, und er selbst konnte durch das Rohrflechten und Hausieren den Lebensunterhalt für seine Familie nicht verdienen. Er war mit der Miete im Rückstand, und sein ältestes Kind, ein Junge von elf Jahren, hatte jetzt angefangen, in der Spinnerei zu arbeiten.
»Sie hätten mich als Wächter einstellen sollen«, waren seine letzten Worte, als ich ging.
Als ich dann den Anwalt, der Jackson vertreten, sowie die beiden Werkführer und den Generaldirektor der Spinnerei, die in dem Prozess ausgesagt, gesprochen hatte, begann ich zu fühlen, dass in dem, was Ernst behauptete, etwas Wahres steckte.
Der Anwalt machte den Eindruck eines energielosen, unfähigen Menschen, und bei seinem Anblick wunderte ich mich nicht, dass Jackson seinen Prozess verloren hatte. Mein erster Gedanke war, dass Jackson recht geschehen war, weil er sich einen solchen Anwalt genommen hatte. Im nächsten Augenblick aber kamen mir plötzlich zwei Behauptungen von Ernst zum Bewusstsein: »Die Gesellschaft beschäftigt sehr tüchtige Rechtsanwälte« und »Ingram ist ein scharfsinniger Jurist«. Ich überlegte schnell. Es wurde mir klar, dass die Gesellschaft sich natürlich bessere Juristen leisten konnte als ein Arbeiter wie Jackson. Aber das war das wenigste. Es musste unbedingt einen Grund haben, dass der Prozess ungünstig für Jackson ausgefallen war.
»Warum haben Sie den Prozess verloren?« fragte ich.
Der Anwalt war bestürzt und sah mich einen Augenblick zerquält an, und ich empfand Mitleid mit dem armseligen Menschen. Dann begann er zu jammern. Ich glaube, das Jammern war ihm angeboren. Er jammerte über die Zeugenaussagen. Sie wären alle zugunsten der Gegenpartei ausgefallen. Nicht ein einziges Wort zugunsten Jacksons hätte man aus ihnen herausbringen können. Sie hätten gewusst, wo die Butter für ihr Brot zu holen war. Jackson sei ein Dummkopf. Er wäre durch Ingram eingeschüchtert und verwirrt worden. Ingram sei glänzend im Kreuzverhör. Er hätte Jackson veranlasst, nachteilige Antworten zu geben.
»Wie konnten seine Antworten nachteilig sein, wenn er das Recht auf seiner Seite hatte?« fragte ich.
»Was hat das mit Recht zu tun?« fragte er zurück. »Sehen Sie alle diese Bücher.« Er wies mit der Hand auf eine Reihe von Bänden an den Wänden seines winzigen Bureaus. »Alles, was ich in ihnen gelesen und studiert habe, hat mich gelehrt, dass Gesetz und Recht zweierlei sind. Fragen Sie jeden Anwalt, den Sie wollen. In der Sonntagsschule lernt man, was Recht ist. Aus diesen Büchern aber lernt man eines: Gesetz.«
»Wollen Sie damit sagen, dass Jackson im Recht war und doch verurteilt wurde?« forschte ich. »Wollen Sie sagen, dass es keine Gerechtigkeit in Caldwells Gericht gibt?«
Der kleine Anwalt starrte mich einen Augenblick an, dann aber schwand die Energie aus seinen Zügen.
»Ich hatte keine Möglichkeit«, begann er wieder jammernd. »Sie haben Jackson zum Narren gemacht und mich auch. Welche Möglichkeiten hatte ich auch. Ingram ist ein großer Jurist. Wäre er das nicht, würden ihm dann die Sierra-Spinnereien, das Erston Land-Syndicate, die Berkeley Consolidated, die Oakland, San Leandro und Pleasenton Elektrizitätswerke die Führung ihrer Rechtsgeschäfte übertragen haben? Er ist Trustanwalt, und ein Trustanwalt wird nicht umsonst bezahlt(4). Wofür meinen Sie wohl, zahlt die Sierra-Spinnerei allein ihm zwanzigtausend Dollar jährlich? Natürlich, weil er ihnen zwanzigtausend Dollar jährlich wert ist. Ich bin nicht so viel wert. Wäre ich es, so stünde ich nicht abseits, darbte und übernähme Prozesse wie den Jacksons. Was, glauben Sie, hätte ich bekommen, wenn ich den Prozess gewonnen hätte?«
»Aller Wahrscheinlichkeit nach hätten Sie Jackson ausgeplündert«, antwortete ich.
»Selbstverständlich!« rief er ärgerlich. »Ich muss doch auch leben, nicht wahr(5)?«
»Er hat Frau und Kinder«, tadelte ich ihn.
»Ich auch«, erwiderte er. »Und außer mir kümmert sich kein Mensch in der Welt darum, ob sie darben oder nicht.«
Seine Züge wurden plötzlich weich, er öffnete seine Uhr und zeigte mir die auf die Innenseite des Deckels geklebte Photographie von einer Frau und zwei kleinen Mädchen.
»Das sind sie, sehen Sie sie an. Wir haben schwere Zeiten durchgemacht, schwere Zeiten. Ich hatte gehofft, sie aufs Land schicken zu können, wenn ich Jacksons Prozess gewann. Sie brauchen Landluft, aber ich kann es mir nicht leisten, sie fortzuschicken.«
Als ich mich zum Gehen anschickte, verfiel er wieder in sein Jammern.
»Ich habe nicht die geringsten Aussichten. Ingram und der Richter Caldwell sind befreundet. Ich will nicht sagen, dass diese Freundschaft den Prozess entschieden haben würde, wenn ich im Kreuzverhör die Zeugen zu den richtigen Aussagen bekommen hätte. Aber Caldwell tat doch sein möglichstes, um zu verhindern, dass ich das richtige Beweismaterial zusammenbekam. Caldwell und Ingram gehören derselben Loge und demselben Klub an. Sie sind Nachbarn in einer Gegend, wo ich es mir nicht leisten kann zu wohnen. Und ihre Frauen besuchen sich immer. Sie haben ihre gemeinsame Whistpartie und lauter ähnliche Dinge.«
»Und glauben Sie noch, dass Jackson im Recht war?« fragte ich, indem ich einen Augenblick auf der Schwelle stehen blieb.
»Ich glaube nicht, ich weiß nicht«, lautete die Antwort. »Zuerst glaubte ich auch, dass er Aussichten hätte. Aber ich sagte meiner Frau nichts davon. Ich wollte ihr keine Enttäuschung bereiten. Ihr Herz hing an einem Aufenthalt auf dem Lande, so schwer das auch zu machen war.«
»Warum lenkten Sie nicht die Aufmerksamkeit auf die Tatsache, dass Jackson die Maschine vor Schaden zu bewahren versuchte?« fragte ich Peter Donnelly, einen der Werkführer, die vor Gericht ausgesagt hatten. Er überlegte lange, ehe er antwortete. Dann warf er einen scheuen Blick um sich und sagte:
»Weil ich eine brave Frau und drei der süßesten Kinder habe, die Ihre Augen je erblickt haben. Deshalb.«
»Ich verstehe Sie nicht«, sagte ich.
»Mit ändern Worten, weil es nicht ratsam gewesen wäre«, antwortete er.
»Sie meinen —«, begann ich.
Er unterbrach mich heftig.
»Ich meine, was ich sage. Ich arbeite seit vielen Jahren in der Spinnerei. Als Kind fing ich an den Spindeln an und habe mich seitdem langsam heraufgearbeitet. Nur durch schwere Arbeit habe ich meine jetzige Stellung erlangt. Ich bin Werkführer, mit Verlaub. Und ich zweifle, dass in der ganzen Spinnerei sich eine Hand ausstrecken würde, um mich vor dem Ertrinken zu retten. Ich war immer Mitglied der Gewerkschaft. Aber bei zwei Streiks habe ich der Gesellschaft geholfen. Sie nannten mich einen Streikbrecher. Nicht einer von ihnen würde ein Glas mit mir trinken, wenn ich ihn dazu einlüde. Sehen Sie die Narben an meinem Kopfe? Sie stammen von Ziegelsteinen, die nach mir geworfen wurden. Kein Kind an den Spindeln, das meinen Namen nicht verfluchte. Mein einziger Freund ist die Gesellschaft. Und nicht aus Pflichtgefühl stehe ich zu ihr, Brot und Butter und das Leben meiner Kinder binden mich an sie. Das ist es.«
»War Jackson zu verurteilen?« fragte ich.
»Er hätte Schadenersatz haben sollen. Er war ein guter Arbeiter, der nie krakeelte.«
»War es Ihnen denn nicht möglich, die ganze Wahrheit zu sagen, wie Sie geschworen hatten?«
Er schüttelte den Kopf.
»Die Wahrheit, die reine Wahrheit, und nichts als die Wahrheit?« sagte ich feierlich.
Wieder wurde sein Gesicht leidenschaftlich erregt, und er hob es nicht zu mir, sondern zum Himmel.
»Für meine Kinder würde ich Seele und Leib in ewiger Hölle brennen lassen«, lautete seine Antwort.
Henry Dallas, der Generaldirektor, war ein Mensch mit einem Fuchsgesicht, der mich frech ansah und sich weigerte, über die Sache mit mir zu sprechen. Nicht ein Wort über die Gerichtsverhandlung und seine Aussage konnte ich aus ihm herausbekommen. Aber bei dem anderen Werkführer hatte ich mehr Glück. James Smith war ein Mann mit harten Zügen, und das Herz sank mir in die Schuhe, als ich vor ihm stand. Auch er machte den Eindruck, dass er keinen freien Willen hätte, und als ich mit ihm sprach, bemerkte ich, dass er geistig höher stand als der Durchschnitt seiner Klasse. Er stimmte mit Peter Donnelly darin überein, dass Jackson hätte entschädigt werden müssen, ja, er ging sogar noch weiter und nannte die Handlungsweise, die den durch einen Unfall zum Krüppel gewordenen Arbeiter brotlos gemacht hatte, herzlos und gemein. Er erklärte auch, dass Unfälle in der Spinnerei häufig seien, und dass die Gesellschaft die Politik verfolge, alle sich daraus ergebenden Schadenersatzansprüche bis zum bitteren Ende zu bekämpfen.
»Das bedeutet jährlich Hunderte und Tausende für die Aktionäre«, und ich musste an die letzte Dividende, die mein Vater erhalten, und an den herrlichen Mantel für mich und die Bücher für meinen Vater denken, die von ebendieser Dividende gekauft worden waren. Ich dachte an den Ausspruch Ernsts, dass an meinem Mantel Blut klebe, und ich begann unter meinen Kleidern zu zittern.
»Haben Sie bei Ihrer Aussage nicht betont, dass Jackson verunglückte, als er versuchte, die Maschine vor Schaden zu bewahren?« sagte ich.
»Nein«, lautete seine Antwort, und sein Mund presste sich bitter zusammen. »Ich sagte aus, dass Jackson seinen Unfall selbst verschuldet hätte, und zwar durch Nachlässigkeit und Fahrlässigkeit, und dass die Gesellschaft in keiner Weise verantwortlich oder ersatzpflichtig sei.«
»War es denn Fahrlässigkeit?« fragte ich.
»Nehmen Sie es, wie Sie wollen. Tatsache ist, dass ein Mann müde wird, wenn er stundenlang gearbeitet hat.«
Der Mann begann mich zu interessieren. Er stammte zweifellos aus einer höheren Klasse.
»Sie sind gebildeter als die Arbeiter im allgemeinen«, sagte ich.
»Ich habe das Gymnasium besucht«, erwiderte er. »Das ermöglichte ich, indem ich mich als Pförtner anstellen ließ. Ich wollte auf die Universität gehen. Aber mein Vater starb, und ich musste in die Spinnerei. Ich wollte Naturwissenschaft studieren«, erklärte er schüchtern, als gestände er eine Schwäche ein. »Ich liebe Tiere, aber ich musste in die Spinnerei. Als ich zum Werkführer aufrückte, verheiratete ich mich, und dann kam die Familie und — nun ja, da war ich eben nicht mehr mein eigener Herr.«
»Was meinen Sie damit?« fragte ich.
»Ich wollte Ihnen gerade erklären, warum ich vor Gericht aussagte, wie ich es tat — ich folgte Instruktionen.«
»Wessen Instruktionen?«
»Ingrams. Er schrieb mir die Aussage, die ich zu machen hatte, vor.«
»Und darum verlor Jackson seinen Prozess?«
Er nickte, und das Blut stieg ihm dunkel ins Gesicht.
»Und Jackson hat eine Frau und zwei Kinder zu ernähren.«
»Ich weiß«, sagte er ruhig, aber sein Gesicht färbte sich noch dunkler.
»Sagen Sie mir«, fuhr ich fort, »wurde es Ihnen leicht, aus dem gebildeten Menschen, der Sie waren, zu dem Manne zu werden, der Sie geworden sein müssen, um das fertig zu bringen?«
Ich prallte erschrocken zurück, so unerwartet kam Gefühlsausbruch. Er stieß einen wilden Fluch aus und ballte die Fäuste, als wollte er mich schlagen.
»Verzeihen Sie«, sagte er im nächsten Augenblick. »Nein, es war nicht leicht. Und jetzt wird es am besten sein, wenn Sie gehen. Sie haben alles, was Sie wollten, aus mir herausgebracht . Aber ehe Sie gehen, möchte ich Ihnen noch eines sagen. Es würde Ihnen nichts helfen, wenn Sie etwas von dem, was Sie von mir gehört haben, weitersagen. Ich würde es leugnen, und Sie haben keinen Zeugen. Ich würde jedes Wort leugnen — wenn es sein müsste, unter Eid auf der Zeugenbank.«
Nach der Unterredung mit Smith ging ich in das Bureau meines Vaters im chemischen Laboratorium, und dort traf ich Ernst. Die Begegnung war ganz unerwartet, aber er begrüßte mich mit seinem kühnen Blick und seinem festen Händedruck und mit dieser eigentümlichen Mischung von Verlegenheit und Ungezwungenheit. Es schien, als hätte er unsere letzte stürmische Begegnung vergessen; aber ich war nicht in der Stimmung, sie zu vergessen.
»Ich habe den Fall Jackson verfolgt«, sagte ich unvermittelt.
Er wartete gespannt, dass ich weitersprechen sollte, aber; ich konnte in seinen Augen die Gewissheit lesen, dass meine Ansichten erschüttert worden seien.
»Man scheint ihm übel mitgespielt zu haben«, gestand ich. »Ich — ich — glaube, dass etwas von seinem Blute von unsern Dachbalken tropft.«
»Natürlich«, antwortete er. »Wenn man gegen Jackson und alle seine Genossen barmherzig gewesen wäre, würde die Dividende nicht so fett sein.«
»Ich werde nie mehr Gefallen an schönen Kleidern finden können«, fügte ich hinzu.
Ich fühlte mich gedemütigt und zerknirscht, und mich durchrieselte es süß, dass Ernst eine Art Beichtvater für mich war. Dann, wie später immer, stützte mich seine Kraft. Sie schien eine Verheißung von Schutz und Frieden auszustrahlen. »Und ebenso wenig werden Sie Gefallen an Sackleinen finden können«, sagte er mit Nachdruck. »Sie kennen die Jutespinnereien, dort herrschen dieselben Zustände. Dort wie überall. Unsere viel gepriesene Zivilisation ist auf Blut begründet, mit Blut gesättigt, und weder Sie, noch ich, noch sonst irgend jemand kann es vermeiden, von diesem roten Blut befleckt zu werden. Wer waren die Leute, mit denen Sie sprachen?«
Ich erzählte ihm alles, was vorgefallen war.
»Und nicht einer von ihnen hatte Handlungsfreiheit«, sagte er. »Sie alle sind an die erbarmungslose Industriemaschine gefesselt. Und das Tragische dabei ist, dass sie alle mit ihrem Herzblut daran gefesselt sind. Ihre Kinder — es ist immer das junge Leben, das sie instinktiv schützen. Dieser Instinkt ist stärker als alle Ethik in ihnen. Mein Vater! Er log, er stahl, er tat alles mögliche Ehrenrührige, um Brot für mich und meine Geschwister zu schaffen. Er war ein Sklave der Industriemaschine, die ihn zerstampfte, ihn zu Tode hetzte.«
»Aber Sie«, warf ich ein. »Sie sind doch sicher frei in ihrem Handeln.«
»Nicht ganz«, erwiderte er. »Ich bin nicht durch mein Herzblut gefesselt. Ich bin oft dankbar, dass ich keine Kinder habe, und dabei liebe ich Kinder. Und doch würde ich mir keine wünschen, wenn ich verheiratet wäre.«
»Das ist ein schlechter Grundsatz«, rief ich.
»Ich weiß«, sagte er traurig, »aber für mich ist er angebracht. Ich bin Revolutionär, und das ist ein gefährlicher Beruf.«
Ich lachte ungläubig.
»Was würde Ihr Vater tun, wenn ich nachts bei ihm einzubrechen versuchte, um seine Dividenden von den Sierra-Spinnereien zu stehlen?«
»Er schläft mit einem Revolver auf dem Nachttisch neben sich«, antwortete ich. »Aller Wahrscheinlichkeit nach würde er Sie erschießen.«
»Und wenn ich und ein paar andere anderthalb Millionen Mann(6) in die Häuser aller Wohlhabenden führen würde -es gäbe eine mächtige Schießerei, nicht wahr?«
»Ja, aber das würden Sie nicht tun«, bemerkte ich.
»Eben das will ich tun. Und wir haben die Absicht, nicht nur allen Reichtum in den Häusern zu nehmen, sondern auch sämtliche Quellen dieses Reichtums, alle Bergwerke, Eisenbahnen, Fabriken, Banken und Geschäfte. Das ist die Revolution. Sie ist wirklich gefährlich. Ich fürchte, die Schießerei wird schlimmer werden, als ich mir je erträumen ließ. Aber, wie gesagt, heute ist niemand frei in seinem Handeln. Wir sind alle von den Rädern und Zähnen der Industriemaschine gepackt. Sie haben das dort, wo Sie waren, gesehen, Sie sehen, dass die Männer, mit denen Sie sprachen, es auch waren. Sprechen Sie noch mit einigen ändern. Gehen Sie zu Ingram. Suchen Sie die Reporter und Redakteure auf, die dafür sorgten, dass der Fall Jackson nicht in die Zeitungen kam. Sie werden sehen, dass sie alle Sklaven der Maschine sind.«
Im Verlauf unserer Unterhaltung stellte ich eine einfache Frage nach der Haftpflicht gegenüber den Arbeitern bei Unfällen und erhielt von ihm eine statistische Belehrung.
»Es steht alles in den Büchern«, sagte er. »Alle Fälle sind gesammelt, und es ist unumstößlich, dass die wenigsten Unfälle sich in den Morgenstunden ereignen, dass ihre Zahl aber mit jener Stunde, mit der der Arbeiter körperlich und geistig ermüdet und langsamer wird, rasch anschwillt.«
»Weshalb, meinen Sie, hat Ihr Vater dreimal soviel Chancen für die Sicherheit von Leib und Leben wie ein Arbeiter? Er hat sie. Die Versicherungsgesellschaften(7) wissen es. Ihn kostet eine Unfallversicherung auf tausend Dollar vier Dollar zwanzig jährlich, einen Arbeiter hingegen fünf-zehn Dollar.«
»Und Sie?« fragte ich, und in diesem Augenblick spürte ich eine mehr als oberflächliche Unruhe in mir.
»Ach, als Revolutionär habe ich etwa achtmal soviel Aussicht wie ein Arbeiter, verletzt oder getötet zu werden«, antwortete er sorglos. »Von einem sehr geübten Chemiker, der mit Explosivstoffen umgeht, verlangt die Unfallversicherung die achtfache Prämie wie von einem Arbeiter. Ich glaube, mich würden sie überhaupt nicht aufnehmen. Warum fragen Sie?«
Ich konnte die Augen nicht aufschlagen und fühlte, wie mir das Blut in heiß in die Wangen stieg. Nicht, weil er meine Unruhe bemerkt haben konnte, sondern weil ich sie selbst, und dazu in seiner Gegenwart, entdeckt hatte.
In diesem Augenblick trat mein Vater ein und machte Anstalten, mit mir fortzugehen. Ernst gab ihm einige Bücher zurück, die er von ihm geliehen hatte, und verabschiedete sich. Aber im Hinausgehen drehte er sich noch einmal um und sagte: »Wissen Sie, statt dass Sie sich Ihre Seelenruhe stören lassen und ich die des Bischofs störe, sollten Sie lieber Frau Wickson und Frau Pertonwaithe aufsuchen. Ihre Männer sind, wie Sie wissen, die beiden Hauptaktionäre der Spinnerei. Wie alle ändern Menschen, sind auch diese beiden Frauen an die Maschine gefesselt, wenn sie auch obendrauf sitzen.«
(1) Dieses Wort bezeichnet den Zustand halb zerstörter und verfallener Häuser, in denen große Massen der arbeitenden Bevölkerung in jenen Tagen Unterkunft fanden. Sie zahlten den Grundbesitzern feste und im Verhältnis zum Werte solcher Häuser ungeheure Abgaben.
(2) In jenen Tagen war Diebstahl ungeheuer verbreitet. Jeder stahl vom ändern. Die Herren der Gesellschaft stahlen legal, die ärmere Klasse illegal. Nichts war sicher, wenn es nicht bewacht wurde. Riesige Menschenmassen waren als Wächter zum Schütze des Eigentums angestellt. Die Häuser der Wohlhabenden waren eine Kombination von Banksafe und Festung. Die Aneignung der persönlichen Besitzgegenstände anderer durch unsere Kinder in heutiger Zeit ist als ein rudimentäres Überbleibsel des Stehldranges anzusehen, der in jenen frühere Zeiten allgemein war.
(3) Den Arbeitern wurden Beginn und Schluss der Arbeit durch das wilde, nervenzerreißende Kreischen von Dampfpfeifen angezeigt.
(4) Aufgabe der Trustanwälte war es, durch korrupte Methoden den geldrafferischen Neigungen der Trusts zu dienen. Hierauf bezieht sich, was Theodore Roosevelt, damals Präsident der Vereinigten Staaten, im Jahre 1905 sagte: »Wir alle wissen, dass, wie die Dinge zur Zeit liegen, viele der einflussreichsten und bestbezahlten Mitglieder der Gerichtsbarkeit in jedem Zentrum des Reichtums es sich zur besonderen Aufgabe machen, kühne und feindurchdachte Pläne auszuarbeiten, die ihre wohlhabenden Klienten, seien es einzelne Persönlichkeiten oder Korporationen, instand setzen, die Gesetze zu umgehen, die den Nutzen der großen Reichtümer zum Besten der Gesamtheit regulieren sollten.«
(5) Eine typische Illustration des mörderischen Ringens, das die ganze Gesellschaft umfasste. Die Menschen plünderten sich gegenseitig wie raubgierige Wölfe. Die großen Wölfe fraßen die kleinen, und in diesem Rudel war Jackson einer der allerkleinsten.
(6) Diese Bemerkung bezieht sich auf den im Jahre 1910 in den Vereinigten Staaten von den Sozialisten gestellten Antrag. Die Geschichte dieses Antrages zeigt deutlich das rasche Wachsen der Revolutionspartei. Es stimmten für sie im Jahre 1888:2068; 1902: 127713; 1904: 435040; 1908: 1108427 und 1910: 1688211.
(7) In dem schrecklichen Kampf jener Jahrhunderte befand sich niemand dauernd in Sicherheit, so viele Reichtümer er auch aufgehäuft haben mochte. Aus Sorge um das Wohlergehen der Angehörigen ersann man das System der Versicherungen. Uns erscheint heute in unserm vernunftbegabten Zeitalter eine derartige Versicherung lächerlich und primitiv. Damals aber waren Versicherungen eine sehr ernste Angelegenheit. Das Lustigste daran ist, dass das Kapital der Versicherungsgesellschaften oft geplündert wurde, und zwar gerade von den Beamten, denen seine Verwaltung anvertraut war.
Je mehr ich an Jacksons Arm dachte, desto tiefer war ich erschüttert. Ich stand einer Tatsache gegenüber. Zum ersten Male sah ich das Leben, wie es war. Meine Universitätsjahre, Studium und Kultur waren nichts Wirkliches gewesen. Ich hatte nur die Theorien des Lebens und der Gesellschaft kennen gelernt, die sich gedruckt alle sehr schön ausnahmen, jetzt aber hatte ich das Leben selbst gesehen. Jacksons Arm war eine Tatsache. Ernsts Worte: »Tatsachen, Verehrtester, unwiderlegbare Tatsachen!« klangen mir noch in den Ohren.
Es erschien mir ungeheuerlich, unmöglich, dass unsere ganze Gesellschaft auf Blut begründet sein sollte. Aber Jackson! Ich konnte nicht von ihm loskommen. Immer wieder flogen meine Gedanken zu ihm zurück, wie die Kompassnadel zum Pol. Er war ungeheuerlich behandelt worden. Man hatte ihm sein Blut nicht bezahlt, um eine höhere Dividende ausschütten zu können. Und ich kannte eine ganze Reihe glücklicher, wohlhabender Menschen, die diese Dividende erhalten und Nutzen aus Jacksons Blut gezogen hatten. Konnte ein Mann so ungeheuerlich behandelt werden, und konnte die Gesellschaft so sorglos ihren Weg wandeln, mochten dann nicht viele Menschen so ungeheuerlich behandelt worden sein? Mir fielen die Frauen in Chikago ein, von denen Ernst gesprochen hatte, die für neunzig Cents die Woche arbeiteten, die Kinder, die in den Spinnereien im Süden fronten. Und ich konnte ihre blassen, weißen Hände, aus denen das Blut herausgepresst war, sehen, wie sie die Stoffe für meinen Mantel herstellten. Und dann dachte ich wieder an die Sierra-Spinnereien und die Dividenden, die bezahlt worden waren, und deutlich sah ich das Blut Jacksons auf meinem Mantel. Ich konnte Jackson nicht entgehen. Immer wieder kehrten meine Gedanken zu ihm zurück.
Tief in meinem Innern hatte ich das Gefühl, dass ich am Rande eines Abgrunds stände. Mir war, als sollte mir eine neue, furchtbare Offenbarung des Lebens werden. Und nicht mir allein. Meine ganze Welt stürzte zusammen. Mein Vater zum Beispiel! Ich konnte den Einfluss Ernsts an ihm beobachten. Und der Bischof! Als ich ihn das letzte Mal sah, hatte er einem Kranken geglichen. Er befand sich in einer nervösen Erregung, und in seinen Augen lag ein unaussprechliches Grauen. Aus dem wenigen, das ich erfuhr, konnte ich ersehen, dass Ernst sein Versprechen, ihm die Hölle zu zeigen, gehalten hatte. Was für Höllenszenen der Bischof aber gesehen hatte, erfuhr ich nicht, denn vor Entsetzen schien er nicht darüber sprechen zu können.
Als ich einmal besonders stark fühlte, dass in meiner kleinen Welt und in allem um mich her das Unterste zu oberst gekehrt wurde, dachte ich, dass Ernst die Ursache sei; und ich dachte weiter: >Wir waren so glücklich und zufrieden, ehe er kam!< Aber im selben Augenblick empfand ich diesen Gedanken als Verrat an der Wahrheit, und Ernst erschien mir wie ein Verklärter, ein Wahrheitsapostel, der mit strahlendem Antlitz und der Furchtlosigkeit eines Engels Gottes für Wahrheit und Recht, für die Armen, Verlassenen und Unterdrückten kämpfte. Und dann stand er wieder in einer ändern Gestalt vor mir, in der Jesu! Auch Jesus hatte für die Verlassenen und Unterdrückten gegen die ganze bestehende Macht der Priester und Pharisäer Partei ergriffen. Und ich dachte an seinen Tod am Kreuze, und mein Herz krampfte sich zusammen, wenn ich an Ernst dachte. War auch er für das Kreuz bestimmt? Er, mit seiner klingenden, kriegerischen Stimme und all seinem herrlichen Mannesmut!
Und in diesem Augenblick wusste ich, dass ich ihn liebte, dass ich vor Verlangen, ihn zu trösten, verging. Ich dachte an sein Leben. Niedrig, rauh und armselig musste es gewesen sein. Und ich dachte an seinen Vater, der für ihn gelogen und gestohlen und sich zu Tode gearbeitet hatte. Und er selbst hatte als zehnjähriger Knabe in der Spinnerei arbeiten müssen! Mein Herz schien zerspringen zu wollen vor Sehnsucht, ihn mit meinen Armen zu umschlingen und sein Haupt an meiner Schulter zu bergen — dieses Haupt, das von so vielen Gedanken schmerzen musste, und das in einer freundlichen Stunde Ruhe, Linderung und Vergessen finden sollte!
Ich traf Rechtsanwalt Ingram bei einer kirchlichen Veranstaltung. Ich kannte ihn seit Jahren sehr gut. Ich entdeckte ihn hinter großen Palmen und Gummibäumen, ohne dass er indessen etwas davon ahnte. Er begegnete mir mit konventioneller Freundlichkeit und Höflichkeit. Er war immer sehr elegant, taktvoll, diplomatisch und aufmerksam und machte äußerlich den distinguiertesten Eindruck aller Herren in der Gesellschaft. Neben ihm sah selbst der verehrte Rektor der Universität unelegant und unbedeutend aus. Und doch sah ich, dass Ingram sich in derselben Lage befand wie die unbelesenen Maschinenarbeiter. Auch er war nicht Herr seines Handelns. Auch er war an das Rad gefesselt. Nie werde ich die Veränderung vergessen, die mit ihm vorging, als ich den Fall Jackson erwähnte. Seine lächelnde Freundlichkeit verschwand wie ein Geist. Ein entsetzter Ausdruck entstellte plötzlich sein liebenswürdiges Gesicht. Ich spürte dieselbe Unruhe, die ich bei dem Ausbruch von James Smith gefühlt hatte. Aber Herr Ingram fluchte nicht. Das war der sichtbare Unterschied, der zwischen dem Arbeiter und ihm bestehen blieb. Man rühmte ihn als einen Mann von Witz, aber jetzt war nichts davon zu bemerken.
Er blickte nur, ganz unbewusst, hin und her, um eine Gelegenheit zu finden, mir zu entschlüpfen. Aber er stand zwischen Palmen und Gummibäumen.
Nein, ihm war nicht wohl bei dem Klang von Jacksons Namen. Warum ich die Angelegenheit erwähnt hätte? Mein Scherz gefiel ihm nicht. Es wäre geschmacklos und sehr unüberlegt von mir. Ob ich nicht wüsste, dass sein Beruf keine persönlichen Gefühle zuließe? Die ließe er zu Hause, wenn er in sein Bureau ging. Hier hätte er nur berufliche Gefühle.
»Hätte Jackson Schadenersatz haben sollen?« fragte ich ihn.
»Gewiss«, antwortete er. »Das heißt, dies ist ein persönliches Gefühl. Aber das hat nichts mit der rechtlichen Seite der Sache zu tun.«
Er versuchte sich zu sammeln.
»Sagen Sie, hat Recht etwas mit Gesetz zu tun?« fragte ich.
»Sie haben einen falschen Ausdruck gebraucht«, antwortete er lächelnd.
»Macht?« fragte ich, und er nickte. »Und doch meinen wir, durch das Gesetz immer zu unserm Recht zu kommen.«
»Das ist eben das Paradoxe dabei«, entgegnete er. »Wir erhalten nicht Gerechtigkeit, sondern Recht.«
»Jetzt sprechen Sie beruflich, nicht wahr?« fragte ich.
Ingram errötete, errötete wirklich und warf wieder ängstliche Blicke um sich. Aber ich versperrte ihm den Weg und machte keine Anstalten, ihn freizugeben.
»Sagen Sie mir«, fragte ich, »wenn jemand seine persönlichen Gefühle mit dem Beruflichen vermengt, gibt das dann nicht eine Art geistiger Missgeburt?«
Ich erhielt keine Antwort. Herr Ingram hatte unrühmlich die Flucht ergriffen, wobei er eine Palme umwarf.
Nunmehr versuchte ich mein Heil bei den Zeitschriften. Ich schrieb einen ruhigen, zurückhaltenden, leidenschaftslosen Aufsatz über den Fall Jackson. Ich griff darin die Männer, mit denen ich gesprochen hatte, nicht an, erwähnte sie nur. Ich legte die Tatsachen dar, sprach von den langen Jahren, die Jackson in der Spinnerei gearbeitet, von der Anstrengung, die er gemacht hatte, um die Maschine vor Schaden zu bewahren, und von dem daraus folgenden Unfall, sowie von seiner jetzigen furchtbaren, bedauernswerten Lage. Weder die drei Tageszeitungen noch die beiden Wochenblätter unserer Stadt nahmen den Aufsatz an.
Ich wandte mich an Percy Layton. Er hatte sein Staatsexamen gemacht, war dann zum Journalismus übergegangen und verdiente sich augenblicklich seine Sporen als Reporter an der einflussreichsten der drei Zeitungen. Als ich ihn fragte, warum die Zeitungen nichts über Jackson und seinen Fall bringen wollten, lächelte er.
»Redaktionspolitik«, sagte er. »Damit haben wir nichts zu tun. Das ist Sache der Redakteure.« »Was heißt Politik?« fragte ich.
»Wir sind alle solidarisch mit den großen Unternehmungen«, erwiderte er. »Selbst wenn Sie die Anzeigengebühr bezahlen würden, könnten Sie etwas Derartiges nicht in die Zeitungen bringen. Und wenn einer von uns versuchen wollte, es einzuschmuggeln, würde er seine Stellung verlieren. Sie würden es nicht hineinbringen, und wenn Sie die zehnfache Gebühr zahlten.«
»Und wie steht es mit Ihrer eigenen Politik?« forschte ich. »Es sieht fast so aus, als hätten Sie auf Befehl Ihrer Arbeitgeber, die ihrerseits wieder den Befehlen der Unternehmungen gehorchen, die Wahrheit zu verdrehen.«
»Damit habe ich nichts zu tun.« Einen Augenblick schien ihm die Sache unbehaglich zu werden, dann aber sah er einen Ausweg, und seine Miene erhellte sich. »Und selbst schreibe ich nichts Unwahres. Ich halte mein Gewissen rein. Aber natürlich gibt es bei meinem Tagewerk viele Widerstände. Das gehört nun einmal dazu, sehen Sie«, schloss er naiv.
»Aber Sie hoffen doch, eines Tages am Redaktionstisch zu sitzen und die Politik zu leiten.«
»Bis dahin bin ich abgehärtet«, lautete seine Erwiderung.
»Da Sie heute noch nicht abgehärtet sind, bitte ich Sie, mir Ihre aufrichtige Meinung über die allgemeine Redaktionspolitik zu sagen.«
»Ich denke nicht darüber nach«, antwortete er schnell. »Man kann es sich nicht leisten, über die Stränge zu schlagen, wenn man als Journalist Erfolg haben will. So viel habe ich jedenfalls schon gelernt.«
Er nickte weise mit seinem jungen Kopfe.
»Aber das Recht?« beharrte ich.
»Sie verstehen das Spiel nicht. Alles ist natürlich recht, wenn es auf die rechte Weise gebraucht wird. Sehen Sie das nicht ein?«
»Köstlich unklar«, murmelte ich; aber das Herz schmerzte mir um seine Jugend, und ich fühlte, dass ich es herausschreien oder in Tränen ausbrechen musste.
Ich fing an, die äußere Schale der Gesellschaft, in der ich lebte, zu durchschauen und die schreckliche Wirklichkeit dahinter zu entdecken. Es schien eine geheime Verschwörung gegen Jackson zu bestehen, und mir tat der jammernde Anwalt leid, der seinen Prozess so unrühmlich geführt hatte. Und diese heimliche Verschwörung wuchs beständig. Sie richtete sich nicht gegen Jackson allein, sondern gegen jeden Arbeiter, der in der Fabrik zum Krüppel wurde. Und wenn gegen jeden Arbeiter in den Spinnereien, warum nicht auch gegen jeden in jeder ändern Fabrik? Wirklich, war es nicht überall so, in der ganzen Industrie?
Verhielt es sich aber so, dann war die Gesellschaft eine Lüge. Ich schreckte vor meinen eigenen Schlüssen zurück. Es war zu furchtbar und abscheulich, um wahr zu sein. Aber Jackson und Jacksons Arm und das Blut, das mein Kleid befleckte und von meinem eigenen Dache herabtropfte? Und es gab viele Jacksons — Hunderte allein in den Spinnereien, wie Jackson selbst gesagt hatte. Ich konnte Jackson nicht entfliehen.
Ich suchte Herrn Wickson und Herrn Pertonwaithe, die beiden Hauptaktionäre der Sierra-Spinnereien, auf. Aber sie konnte ich nicht zum Wanken bringen wie die beiden Maschinisten, die in ihren Diensten standen. Ich sah, dass ihre Moral der der übrigen Gesellschaft überlegen war. Es war eine Moral, die ich die aristokratische oder Herrenmoral(1) nennen möchte.
Sie redeten weitschweifig über Politik und identifizierten Politik und Recht. Mit mir sprachen sie väterlich, sie behandelten mich gönnerhaft mit Rücksicht auf meine Jugend und Unerfahrenheit. Sie waren die Hoffnungslosesten, die ich in meiner Sache aufgesucht hatte. Sie waren durchaus überzeugt, dass die Spinnereien richtig geleitet wurden. Darüber gab es keine Frage, keine Erörterung. Sie waren überzeugt, dass sie die Führer der Gesellschaft waren und der großen Masse das Glück brachten. Sie entwarfen ergreifende Bilder von dem Elend, das über die Arbeiter kommen musste, wenn sie beschäftigungslos wurden, was sie allein durch ihre Weisheit verhüteten.
Gleich nach der Begegnung mit diesen beiden Herren traf ich Ernst und berichtete ihm, was ich erfahren hatte. Er sah mich befriedigt an und sagte:
»Wirklich ausgezeichnet! Sie beginnen auf eigene Faust nach Wahrheit zu schürfen. Es ist Ihre eigene, empirische Verallgemeinerung, und sie stimmt. Kein Mensch an der Industriemaschine ist Herr seines Handelns, außer den Großkapitalisten, und die sind es letzten Endes auch nicht. Sie sehen, die Herren sind vollkommen überzeugt, dass sie in allem, was sie tun, recht haben. Das ist der Gipfelpunkt der Absurdität in der ganzen Situation. Sie sind so tief in ihre menschliche Natur verstrickt, dass sie nichts tun können, ohne es für Recht zu halten. Sie brauchen eine Sanktion für ihr Tun.
»Wenn sie etwas tun wollen, etwas Geschäftliches, beraten sie, bis in ihrem Hirn irgendein religiöser oder ethischer, wissenschaftlicher oder philosophischer Begriff entsteht, der ihnen einen Rechtsstandpunkt verleiht. Und dann machen sie sich daran und wissen nicht, dass der Wunsch der Vater des Gedankens ist, eine der Schwächen der menschlichen Seele. Was sie auch tun, sie finden immer eine Sanktion dafür. Eine der angenehmsten und unumstößlichsten Fiktionen, die sie geschaffen haben, ist, dass sie der übrigen Menschheit an Weisheit und Tüchtigkeit überlegen sind. Daher ihre Anmaßung, dass ihnen die Aufsicht über Brot und Butter der übrigen Menschheit zusteht. Sie sind es auch, die die Lehre vom göttlichen Recht der Könige wieder zum Leben erweckt haben — in ihrem Fall der Handelskönige(2).
Die Schwäche ihrer Stellung liegt darin, dass sie nur Geschäftsleute sind. Sie sind keine Philosophen, sie sind weder Biologen noch Soziologen. Wären sie es, so würde natürlich alles gut sein. Ein Geschäftsmann, der zugleich Biologe und Soziologe wäre, würde annähernd das Richtige für die Menschheit zu tun wissen. Aber außerhalb des Reiches ihrer Geschäfte sind diese Männer stumpfsinnig. Sie kennen nur ihre Geschäfte. Sie kennen weder die Gesetze noch die Gesellschaft, und doch machen sie sich zu Herren über das Geschick der hungernden Millionen und der übrigen Millionen dazu. Eines Tages wird die Geschichte auf ihre Kosten schmerzlich lachen.«
Ü ber den Erfolg meiner Unterredung mit Frau Wickson und Frau Pertonwaithe war ich nicht weiter überrascht. Sie waren Damen der Gesellschaft(3). Sie bewohnten Paläste. Sie besaßen viele Häuser, die über das Land, im Gebirge, an den Seen und am Meere verstreut waren. Sie hatten ein Heer von Bedienten, und ihre soziale Betätigung war verwirrend. Sie begönnerten die Universitäten und die Kirchen, und namentlich die Geistlichen lagen in demütiger Unterwürfigkeit vor ihnen auf den Knien(4). Sie waren Mächte, diese beiden Frauen, und das waren sie kraft ihres Geldes. Mit ihrem Gelde förderten sie in bemerkenswertem Maße die Gedanken, wie ich bald von Ernst lernen sollte.
Sie ahmten ihre Männer nach und redeten in den gleichen hohen Tönen über die Politik und über die Pflichten und die Verantwortlichkeit der Reichen. Sie hatten dieselbe Moral wie ihre Männer — die Moral ihrer Klasse, glatte Phrasen, die sie selbst nicht verstanden. Als ich ihnen von der bedauernswerten Lage der Familie Jackson erzählte und meine Verwunderung aussprach, dass sie nichts für den Mann getan hätten, wurden sie aufgebracht. Ich erfuhr, dass sie niemand für Belehrungen über ihre sozialen Pflichten dankbar seien. Als ich sie rundweg bat, Jackson zu helfen, lehnten sie es ebenso rundweg ab. Das Merkwürdige war, dass sie es fast mit den gleichen Worten ablehnten, und das, obgleich ich sie jede für sich aufsuchte, und keine von den beiden wusste, dass ich die andere besucht hatte oder besuchen wollte. Beide antworteten, dass sie sich freuten, es einmal deutlich aussprechen zu können: Nie würde sie eine Prämie auf Fahrlässigkeit aussetzen, und ebenso wenig wollten sie durch Unterstützung die Armen verleiten, sich in die Maschine zu werfen(5).
Und sie meinten es aufrichtig, die beiden Frauen. Sie waren trunken von der Überzeugung ihrer Überlegenheit und der ihrer Klasse. Für alles, was sie taten, fanden sie eine Sanktion in ihrer Klassenmoral. Als ich Frau Pertonwaithes Haus verließ, warf ich noch einen Blick zurück und dachte an Ernsts Worte, dass auch sie an die Maschine gefesselt seien, wenn sie auch obendrauf säßen.
(1) Ehe Avis Everhard geboren war, schrieb John Stuart Mill in seinem Essay »Über Freiheit«: Wo auch immer es eine aufsteigende Klasse gibt, entsteht ein großer Teil der Moral aus den Interessen und dem Überlegenheitsgefühl dieser Klasse.
(2) Im Jahre 1902 der christlichen Zeitrechnung machte sich der Präsident des Anthracit-Kohlentrusts, George F. Baer, durch die Verkündung folgender Prinzipien bemerkbar: »Die Rechte und Interessen des Arbeiters werden durch die Männer geschützt, denen Gott in seiner unendlichen Weisheit die Besitzinteressen des Landes in die Hände gegeben hat.«
(3) »Gesellschaft«. Hier mit einer Einschränkung zu verstehen; dieser Ausdruck war damals gebräuchlich für die Drohnen, die nicht arbeiteten, sondern sich nur aus den Honigwaben der Arbeiter den Wanst füllten. Weder Geschäftsleute noch Arbeiter hatten Zeit für die »Gesellschaft«. Die Gesellschaft war eine Schöpfung der faulen Reichen, die nicht arbeiteten und sich auf diese Weise die Zeit vertrieben.
(4) »Bringt uns euer beflecktes Geld«, lautete der Wahlspruch der Kirche in dieser Periode.
(5) In der Nummer vom 19. August 1906 des »Outlook«, einer kritischen Wochenschrift, die in dieser Periode erschien, wird berichtet, wie ein Arbeiter seinen Arm verlor, und zwar unter Umständen, die denen des von Avis Everhard erzählten Falles ganz ähnlich sind.
Ernst besuchte uns jetzt oft. Es war nicht nur mein Vater, und es waren auch nicht allein die Streitfragen, die bei Gesellschaften an unserm Tisch erörtert wurden, welche ihn anzogen, vielmehr schmeichelte ich mir damals, teilweise selbst die Veranlassung zu seinen Besuchen zu sein, und bald darauf erfuhr ich, dass meine Vermutung richtig gewesen war. Nie hat es einen Liebhaber gegeben wie Ernst Everhard. Sein Blick und sein Händedruck wurden, wenn möglich, noch fester und sicherer, und die Frage, die von Anfang an in seinen Augen gestanden, noch gebieterischer.
Mein erster Eindruck von ihm war ungünstig gewesen. Dann hatte ich mich von ihm angezogen gefühlt. Dann wieder hatte er mich mit seinen brutalen Angriffen auf meine Klasse abgestoßen. Als ich jedoch eingesehen hatte, dass er meine Klasse nicht verleumdet hatte, dass alles Bittere, das er von ihr sagte, berechtigt war, fühlte ich mich wieder zu ihm hingezogen. Er wurde mein Orakel. Um meinetwillen riss er der Gesellschaft die Maske vom Gesicht und gewährte mir Einblicke in die Wirklichkeit, die zwar unerfreulich, aber unbestreitbar richtig waren.
Wie gesagt: Nie hat es einen Liebhaber gegeben wie ihn. Kein Mädchen konnte bis zu ihrem fünfundzwanzigsten Lebensjahr in einer Universitätsstadt leben, ohne Liebeserfahrungen gemacht zu haben. Auch ich hatte meine Verehrer gehabt, und zwar bartlose Studenten, ergraute Professoren und Sportsleute jeder Art. Aber nicht einer von ihnen hatte mir den Hof gemacht, wie Ernst es tat. Ehe ich es wusste, hatte er mich umarmt. Ehe ich Einspruch erheben oder es verhindern konnte, hatten seine Lippen sich auf die meinen gepresst. Seinem Ernst gegenüber hätte konventionelle Geziertheit lächerlich gewirkt. Sein glänzendes, unwiderstehliches Ungestüm riss den Boden unter mir fort. Er machte mir keinen Antrag. Er umschloss mich, küsste mich und hielt es dann für abgemacht, dass wir heiraten sollten. Das war keine Frage. Die einzige Frage — sie entstand erst später — war, wann wir heiraten sollten.
Es war beispiellos. Es war phantastisch. Aber, in Übereinstimmung mit Ernsts Wahrheitsbeweis: es wirkte. Ich vertraute ihm mein Leben an. Und dies Vertrauen war Glück verheißend. Dennoch war mir oft in den ersten Tagen unserer Liebe bange vor der Zukunft, wenn ich an die Heftigkeit und das Ungestüm seiner Liebe dachte. Aber diese Furcht war unbegründet. Nie ist eine Frau mit einem edleren, zartfühlenderen Gatten beglückt worden. Sein Zartgefühl und sein Ungestüm waren eine seltsame Mischung, ähnlich der von Verlegenheit und Ungezwungenheit in seinem Benehmen. Diese linkische Verlegenheit! Er überwand sie nie, und sie war köstlich. Sein Benehmen in unsern Salons war das eines ängstlichen Bullen in einem Porzellanladen(1) . In dieser Zeit schwanden auch meine letzten Zweifel an meiner Liebe zu ihm (es waren höchstens unbewusste Zweifel). Im »Klub der Wissbegierigen« bot Ernst an einem prachtvollen Kampfabend den Herren in ihrem Lager Trotz. Die »Wissbegierigen« waren der exklusivste Klub an der pazifischen Küste. Er war eine Gründung von Fräulein Brentwood, einer sehr reichen alten Jungfer, und war für sie Gatte, Familie und Spielzeug. Seine Mitglieder waren die reichsten Leute der Stadt, die Dollarfürsten, denen, um dem Klub eine intellektuelle Note zu geben, natürlich einzelne Gelehrte zugesellt waren.
Die »Wissbegierigen« hatten kein Klubhaus. Ein derartiger Klub war es nicht. Die Mitglieder trafen sich einmal monatlich in einem ihrer Privathäuser, um einen Vortrag zu hören. Die Vortragenden erhielten gewöhnlich, wenn auch nicht immer, ein Honorar. Wenn ein Chemiker in New York eine neue Entdeckung, sagen wir Radium, machte, wurden ihm alle Reisekosten quer über den Kontinent sowie eine fürstliche Vergütung für seinen Zeitverlust bezahlt. Dasselbe war der Fall mit einem heimgekehrten Nordpolfahrer und einem erfolgreichen Schriftsteller oder Künstler. Gäste wurden nicht zugelassen, weil die Wissbegierigen die Politik verfolgten, nichts von ihren Diskussionen in die Zeitungen gelangen zu lassen. Daher konnten Staatsmänner — und es hatte solche Gelegenheiten gegeben — ganz offen ihre Meinungen aussprechen.
Vor mir liegt ein zerknitterter Brief, den Ernst mir vor zwanzig Jahren geschrieben hat, und dem ich folgendes entnehme:
»Dein Vater ist Mitglied der Wissbegierigen. Du hast also Zutritt. Komm daher am nächsten Dienstag abend. Ich verspreche dir eine der schönsten Stunden deines Lebens. Als du seinerzeit die Herren sprachst, war es dir nicht möglich, sie aufzurütteln. Wenn du jetzt kommst, werde ich es für dich tun. Ich will sie knurren lassen wie die Wölfe. Du hast sie nur bei ihrer Moral gepackt. Dabei fühlen sie sich nur um so selbstgefälliger und erhabener. Ich werde ihren Geldbeutel bedrohen. Das wird die Wurzeln ihres Wesens erschüttern. Wenn du kommst, wirst du den Höhlenmenschen im Smoking über einem Knochen knurren und zuschnappen sehen. Ich verspreche dir eine prachtvolle Katzenmusik und einen tiefen Einblick in das Wesen der Bestien.
Sie haben mich eingeladen in der Absicht, mich zu zerreißen. Es ist die Idee von Fräulein Brentwood, die sie nur ungeschickt verbarg, als sie mich einlud. Sie hat ihnen schon den Vorgeschmack von diesem Spaß gegeben. Man schwelgt in dem Gedanken, einen vertrauensvollen, höflichen Weltverbesserer zu sehen zu bekommen. Fräulein Brentwood hält mich für so sanft wie ein Kätzchen und so gutmütig und dumm wie eine Familienkuh. Ich leugne nicht, dass ich ihr geholfen habe, diesen Eindruck zu gewinnen. Zuerst war sie sehr vorsichtig, bis sie meine Harmlosigkeit festgestellt hatte. Ich bekomme ein hübsches Honorar — zweihundert-fünfzig Dollar —, wie es einem Manne zukommt, der, wenn auch bei den Radikalen, eine leitende Stellung einnimmt. Ich muss auch im Smoking kommen. Das ist Zwang. Ich habe noch nie so etwas angehabt und werde mir wohl irgendwo ein solches Möbel leihen müssen. Aber um eine solche Gelegenheit bei den Wissbegierigen zu erhalten, würde ich noch mehr tun.«
An diesem Abend versammelte sich der ganze Klub im Hause Pertonwaithe. Der große Saal stand voller Stühle und alles in allem müssen zweihundert Wissbegierige dagewesen sein, um Ernst zu hören. Es waren wirklich die Löwen der Gesellschaft. Ich machte mir das Vergnügen, in Gedanken die Summe des Vermögens, das diese Leute repräsentierten, zu veranschlagen; sie lief in die Hunderte Millionen. Und dabei waren die Besitzer nicht untätig. Es waren Geschäftsleute, die den regsten Anteil am industriellen und politischen Leben nahmen.
Wir hatten alle Platz genommen, als Fräulein Brentwood Ernst hereinführte. Alles wandte sich gleichzeitig nach der Seite des Raumes, wo er sprechen sollte. Er war im Smoking und sah prachtvoll aus mit seinen breiten Schultern und seinem königlichen Kopfe. Über seinen Bewegungen lag wieder der leichte, unverkennbare Hauch von Verlegenheit.
Ich glaube fast, ich hätte ihn schon deswegen allein lieben können. Als ich ihn ansah, empfand ich eine große Freude. Ich fühlte wieder den Pulsschlag seiner Hand in der meinen und die Berührung seiner Lippen; und so groß war mein Stolz, dass ich am liebsten aufgestanden wäre und der Versammlung zugerufen hätte: »Er ist mein! Er hat mich in seinen Armen gehalten, und ich, ich allein, habe seine Seele bis zur Grenze ihrer Möglichkeiten und ihrer königlichen Gedanken erfüllt!«
Gleich bei seinem Eintritt stellte Fräulein Brentwood ihn Herrn Van Gilbert vor, der, wie ich erfuhr, den Vorsitz führen sollte. Herr Van Gilbert war ein großer Trustanwalt und dazu ungeheuer reich. Seine geringste Honorarforderungbetrug hunderttausend Dollar. Er kannte das Gesetz in-und auswendig. Es war eine Puppe, mit der er spielen konnte. Er knetete es wie Lehm, verdrehte und verzerrte es wie ein chinesisches Spielzeug in jeder gewünschten Richtung. Seine Erscheinung sowie seine Redeweise waren altmodisch, an Phantasie, Kenntnissen und Begabungen aber nahm er es mit dem Jüngsten auf. Seine erste Berühmtheit hatte er erlangt, als er das Shardwellsche Testament mit Erfolg anfocht(2). Allein hierfür erhielt er ein Honorar von einer halben Million Dollar. Dann war er wie eine Rakete aufgestiegen. Man nannte ihn oft den größten Anwalt — Trustanwalt natürlich — des Landes. Und wenn man die Namen der drei größten Anwälte der Vereinigten Staaten nannte, durfte der seine nicht fehlen.
Er erhob sich und stellte Ernst mit einigen wohlgesetzten Worten vor, die einen leicht ironischen Unterton enthielten, Bei der Vorstellung dieses sozialen Reformators und Angehörigen der arbeitenden Klasse war Van Gilbert geistreich und ironisch, und die Zuhörer lächelten. Das ärgerte mich, und ich sah Ernst an. Sein Anblick ärgerte mich noch mehr. Er schien die feinen Anspielungen nicht übel zu nehmen, ja, noch schlimmer, gar nicht zu verstehen. Höflich, dumm und schläfrig saß er da. Er sah direkt stumpfsinnig aus, und einen Augenblick stieg der Gedanke in mir auf: Wie, wenn die imposante Versammlung von Macht und Geist ihn eingeschüchtert hätte? Dann aber lächelte ich. Mich konnte er nicht narren. Die ändern aber narrte er, wie er Fräulein Brentwood genarrt hatte. Sie setzte sich auf einen Stuhl in der ersten Reihe, wandte sich mehrmals zum einen oder ändern ihrer Gesinnungsgenossen und lächelte beifällig über deren Bemerkungen.
Als Herr Van Gilbert geendet hatte, erhob Ernst sich und begann zu sprechen. Er tat es mit leiser Stimme, bescheiden und zurückhaltend, und seine Miene zeigte deutlich seine Schüchternheit. Er sprach von seiner Herkunft aus der arbeitenden Klasse und von dem Schmutz und Elend seiner Umgebung, wo Körper und Geist gleicherweise Hunger und Qualen erlitten. Er schilderte seine Bestrebungen und Ideale und seine Vorstellung von dem Paradiese, in dem die oberen Klassen lebten. Er sagte:
»Ich wusste, dass dort Selbstlosigkeit, ein reines edles Denken und freier Geist herrschten. Ich wusste das alles, denn ich las die Romane der >Seebücherei< (3), in denen, mit Ausnahme der Bösewichte und Abenteurer, jeder Mann und jede Frau nur die wundervollsten Gedanken denkt, die herrlichste Sprache redet und die glorreichsten Taten vollbringt. Kurz, es war mir klar wie die Sonne, dass bei ihnen alles fein, edel und schön war, dass sie alles hatten, was dem Leben Anstand und Würde verlieh, alles, was das Leben lebenswert erscheinen ließ und den Menschen für seine Mühe und sein Elend entschädigte.«
Er fuhr fort und schilderte sein Leben in der Fabrik, seine Lehrzeit in der Hufschmiede und seine Begegnung mit den Sozialisten. Unter ihnen, sagte er, hätte er scharfen Verstand und glänzenden Geist gefunden, Verkünder des Evangeliums, die gescheitert wären, weil ihr Christentum zu groß für die Anschauungen der Kapitalisten und Professoren gewesen, und die daher von der herrschenden Klasse unter dem Rade ihres Kastengeistes zermalmt worden wären. Die Sozialisten wären Revolutionäre, sagte er, die danach strebten, die vernunftwidrige Gesellschaft der Gegenwart umzustoßen, und die fähig wären, die vernunftgemäße Gesellschaft der Zukunft aufzubauen. Und noch vieles andere sagte er, das hier niederzuschreiben zu weit führen würde, aber nie werde ich vergessen, wie er das Leben der Revolutionäre schilderte. Alle Zurückhaltung schwand, seine Stimme wurde stark und sicher und glühte wie er selbst und die Gedanken, die er zum Ausdruck brachte. Er sagte:
»Bei den Revolutionären fand ich warmes Vertrauen zur Menschheit, glühenden Idealismus, edle Selbstlosigkeit, Erhebung und Märtyrertum alle glänzenden, scharfen Eigenschaften des Geistes. Hier war das Leben rein, edel und lebendig. Er stand unter dem Einfluss großer Seelen, die Körper und Geist über Dollar und Cent erhoben, und denen das Jammern hungernder Kinder in schmutzigen Gassen mehr bedeutete als aller Pomp und alles Streben nach kommerzieller Expansion und Weltherrschaft. Alles um mich her war edler Wille und heldenmütiges Handeln, meine Tage und Nächte waren Sonnenschein und Sternenglanz, Licht und Tau, und vor meinen Augen stand in ewigem Flammenschein der heilige Gral, der Gral Christi, dieses barmherzigen Menschen, der so schmerzlich litt und misshandelt wurde, um doch schließlich erlöst zu werden.«
Wie schon einmal zuvor, so stand Ernst auch jetzt verklärt vor mir. Auf seiner Stirn strahlte das Göttliche, das in ihm war, und mehr noch leuchteten seine Augen aus diesem Strahlenkranz, der ihn wie ein Mantel umhüllte. Aber die andern sahen diesen Strahlenkranz nicht, und ich dachte, dass vielleicht die Tränen, die ich vor Liebe und Freude weinte, meine Augen getrübt hätten. Jedenfalls war Herr Wickson, der hinter mir saß, gänzlich unangefochten, denn ich hörte ihn laut und höhnisch sagen: »Utopie(4).«
Ernst erzählte nun von seinem Aufstieg in der Gesellschaft, bis er schließlich mit Mitgliedern der oberen Klassen in Berührung war und Schulter an Schulter neben den Männern stand, die die höchsten Stellungen einnahmen. Dann war seine Enttäuschung gekommen, und diese Enttäuschung schilderte er in Ausdrücken, die für seine Zuhörer nicht gerade schmeichelhaft waren. Der überall herrschende Schmutz hatte ihn überrascht, das Leben hatte sich nicht als schön und freundlich erwiesen. Er war entsetzt über den Eigennutz, dem er begegnete, und mehr noch überraschte ihn der Mangel an geistigem Leben. Frisch von den Revolutionären gekommen, empörte ihn der geistige Stumpfsinn der herrschenden Klasse. Und dazu hatte er erkannt, dass sie alle, Männer und Frauen, trotz ihren herrlichen Kirchen und gut gelohnten Geistlichen in höchstem Maße materiell waren. Zwar schwatzten sie liebenswürdig über kleine Ideale und ebenso kleine Moralitäten, die ihnen teuer waren, aber trotz diesem Geschwätz war ihr Leben im Grunde rein materialistisch. Und sie kannten keine wirkliche Moral — zum Beispiel das, was Christus gepredigt hatte, was aber jetzt nicht mehr gepredigt wurde.
»Ich traf Männer«, sagte Ernst, »die in leidenschaftlichen Schriften den Friedensfürsten gegen den Krieg anriefen, und die gleichzeitig ihren Wächtern(5) Gewehre in die Hand gaben, um Streikende in ihren eigenen Fabriken niederzuschießen. Ich traf Männer, die sich entrüstet von den rohen Boxkämpfen fernhielten, aber gleichzeitig an der Fälschung von Nahrungsmitteln teilhatten, wodurch jährlich mehr Säuglinge getötet wurden, als der blutige Herodes je getötet hat. Dieser feine aristokratisch aussehende Herr war der stumme Direktor und das Werkzeug von Trusts, die heimlich Witwen und Waisen plünderten. Jener Ehrenmann, der kostbare Bücher sammelte, und als Mäzen der Literatur auftrat, zahlte dem Zeitungsverleger mit seinen Hängebacken und seiner finsteren Miene Schmiergelder. Dieser Redakteur, der Anzeigen über Geheimmittel brachte, nannte mich einen schurkischen Demagogen, weil ich ihn aufforderte, in seiner Zeitung die Wahrheit über diese Geheimmittel(6) zu schreiben. Dieser Mann, der erhaben und ernst über die Schönheit des Idealismus und die Güte Gottes sprach, hatte soeben erst seine Teilhaber um ihren Geschäftsgewinn betrogen. Jener, eine Stütze der Kirche und ein wertvoller Förderer der Negermission, ließ seine Ladenmädchen zehn Stunden täglich für einen Hungerlohn arbeiten und trieb sie geradezu der Prostitution in die Arme. Dieser, der Lehrstühle an Universitäten dotierte und prächtige Kapellen erbaute, leistete um Dollars und Cents einen Meineid. Jener Eisenmagnat brach sein Wort als Bürger, Ehrenmann und Christ, indem er einen geheimen Rabatt bewilligte, und das tat er oft. Dieser Senator war das Werkzeug, der Sklave, das Püppchen eines brutalen, ungebildeten Großfabrikanten(7). So wurde denn der eine Direktor und der andere höchster Gerichtsherr. Und sie fuhren auf Freikarten mit der Eisenbahn, der schlaue Kapitalist war Herr der Fabriken, ihres Chefs und der Eisenbahn, die die Freikarten ausgab. Und so befand ich mich denn statt im Paradiese in der trockenen Wüste des Kommerzialismus. Abgesehen vom Geschäft fand ich nichts als Stumpfsinn. Ich fand niemand, der sauber, vornehm und geistig rege war, wenn ich auch viele fand, die rege waren — in ihrer Verderbnis. Was ich fand, war ungeheuerliche Selbstsucht und Herzlosigkeit und ein plumper, gieriger, praktisch zum Ausdruck gebrachter Materialismus.«
Noch vieles erzählte Ernst von ihnen und von seiner Enttäuschung. In geistiger Beziehung hätten sie ihn gelangweilt, in moralischer ihn abgestoßen, so dass er glücklich gewesen wäre, als er zu seinen Revolutionären hätte zurückkehren können, die sauber, vornehm, geistig rege, kurz in jeder Beziehung das Gegenteil von den Kapitalisten seien.
»Und jetzt«, sagte er, »lassen Sie mich über die Revolution zu Ihnen sprechen.«
Zuerst muss ich aber doch sagen, dass seine schrecklichen Schmähungen sie nicht im geringsten gerührt hatten. Ich blickte sie an und sah, dass bei allem, was er ihnen vorgeworfen hatte, ihre erhabene Selbstgefälligkeit unverändert geblieben war, und ich dachte an das, was er mir gesagt hatte, dass kein Angriff auf ihre Moral sie aus der Fassung bringen könnte. Immerhin bemerkte ich, dass die Kühnheit seiner Sprache einigen Eindruck auf Fräulein Brentwood gemacht hatte. Sie sah erschrocken und beunruhigt aus.
Ernst begann mit der Beschreibung der revolutionären Armee, und als er ihre ziffernmäßige Stärke (nach den in den verschiedenen Ländern abgegebenen Stimmen) nannte, begann die Versammlung unruhig zu werden. Ihre Gesichter zeigten Besorgnis, und ihre Lippen pressten sich zusammen. Jetzt endlich spürten sie, dass der Kampf ausgebrochen war. Er schilderte die internationale Organisation der Sozialisten, die die anderthalb Millionen in den Vereinigten Staaten mit den mehr als dreiundzwanzig Millionen der übrigen Welt vereinigte.
»Eine solche revolutionäre Armee«, sagte er, »fünfundzwanzig Millionen stark, ist etwas, das die Herrscher und die herrschenden Klassen zum Nachdenken bringen sollte. Die Losung dieser Amee ist: >Keinen Pardon! Wir wollen alles, was euch gehört. Nicht weniger kann uns befriedigen als euer ganzer Besitz. In unsere Hände wollen wir die Zügel der Macht, das Schicksal der Menschheit nehmen. Hier sind unsere Hände: starke Hände. Wir wollen eure Herrschaft, eure Paläste, eure Herrlichkeit nehmen, und dann sollt ihr für euer Brot arbeiten wie der Bauer auf dem Felde, wie der darbende, kümmerliche Schreiber in euern Städten. Hier sind unsere Hände: starke Hände!<«
Und während er so sprach, hob er von seinen herrlichen Schultern seine mächtigen Arme, und die Hufschmiedhände krallten sich wie Adlerklauen in die Luft. Er stand da wie der Geist der regierenden Arbeit, der die Hände ausstreckte, um seine Zuhörer zu zerreißen und zu zermalmen.
Ich gewahrte, wie die Zuhörer vor dieser wirklichen, mächtigen und drohenden Revolutionsgestalt kaum merkbar zusammenzuckten. Das heißt, nur die Frauen erschraken, und auf ihren Gesichtern lag Angst. Nicht so die Männer. Sie gehörten zu jenen Reichen, die nicht die Hände in den Schoß legten; sie waren tatkräftig, sie waren Kämpfer. Ihre Stimmen erhoben sich zu einem leisen Summen, das einen Augenblick durch den Raum zog und dann verhallte. Es war der Vorbote des Knurrens, und ich sollte es an diesem Abend noch öfters hören — dieses Zeichen des Tieres im Menschen, die ernsteste seiner ursprünglichen Leidenschaften. Dabei waren sie sich dessen nicht bewusst. Es war das Knurren des Tieres, das das Tier, ohne es zu wissen, hören ließ. Und als ich in diesem Augenblick die Härte in ihren Gesichtern und die Kampfgier in ihren Augen lodern sah, sagte ich mir, dass es nicht leicht sein würde, ihnen die Weltherrschaft zu entreißen.
Ernst fuhr in seinem Angriff fort. Er erklärte, im Namen der anderthalb Millionen Revolutionäre in den Vereinigten Staaten zu sprechen, wenn er der kapitalistischen Klasse den Vorwurf machte, die Menschheit schlecht geführt zu haben. Er entwarf ein flüchtiges Bild von den ökonomischen Verhältnissen des Höhlenmenschen und der heutigen wilden Völker und betonte, dass sie weder Werkzeuge noch Maschinen, sondern nur ihre natürlichen Kräfte zur Arbeitsleistung besäßen. Dann schilderte er die Entwicklung der Maschine und der sozialen Organisation, derzufolge die Produktionskraft eines zivilisierten Menschen heutzutage tausendmal größer als die eines Wilden sei.
»Fünf Menschen«, sagte er, »können das Brot für Tausende backen. Ein Mensch kann für zweihundertfünfzig Menschen baumwollene, für dreihundert Menschen wollene Kleider und für tausend Menschen Schuhe und Stiefel produzieren. Hieraus sollte man den Schluss ziehen können, dass der zivilisierte Mensch bei richtiger Leitung der Gesellschaft weit besser daran sein müsste als der Höhlenmensch. Aber ist er es? Wir wollen sehen. In den Vereinigten Staaten leben heute fünfzehn Millionen Menschen in Armut(8); und unter Armut ist der Zustand gemeint, in dem die normale Arbeitsfähigkeit unter Nahrungsmangel und schlechten Wohnungsverhältnissen leidet. In den Vereinigten Staaten arbeiten heute trotz Ihrer so genannten Arbeitergesetzgebung drei Millionen Kinder(9). In zwölf Jahren hat sich ihre Zahl verdoppelt. Und bei der Gelegenheit möchte ich Sie, die Führer der Gesellschaft fragen, warum Sie nicht die Ziffern der Zählung von 1910 veröffentlicht haben? Und ich will die Antwort für Sie erteilen: Sie fürchteten sich. Die Darstellung dieses Elends würde die Revolution, die sich gerade jetzt vorbereitet, beschleunigt haben.
Doch zurück zu meiner Anklage: Wenn die Produktionskraft des modernen Menschen tausendmal größer ist als die des Höhlenbewohners, wie kommt es dann, dass es heute in den Vereinigten Staaten fünfzehn Millionen Menschen gibt, die weder genügende Wohnung noch hinreichende Nahrung haben? Wie kommt es dann, dass heute in den Vereinigten Staaten drei Millionen Kinder arbeiten? Meine Anklage ist berechtigt. Die kapitalistische Klasse hat Misswirtschaft getrieben. Angesichts der Tatsache, dass der moderne Mensch armseliger lebt als der Höhlenbewohner, obwohl seine Produktionskraft tausendmal größer ist, angesichts dieser Tatsache ist kein anderer Schluss möglich, als dass die kapitalistische Klasse Misswirtschaft getrieben hat, dass Sie, meine Herren, verbrecherisch und selbstsüchtig gewirtschaftet haben. Und auf diese Anklage können Sie mir heute abend, Angesicht zu Angesicht, ebenso wenig antworten, wie Ihre ganze Klasse den anderthalb Millionen in den Vereinigten Staaten. Sie können mir nicht antworten. Bitte, ich fordere Sie dazu auf. Und mehr noch, ich wage es, Ihnen zu sagen, dass Sie mir auch nicht antworten werden, wenn ich geendet habe. In diesem Punkt werden Sie schweigen, wenn Sie auch über andere Dinge genug reden werden.
Sie haben in Ihrer Verwaltung Fehler über Fehler begangen. Sie haben aus der Zivilisation ein Schlachthaus gemacht, Sie sind blind und habgierig gewesen. Sie sind -wie auch heute - ohne Erröten in den Hallen unserer gesetzgebenden Körperschaften aufgestanden und haben erklärt, dass ohne die Arbeit von Kindern ein Gewinn nicht zu erzielen sei. Wenn Sie mir nicht glauben, bitte, es ist alles urkundlich festgelegt. Sie haben Ihr Gewissen mit Phrasen über schöne Ideale und teure Moralitäten beschwichtigt. Sie sind von Macht und Besitz geschwollen, von Erfolg trunken, aber Ihre Aussichten gegen uns sind nicht größer als die der Drohnen, die sich um die Honigwaben scharen, wenn die Arbeitsbienen auf sie eindringen, um ihr faules Leben zu vernichten. Sie haben in der Verwaltung der Gesellschaft unheilvolle Fehler begangen, und deshalb muss sie Ihnen fortgenommen werden. Anderthalb Millionen Arbeiter sind im Begriff, sich mit den ändern zusammenzutun, um Ihnen die Verwaltung zu entreißen. Das ist die Revolution, meine Herren! Verhindern Sie sie, wenn Sie können.«
Eine merkbare Zeit noch hallte Ernsts Stimme durch den großen Raum. Dann erhob sich wieder das Geräusch, das ich schon vorhin gehört hatte, und ein Dutzend Männer sprangen auf und baten Van Gilbert um das Wort. Ich bemerkte, dass die Schultern von Fräulein Brentwood konvulsivisch zuckten, und war einen Augenblick zornig, weil ich glaubte, dass sie über Ernst lachte. Dann aber entdeckte ich, dass es kein Lachen, sondern Hysterie war. Sie war entsetzt über das, was sie angerichtet hatte, als sie diesen Aufwiegler in ihren geheiligten Klub brachte.
Van Gilbert beachtete die Männer, die sich mit leidenschaftlich erregten Gesichtern zum Worte meldeten, nicht. Sein eigenes Gesicht war ebenfalls von Leidenschaft verzerrt. Er sprang auf, schwang die Arme und konnte einen Augenblick nur unzusammenhängende Laute hervorbringen. Dann fand er die Sprache wieder. Aber seine Sprache war ebenso wenig die des Trustanwalts, wie sie altmodisch war.
»Irrtum über Irrtum!« rief er. »Nie in meinem Leben habe ich in einer kurzen Stunde so viele Irrtümer gehört. Und zudem, junger Mann, muss ich Ihnen sagen, dass Sie nichts Neues erzählt haben. Das alles lernte ich schon auf der Universität, ehe Sie geboren waren. Jean Jacques Rousseau verkündete Ihre sozialistischen Theorien schon vor zwei Jahrhunderten. Eine Rückkehr in den Sumpf, wahrhaftig! Rückschritt! Unsere Biologie lehrt, dass das eine Unmöglichkeit ist. Ein wahres Wort besagt, dass Halbbildung ein gefährliches Ding sei, und dafür haben Sie heute abend mit ihren verrückten Ansichten ein Beispiel gegeben. Irrtum über Irrtum. Nie in meinem Leben habe ich mich von einem Übermaß von Irrtümern so angewidert gefühlt. Nicht so viel sind Ihre unreifen Verallgemeinerungen und kindischen Schlussfolgerungen wert!«
Er knipste verächtlich mit den Fingern und setzte sich langsam. Die Frauen ließen ein unverständliches Gemurmel hören, während die Männer in rauheren Tönen ihre Zustimmung gaben. Von dem Dutzend Männern, die sich zum Wort gemeldet hatten, begann die Hälfte gleichzeitig zu sprechen. Die babylonische Verwirrung war unbeschreiblich. Nie hatten die weiten Räume Frau Pertonwaithes ein solches Schauspiel erlebt. Und dies waren die kaltsinnigen Führer der Industrie und die Herren der Gesellschaft, diese knurrenden, murrenden Wilden im Smoking. Ja, wirklich, Ernst hatte sie aufgerüttelt, als er seine Hände nach ihren Geldsäcken ausstreckte, diese Hände, die in ihren Augen wie die Hände der anderthalb Millionen Revolutionäre erschienen.
Aber Ernst verlor nie den Kopf. Bevor Van Gilbert sich wieder gesetzt hatte, war Ernst schon aufgesprungen.
»Einer zur Zeit!« brüllte er sie an. Der aus der Tiefe seiner starken Lunge kommende Klang beruhigte den menschlichen Sturm. Nur durch seine bezwingende Persönlichkeit gebot er Schweigen.
»Einer zur Zeit«, wiederholte er ruhig. »Lassen Sie mich Herrn Van Gilbert antworten. Dann können die ändern sprechen — aber, wohl zu merken, immer einer zur Zeit. Keine Massenspiele. Hier ist kein Fußballplatz.«
»Sie«, wandte er sich an Van Gilbert, »haben auf nichts, was ich gesagt habe, erwidert. Sie haben nur einige gereizte und abfällige Behauptungen über meine geistigen Fähigkeiten aufgestellt. Das mag in Ihrem Beruf von Nutzen sein, mit mir aber können Sie so nicht reden. Ich bin kein Arbeiter, der Sie mit der Mütze in der Hand um Lohnerhöhung oder um Schutz vor der Maschine, an der er arbeitet, bittet. Wenn Sie mit mir streiten, können Sie nicht Ungewisse Behauptungen aufstellen. Die sparen Sie sich auf, bis Sie sich mit Ihren Lohnsklaven streiten. Die werden es nicht wagen, Ihnen zu antworten, denn ihr Brot und ihre Butter, ihr Leben liegt in Ihren Händen.
Was die Rückkehr zur Natur betrifft, eine Lehre, die Sie, wie Sie sagen, schon vor meiner Geburt auf der Universität studiert haben, so gestatten Sie mir die Bemerkung, dass Sie augenscheinlich seitdem nichts mehr hinzugelernt haben. Sozialismus hat damit nicht mehr zu tun als eine Differentialgleichung mit einem Bibelspruch. Ich habe gesagt, dass Ihre Klasse stumpfsinnig sei, sobald sie sich außerhalb des Bereichs ihrer Geschäfte befindet. Sie, mein Herr, haben ein glänzendes Beispiel für meine Behauptung gegeben.«
Diese furchtbare Züchtigung ihres Hunderttausend-Dollar-Anwalts war zuviel für die Nerven Fräulein Brentwoods. Ihr hysterischer Anfall wurde noch schlimmer, und man führte sie weinend und lachend aus dem Zimmer. Das war gut, denn es sollte noch Schlimmeres kommen.
»Sie brauchen mir gar nichts zu glauben«, fuhr Ernst fort, als die Störung beseitigt war. »Ihre eigenen Autoritäten werden Ihre Unkenntnis einstimmig feststellen. Ihre eigenen, besoldeten Wissenschaftslieferanten werden Ihnen sagen, dass Sie unrecht haben. Gehen Sie zu dem bescheidensten Assistenten eines Professors der Soziologie und fragen Sie ihn nach dem Unterschied zwischen der Lehre Rousseaus von der Rückkehr zur Natur und der Lehre des Sozialismus. Fragen Sie Ihre größten orthodoxen Bourgeois, Volkswirtschaftler und Soziologen; schlagen Sie in jedem Buche nach, das den Gegenstand behandelt, und das auf den Regalen der von Ihnen gestifteten Bibliotheken steht; überall werden Sie die Antwort erhalten, dass die Rückkehr zur Natur und der Sozialismus nichts miteinander zu tun haben, ja, Sie werden sogar die einstimmige Antwort erhalten, dass beides sich diametral gegenübersteht. Wie gesagt, Sie brauchen mir nicht zu glauben. Der Beweis Ihrer Unkenntnis steht in den Büchern, in Ihren Büchern, die Sie nie lesen. Und in Bezug auf Ihre Unkenntnis sind Sie nur ein Beispiel Ihrer Klasse.
Sie kennen Gesetz und Geschäft, Herr Van Gilbert. Sie wissen, wie man den Trusts dienen und die Dividenden durch Gesetzverdrehungen erhöhen kann. Ausgezeichnet! Bleiben Sie dabei. Sie sind, wie sie sein sollen. Ein glänzender Anwalt, aber ein armseliger Historiker. Sie kennen nichts von Soziologie, und Ihre Biologie stammt von Plinius.«
Van Gilbert wand sich auf seinem Stuhle. Im Saal herrschte völlige Stille. Jeder war wie verhext — gelähmt, möchte ich sagen. Eine so furchtbare Behandlung des großen Van Gilbert war unerhört, undenkbar, unglaublich — des großen Van Gilbert, vor dem die Richter zitterten, wenn er sich im Gerichtssaal erhob. Aber Ernst gab nie einem Feinde Pardon.
»Das richtet sich natürlich nicht gegen Sie persönlich«, sagte Ernst. »Jeder, wie er kann. Nur bleiben Sie bei Ihrem Handwerk, wie ich bei dem meinen. Sie haben Ihre Spezialität. Wenn es darauf ankommt, wie man am besten das Gesetz umgeht oder ein neues Gesetz zugunsten der diebischen Trusts macht, bin ich Ihnen weit unterlegen. In der Soziologie aber — meinem Handwerk — ist es umgekehrt. Vergessen Sie das nicht. Erinnern Sie sich auch, dass Ihr Gesetz nur der Staub eines Tages ist, und dass Sie in Dingen, die mehr umfassen, nicht bewandert sind. Daher sind Ihre unbewiesenen Behauptungen und vorschnellen Verallgemeinerungen geschichtlicher und soziologischer Fragen nicht den Atem wert, den Sie darauf verschwenden.«
Ernst hielt einen Augenblick inne und betrachtete ihn nachdenklich. Er sah, wie Van Gilberts Gesicht sich vor Arger dunkel färbte und verzerrte, wie seine Brust keuchte, sein Körper sich wand und seine schlanken weißen Hände sich nervös ballten und öffneten.
»Aber es scheint, dass Sie noch etwas Atem haben, und so will ich Ihnen eine Gelegenheit geben, ihn zu benutzen. Ich habe Ihre Klasse angeklagt, zeigen Sie mir, dass meine Anklage falsch ist. Ich zeigte Ihnen das Elend des modernen Arbeiters. In den Vereinigten Staaten arbeiten drei Millionen Kinder, ohne deren Arbeit ein Gewinn nicht zu erzielen sein soll, und anderthalb Millionen unterernährter, schlechtgekleideter Menschen hausen in ungesunden Wohnungen. Ich sagte Ihnen, dass die Arbeitsleistung des modernen Menschen infolge sozialer Einrichtungen und des Gebrauchs von Maschinen tausendmal größer sei als die der Höhlenbewohner. Und ich behaupte, dass dies keinen andern Schlüssel zuließe, als dass die kapitalistische Klasse falsch gewirtschaftet hätte. Das war meine Anklage, und ich habe Sie aufgefordert, mir nur hierauf zu antworten. Ich tat sogar noch mehr. Ich sagte voraus, dass Sie nicht antworten würden. Es ist Ihnen also anheim gestellt, meine Prophezeiung zuschanden zu machen. Sie haben meine Rede einen Irrtum genannt, beweisen Sie mir diesen Irrtum, Herr Van Gilbert. Widerlegen Sie die Anklage, die ich und meine anderthalb Millionen Genossen gegen Sie und Ihre Klasse vorgebracht haben.«
Herr Van Gilbert vergaß ganz, dass er Vorsitzender war, und dass die Höflichkeit geboten hätte, die ändern, die um das Wort gebeten hatten, sprechen zu lassen. Er sprang auf, schleuderte seine Arme, seine Beredsamkeit und seine Selbstbeherrschung in die Luft, wobei er abwechselnd Ernst wegen seiner Jugend und seiner Aufwiegelei beschimpfte und wild die arbeitende Klasse angriff, die er der Faulheit und Nichtswürdigkeit beschuldigte.
»Ich habe noch nie einen Rechtsanwalt gesehen, der sich so hartnäckig wie Sie an einen Punkt geklammert hätte«, begann Ernst auf die Tirade zu antworten. »Meine Jugend hat nichts mit meinen Worten zu tun, und ebenso wenig die Nichtswürdigkeit der arbeitenden Klasse. Ich habe die kapitalistische Klasse der Misswirtschaft bezichtigt. Sie haben nicht geantwortet. Sie haben nicht einmal den Versuch gemacht, zu antworten. Warum nicht? Weil Sie keine Antwort wissen. Sie sind der Herr dieser ganzen Versammlung. Alle außer mir hängen an Ihrem Munde, um die Wahrheit zu hören. Man erwartet die Antwort aus Ihrem Munde, weil man selbst keine Antwort weiß. Und ich, das sagte ich Ihnen bereits, ich weiß, dass Sie nicht nur keine Antwort wissen, sondern dass Sie nicht einmal den Versuch einer Antwort machen werden.«
»Das ist unerträglich«, rief Van Gilbert. »Das ist beleidigend.«
»Unerträglich ist, dass Sie nicht antworten«, erwiderte Ernst mit Nachdruck. »Niemand kann intellektuell beleidigt werden. Besinnen Sie sich. Geben Sie mir eine intellektuelle Antwort auf meine intellektuelle Anklage, dass die kapitalistische Wirtschaft eine Misswirtschaft ist.«
Van Gilbert schwieg, und seine Miene nahm den unfreundlichen, überlegenen Ausdruck eines Mannes an, der sich nicht mit einem Raufbold streiten will.
»Machen Sie sich nichts daraus«, sagte Ernst. »Trösten Sie sich damit, dass noch kein Mitglied Ihrer Klasse diese Beschuldigung widerlegt hat.« Er wandte sich zu den ändern, die sich zum Wort gemeldet hatten. »Jetzt können Sie reden. Bitte, und vergessen Sie nicht, dass ich Sie aufgefordert habe, die Antwort zu geben, die Herr Van Gilbert nicht geben konnte.«
Es würde mir nicht möglich sein, alles niederzuschreiben, was in der Diskussion gesagt wurde. Ich hatte mir nicht träumen lassen, wie viel in drei Stunden geredet werden kann. Aber es war jedenfalls fabelhaft. Je mehr seine Gegner sich aufregten, desto absichtlicher reizte Ernst sie. Er übertraf sie weit an universellem Wissen und durchstach sie mit einem Wort oder einem Satze wie mit feinen Degenstößen. Erwies auf die Punkte hin, an denen ihre Logik scheiterte. Dies war eine falsche Folgerung, jener Schluss bezog sich nicht auf die Voraussetzung, während die nächste Voraussetzung trügerisch war, weil sie, schlau verborgen, die Schlussfolgerung enthielt, deren Beweis versucht werden sollte. Dies war ein Irrtum, jenes eine Anmaßung und das folgende eine Widerspruch zu einer in allen Büchern festgestellten Tatsache.
So ging es weiter. Zuweilen vertauschte er den Degen mit dem Knüppel und schwenkte ihn links und rechts in ihre Gedanken. Und immer forderte er Tatsachen und weigerte sich, Theorien zu erörtern. Und seine Tatsachen bereiteten ihnen eine vernichtende Niederlage. Wenn sie die arbeitende Klasse angriffen, gab er stets zurück: »Ein Esel schimpft den ändern Langohr; das ist keine Antwort auf die Behauptung, dass Sie selbst lange Ohren haben.« Und immer wieder sagte er: »Warum haben Sie nicht auf meine Beschuldigung geantwortet, dass Ihre Klasse Misswirtschaft getrieben hat? Sie haben über alles andere geredet, nur nicht davon; ist das deshalb, weil Sie keine Antwort wissen?«
Zum Schluss der Diskussion sprach Herr Wickson. Er war als einziger ruhig geblieben, und Ernst behandelte ihn mit einer Achtung, die er den ändern vorenthalten hatte.
»Eine Antwort ist unnötig«, sagte Herr Wickson bedächtig. »Ich habe die ganze Diskussion mit Verwunderung und Ärger verfolgt. Ich ärgere mich über Sie, meine Herren Klassengenossen. Sie haben sich wie alberne Schulknaben benommen, indem Sie Ethik und den Wortschwall des gewöhnlichen Politikers in die Diskussion hineingetragen haben. Sie sind besiegt und abgeführt worden. Sie haben sehr viele Worte gebraucht, aber alles, was Sie gesagt haben, war nur Gesumm. Sie haben gesummt wie die Mücken um einen Bären. Meine Herren, dort steht der Bär«, er zeigte auf Ernst, »und Ihr Summen hat nur seine Ohren gekitzelt.
Glauben Sie mir, die Lage ist ernst. Dieser Bär hat heute die Tatzen ausgestreckt, um uns zu zermalmen. Er hat gesagt dass es anderthalb Millionen Revolutionäre in den Vereinigten Staaten gäbe. Das ist Tatsache. Er hat gesagt, dass es die Absicht dieser Menschen sei, uns unsere Herrscherrechte, unsere Paläste und all unsere purpurne Herrlichkeit zu entreißen. Auch das ist Tatsache. Eine Veränderung, eine große Veränderung der Gesellschaft wird kommen, vielleicht aber nicht die, die der Bär erwartet. Der Bär hat gesagt, er wolle uns zermalmen. Wie, wenn wir den Bären zermalmten?«
Ein Geräusch von Stimmen erhob sich in dem großen Raum, und man nickte sich verständnisvoll und zuversichtlich zu. Ihre Gesichter waren hart geworden. Es waren Kämpfer, das war sicher.
»Aber nicht mit Worten werden wir den Bären zermalmen«, fuhr Wickson gelassen und leidenschaftslos fort. »Wir wollen den Bären jagen. Wir wollen ihm nicht mit Worten antworten. Unsere Antwort soll in Leitsätzen gefasst sein. Wir haben die Macht. Das wird niemand leugnen. Und kraft dieser Macht wollen wir mächtig bleiben.«
Er wandte sich plötzlich an Ernst. Der Augenblick war dramatisch.
»So ist denn dies unsere Antwort: >Wir haben keine Worte an Sie zu verschwenden. Wenn Sie Ihre gepriesenen starken Hände nach unseren Palästen und unserer purpurnen Herrlichkeit ausstrecken, werden wir Ihnen zeigen, was Kraft ist. Das Gebrüll der Granaten und Schrapnells, das Knattern der Maschinengewehre wird unsere Antwort sein. Wir werden die Revolutionäre unter unserer Ferse zermalmen, und wir werden über sie hinwegschreiten. Die Welt ist unser, wir sind ihre Herren, und unser soll sie bleiben. Seit Anbeginn der Geschichte hat das Heer der Arbeiter im Staube gelegen, und ich lese die Geschichte richtig. Und im Staube soll es bleiben, solange ich und die Meinen und die, die nach uns kommen werden, die Macht haben. Das ist das Wort. Das königliche Wort — Macht. Nicht Gott, nicht Mammon, sondern Macht. Nehmen Sie es auf die Zunge, bis sie Ihnen prickelt: Macht!<«
»Ich habe die Antwort«, sagte Ernst ruhig. »Es war die einzige Antwort, die möglich war. Macht! Das ist es, was wir der arbeitenden Klasse predigen. Wir wissen, und wir wissen es aus bitterer Erfahrung, dass keine Bitte um Recht, Gerechtigkeit, Menschlichkeit Sie je rühren wird. Ihre Herzen sind so hart wie die Fersen, mit denen Sie die Armen zu Boden treten. Aber auch wir haben Macht gepredigt. Und durch die Macht unserer Stimmzettel werden wir Ihnen am Wahltage die Herrschaft entreißen —.«
»Wie, wenn Sie am Wahltage eine Majorität, eine erdrückende Majorität hätten«, unterbrach Herr Wickson ihn, »und wir weigerten uns, Ihnen die Herrschaft abzutreten, die Sie an der Wahlurne erobert haben?«
»Auch das haben wir erwogen«, erwiderte Ernst, »und wir werden Ihnen die Antwort in Leitsätzen geben. Sie nennen Macht das königliche Wort. Schön. So soll es Macht sein. Und an dem Tage, da wir zum Sieg an die Wahlurne schreiten, und Sie sich weigern, uns die Regierung abzutreten, die wir auf gesetzliche und friedliche Weise gewonnen haben, und von der Sie wissen wollen, was wir damit anzufangen gedenken — an dem Tage, sage ich, werden wir Ihnen antworten, und unsere Antwort wird das Gebrüll der Granaten und Schrapnells, das Geknatter der Maschinengewehre sein. Sie können uns nicht entrinnen. Es ist wahr, dass Sie die Geschichte richtig gelesen haben. Es ist wahr, dass seit Beginn der Geschichte der Arbeiter am Boden gelegen hat. Und ebenso wahr ist es, dass, solange Sie und die Ihrigen und Ihre Nachkommen die Macht haben, der Arbeiter am Boden bleiben wird. Darin gebe ich Ihnen recht. Ich gebe Ihnen in allem recht, was Sie gesagt haben. Die Macht wird herrschen, wie sie es stets getan. Es ist Klassenkampf. Wie Ihre Klasse den Feudal-Adel niedergerungen hat, so soll meine, die arbeitende Klasse, die Ihre niederringen. Wenn Sie Ihre Biologie und Ihre Soziologie ebenso gut lesen wie Ihre Geschichte, dann werden Sie erkennen, dass dieser Ausgang, wie ich ihn beschrieben habe, unvermeidlich ist. Einerlei, ob in einem Jahr, in zehn oder in tausend — Ihre Klasse wird niedergerungen werden. Und das wird durch Macht geschehen. Wir Arbeitnehmer haben dieses Wort auswendig gelernt, bis alle unsere Sinne davon widerhallten. Macht! Es ist ein königliches Wort.« Und so endete der Abend bei den Wissbegierigen.
(1) In jenen Tagen hatte man noch die Gewohnheit, die Wohnräume mit Nippes zu füllen. Man hatte noch nicht die Einfachheit des Lebens entdeckt. Solche Räume waren Museen, die unaufhörliches Reinmachen erforderten. Der Dämon Staub war Herr im Hause. Es gab unzählige Erfindungen zur Bekämpfung des Staubes und nur sehr wenige, die wirklich nutzten.
(2) Dieses Anfechten von Testamenten war ein besonderer Zug jener Zeit. Die Anhäufung von Riesenvermögen stellte ihre Besitzer vor das schwierige Problem, Verfügungen über die Anwendung des Geldes nach ihrem Tode zu treffen. Das Aufsetzen und Anfechten von Testamenten war etwa so wie die Fabrikation von Porzellanplatten und Kanonen. Die gerissensten Anwälte wurden beauftragt, Testamente aufzusetzen, die nicht angefochten werden konnten. Aber immer wurden die Testamente angefochten und sehr oft gerade durch die Anwälte, die sie aufgesetzt hatten. Nichtsdestoweniger blieb die besitzende Klasse in ihrem Wahn, dass es möglich sei, ein absolut unanfechtbares Testament aufzusetzen, und so kämpften Klienten und Advokaten Generationen hindurch um diese Fiktion.
(3) Eine merkwürdige Sammlung von Romanen, die der arbeitenden Klasse das Wesen der Drohnenklasse in einem ganz falschen Licht zeigen sollten.
(4) Die Menschen jenes Zeitalters waren Sklaven der Phrase. Ihre Unterwürfigkeit ist uns unverständlich. Worte hatten für sie eine Macht, die größer war als die Kunst von Hexenmeistern. So trunken und chaotisch war ihr Verstand, dass ein einziges Wort alle Ergebnisse ernsthaften Forschens und Denkens zunichte machen konnte. Ein solches Wort war »Utopie«. Dieses Wort allein genügte zur Verurteilung einer Idee, die eine ökonomische Veränderung betraf, so vernünftig sie auch sein mochte. Weite Teile der Bevölkerung verloren den Verstand über Phrasen, wie »ein guter Dollar« und »ein voller Fleischtopf«. Das Pflegen solcher Phrasen hielt man für äußerst gefühlvoll.
(5) Ursprünglich waren es Privatdetektive. Sie wurden jedoch bald Kämpfer für die Kapitalisten und entwickelten sich schließlich zu Soldaten der Oligarchie.
(6) Diese Geheimmittel waren durch »Patent« gesetzlich geschützte Lügen, mit denen das Volk wie mit den Zaubermitteln und dem Ablass des Mittelalters betrogen wurde; der einzige Unterschied war, dass die patentierten Mittel schädlicher und kostspieliger waren.
(7) Noch im Jahre 1912 A. D. glaubte das Volk, dass es vermöge seiner Wahlzettel das Land regierte. Tatsächlich wurde das Land durch das regiert, was man Politische Maschinerie nennen könnte. Anfangs legten die Maschinisten den Kapitalisten übermäßige Gebühren für die Gesetzgebung auf. Bald aber fanden die Kapitalisten es billiger, sich selbst zu Herren der politischen Maschinerie zu machen und die bisherigen Maschinisten anzustellen.
(8) Im Jahre 1906 schrieb Robert Hunter in einem »Armut« betitelten Buche, dass damals zehn Millionen Menschen in den Vereinigten Staaten in Armut lebten.
(9) Nach der Volkszählung vom Jahre 1900 belief sich die Zahl der arbeitenden Kinder in den Vereinigten Staaten auf l 752 187.
Um diese Zeit häuften sich die Anzeichen der kommenden Ereignisse. Ernst hatte schon mit Vater über dessen Politik, Sozialisten und Arbeiterführer bei sich zu sehen, öffentlich sozialistische Veranstaltungen zu fördern, gesprochen, aber Vater hatte Ernsts Sorgen nur verlacht. Ich selbst lernte viel aus dieser Berührung mit den Führern der arbeitenden Klasse. Ich sah die andere Seite der Medaille. Ich war begeistert von der Selbstlosigkeit und dem hohen Idealismus, dem ich begegnete, wenn mich auch die ungeheure philosophische und wissenschaftliche Literatur des Sozialismus einschüchterte. Ich lernte schnell, aber nicht schnell genug, um mir das Gefährliche unserer Lage klarzumachen.
Es gab Anzeichen, aber ich sah sie nicht. So übten Frau Pertonwaithe und Frau Wickson eine sehr erschreckende soziale Macht in der Universitätsstadt aus, und von ihnen stammte das Urteil, dass ich ein voreiliges, selbstgefälliges junges Mädchen sei und den boshaften Drang hätte, mich in die Angelegenheiten anderer einzumischen. In Anbetracht der Rolle, die ich bei der Untersuchung des Falles Jackson gespielt hatte, erschien mir dies ganz natürlich. Aber ich unterschätzte die Wirkung dieses von zwei in sozialer Beziehung so mächtigen Frauen ausgehenden Urteils. Ich bemerkte zwar, dass meine besten Freunde sich in gewisser Weise von mir fernhielten, schrieb dies aber der Verstimmung zu, die wegen meiner beabsichtigten Heirat mit Ernst in meinen Kreisen entstanden war. Bald aber setzte Ernst mir klar auseinander, dass diese Haltung meiner Klasse nicht nur eine spontane Regung sei, sondern dass die verborgenen Kräfte einer organisierten Verschwörung dahintersteckten. »Du hast einem Feind deiner Klasse Zuflucht gegeben«, sagte er, »und nicht allein Zuflucht, du hast ihm deine Liebe, dich selbst gegeben. Das ist Verrat an deiner Klasse. Glaub nicht, dass die Strafe dafür ausbleibt.«
Aber vorher noch war Vater eines Nachmittags nach Hause gekommen, und Ernst, der bei uns war, und ich sahen, dass Vater ärgerlich war, ärgerlich wie ein Philosoph. Er war selten wirklich ärgerlich, aber ein gewisses Maß kontrollierten Ärgers gestand er sich zu. Er nannte ihn tonisch, und bei seinem Eintritt konnten wir sehen, dass er tonisch ärgerlich war.
»Was meint ihr«, fragte er, »ich war zum Frühstück bei Wilcox.«
Wilcox war der frühere Rektor der Universität, und sein welker Geist war mit Verallgemeinerungen angefüllt, die im Jahre 1870 neu gewesen sein mochten, aber seitdem nicht revidiert worden waren.
»Ich war eingeladen«, berichtete Vater. »Ich war hinbestellt.« Er hielt inne, und wir warteten.
»Oh, es ging sehr nett zu, bitte; aber ich bekam Vorwürfe. Ich! Und von diesem Fossil.«
»Ich wette, ich weiß, weshalb Sie Vorwürfe erhielten«, sagte Ernst.
»Nein, und wenn Sie dreimal raten«, Vater lachte.
»Einmal wird genügen« erwiderte Ernst. »Und ich brauche gar nicht zu raten, ich brauche nur meine Schlüsse zu ziehen. Man hat Ihnen Ihr Privatleben vorgeworfen.«
»Wahrhaftig«, rief Vater. »Wie haben Sie das erraten?«
»Ich wusste, dass es kommen würde. Ich habe Sie schon früher gewarnt.«
»Ja, das ist wahr«, sagte Vater nachdenklich. »Aber ich konnte es nicht glauben. Jedenfalls gibt mir das aber nur noch stärkeres Beweismaterial für mein Buch.«
»Es ist nichts gegen das, was noch kommen wird«, sagte Ernst, »wenn Sie weiter diese Sozialisten und Radikalen, mich eingeschlossen, bei sich sehen werden.«
»Genau, was der alte Wilcox sagte. Er redete blödes Zeug. Es sei geschmacklos, ganz zwecklos und vertrüge sich nicht mit akademischen Traditionen und akademischer Würde. Das alles deutete er nur an, so dass ich keine Gelegenheit hatte, ihn irgendwie festzunageln. Ich trieb ihn zwar in die Enge, aber er wiederholte sich nur und erzählte mir, wie hoch er und die ganze Welt mich als Wissenschaftler schätzten. Es war keine angenehme Aufgabe für ihn; ich konnte sehen, dass sie ihm nicht behagte.«
»Er war nicht frei«, sagte Ernst. »Die Fußeisen(1) tragen sich nicht immer angenehm.«
»Nein. So viel brachte ich aus ihm heraus. Er sagte mir, die Universität brauchte dieses Jahr viel mehr Geld, als der Staat bewilligen könnte; sie wären daher auf Stiftungen reicher Privatleute angewiesen, die jedoch Anstoß daran nehmen würden, wenn die Universität von ihren hohen Idealen leidenschaftsloser Forschung und leidenschaftsloser Intelligenz abirrte. Als ich ihn mit der Frage festzunageln versuchte, was mein Privatleben denn damit zu tun hätte, bot er mir einen zweijährigen Urlaub bei vollem Gehalt an, den ich zu meiner Erholung und zu Forschungszwecken in Europa verbringen sollte. Natürlich konnte ich das Anerbieten unter diesen Umständen nicht annehmen.«
»Es wäre weit besser für Sie gewesen«, sagte Ernst.
»Es wäre Bestechung«, protestierte Vater, und Ernst nickte.
»Der Mensch sagte auch, man spräche beim Tee, in Gesellschaften und dergleichen darüber, dass sich meine Tochter öffentlich mit einem so berüchtigten Menschen wie Sie sehen ließe, das vertrüge sich nicht mit Ton und Würde der Universität. Er wolle mir nicht etwa persönliche Vorwürfe machen — o nein! Aber man spräche so, und ich würde wohl verstehen.«
Ernst überlegte einen Augenblick, dann sagte er mit einer Miene, in der sich Erregung und finsterer Zorn mischten:
»Dahinter steckt mehr als das akademische Ideal. Irgend jemand hat einen Druck auf Wilcox ausgeübt.«
»Meinen Sie?« fragte Vater, und sein Gesicht verriet mehr Interesse als Furcht.
»Ich wollte, ich könnte Ihnen den Gedanken übermitteln, der sich jetzt dunkel in meinem Geiste bildet«, sagte Ernst. »Nie in der Weltgeschichte hat sich die menschliche Gesellschaft in einem so furchtbaren immerwährenden Wechsel befunden wie jetzt. Die schnellen Veränderungen in unserem industriellen System verursachten ebenso schnelle in unserem religiösen, politischen und sozialen Gefüge. Eine schreckliche, unsichtbare Umwälzung geht im Körper der Gesellschaft vor. Man kann das nur dunkel fühlen. Aber es liegt in der Luft, jetzt, heute. Man spürt den Hauch von diesem Gewaltigen, Unbestimmten, Furchtbaren. Mein Geist schreckt davor zurück, sich die Folgen auszumalen. Sie haben gehört, was Wickson neulich sagte. Dahinter standen dieselben namenlosen, formlosen Dinge, die ich fühle, und zu denen er unbewusste Beziehungen hat.«
»Sie meinen... ?« begann Vater, hielt dann aber inne.
»Ich meine, dass der Schatten von etwas Ungeheurem, Drohendem gerade jetzt auf das Land zu fallen beginnt, Nennen Sie es meinetwegen den Schatten einer Oligarchie; das dürfte ihm am nächsten kommen. Welcher Art sie sein wird, kann ich mir nicht vorstellen(2). Was ich aber sagen wollte: Sie befinden sich in einer gefährlichen Lage — in einer Gefahr, die meine eigene Furcht noch erhöht, da ich nicht imstande bin, sie zu ermessen. Folgen Sie meinem Rat und nehmen Sie den Urlaub an.«
»Aber das wäre feige«, protestierte Vater.
»Durchaus nicht. Sie sind ein alter Mann. Sie haben Ihre Arbeit in der Welt geleistet, eine große Arbeit. Überlassen Sie jetzt den Kampf der Jugend und der Kraft. Wir Jungen haben unsere Arbeit noch zu tun. Avis wird mir zur Seite stehen, was auch kommen mag. Sie wird Sie an der Front vertreten.«
»Aber man kann mir ja nichts tun«, warf Vater ein. »Ich bin Gott sei Dank unabhängig. Oh, ich versichere euch, ich kenne die furchtbare Behandlung, die sie an der Universität einem wirtschaftlich abhängigen Professor zuteil werden lassen können. Aber ich bin unabhängig. Ich bin nicht auf mein Gehalt angewiesen. Ich kann sehr behaglich von meinen Zinsen leben, und sie können mir nicht mehr nehmen als mein Gehalt.«
»Aber Sie sehen die Dinge nicht, wie sie sind«, antwortete Ernst. »Wenn alles kommt, wie ich fürchte, dann kann man Ihnen ebenso leicht wie Ihr Gehalt auch noch Ihre Zinsen, ja selbst Ihr ganzes Vermögen nehmen.«
Vater schwieg einige Minuten. Er sann nach, und ich sah die Linien der Entschlossenheit in seinem Gesicht sich bilden. Schließlich sagte er:
»Ich werde den Urlaub nicht annehmen.« Er machte wieder eine Pause. »Ich werde weiter an meinem Buche arbeiten(3). Sie mögen recht haben, aber ob Sie nun recht oder unrecht haben: Ich stehe fest zu meiner Sache.«
»Gut«, sagte Ernst. »Sie wandern denselben Weg wie Bischof Morehouse und gehen einer ähnlichen Katastrophe entgegen. Ehe Sie das Ende dieses Weges erreicht haben, werden Sie beide Proletarier sein.«
Die Sprache kam jetzt auf den Bischof, und wir baten Ernst, uns zu erzählen, was er mit ihm gemacht hatte.
»Seine Seele ist krank, seit er mit mir durch die Hölle gewandert ist. Ich zeigte ihm die Wohnungen einiger unserer Fabrikarbeiter. Ich zeigte ihm die menschlichen Trümmer, die unsere industrielle Maschine beiseite geworfen hat, und er hörte ihre Lebensgeschichte. Ich führte ihn in die Spelunken San Franziskos, und er lernte, dass es eine tiefere Ursache für Trunksucht, Prostitution und Verbrechen als nur angeborene Verderbtheit gibt. Er ist sehr krank, und schlimmer noch, er hat sich nicht mehr in der Hand. Er ist zu ethisch veranlagt und dazu, wie gewöhnlich, unpraktisch. Er schwebt in der Luft mit allerhand ethischen Täuschungen und Plänen für eine Mission unter den Gebildeten. Er hält es für seine heilige Pflicht, den alten Geist der Kirche wieder zum Leben zu erwecken und ihre Botschaft und Herrlichkeit der Gesellschaft zu übermitteln. Er ist überarbeitet. Früher oder später gelangt es bei ihm zum Ausbruch, und dann kommt die Katastrophe für ihn. In welcher Form, kann ich nur erraten. Er ist eine reine, begeisterte Seele, aber gänzlich unpraktisch. Er kann nicht mit den Füßen auf der Erde bleiben. Mit rasender Schnelligkeit eilt er seinem Golgatha entgegen. Und dann seiner Kreuzigung. Diese hohen Seelen sind für das Kreuz bestimmt.«
»Und du?« fragte ich; und mein Lächeln ließ den Ernst der besorgten Liebe durchschimmern.
»Ich nicht«, er lachte zurück. »Ich mag hingerichtet oder ermordet werden, nie aber gekreuzigt. Ich stehe zu sicher und zu fest auf der Erde.«
»Aber warum musstest du die Kreuzigung des Bischofs veranlassen?« fragte ich. »Du wirst nicht leugnen, dass du die Ursache bist.«
»Warum sollte ich eine üppige Seele in der Üppigkeit lassen, wenn Millionen in Arbeit und Elend leben?« fragte er zurück.
»Warum hast du Vater denn geraten, den Urlaub anzunehmen?«
»Weil ich keine reine, begeisterte Seele bin«, lautete die Antwort. »Weil ich starr, schwerfällig und eigennützig bin. Weil ich dich liebe und weil, wie einst bei Ruth, dein Volk mein Volk ist. Der Bischof hat keine Tochter. Zudem wird seine Beschwerde, so unzulänglich sie auch ist, der Revolution doch etwas nutzen, und selbst das Geringste zählt.«
Ich konnte Ernst nicht zustimmen. Ich kannte den edlen Charakter Bischof Morehouses und konnte nicht begreifen, dass seine Stimme, die er für die Gerechtigkeit erhob, nur einer kleinen, unzulänglichen Klage Ausdruck verleihen sollte. Aber ich kannte noch nicht wie Ernst die harte Wirklichkeit des Lebens. Er sah klar, wie nutzlos die Bemühungen der großen Seele des Bischofs sein mussten, und die kommenden Ereignisse lehrten auch mich bald, dies klar zu sehen. Kurz darauf sagte mir Ernst eines Tages, dass ihm die Regierung einen Posten als Arbeitskommissar der Vereinigten Staaten angeboten hätte. Ich war überfroh. Das Gehalt war verhältnismäßig hoch und hätte unsere Heirat gesichert. Ferner hätte die Arbeit Ernst sicher zugesagt, und endlich bedeutete die angebotene Ernennung meinem eifersüchtigen Stolz eine Anerkennung seiner Fähigkeiten.
Da bemerkte ich, dass er mit den Augen zwinkerte. Er lachte mich aus.
»Du wirst es doch nicht... ablehnen?« fragte ich ängstlich.
»Es ist Bestechung«, sagte er. »Ich sehe die feine Hand Wicksons und die Hände von Größeren dahinter. Es ist ein alter Kniff, so alt wie der Klassenkampf selbst — dem Arbeiterheere die Führer zu stehlen. Armer, betrogener Arbeiter! Wenn du wüsstest, wie viele von deinen Führern man schon auf diese Weise gekauft hat. Es ist billiger, viel billiger, einen General zu kaufen, als mit ihm und seiner ganzen Armee zu kämpfen. Da war — aber ich will keinen Namen nennen. Es ist schlimm genug. Liebes Herz, ich bin Arbeiterführer. Ich möchte mich nicht verkaufen. Wenn nicht aus einem ändern Grunde, dann in der Erinnerung an meinen armen alten Vater und die Art und Weise, wie er sich zu Tode arbeiten musste.«
Meinem großen, starken Helden standen die Tränen in den Augen. Er konnte nie verzeihen, wie man seinen Vater misshandelt hatte — dass man ihn zu niedrigen Lügen und kleinen Diebstählen gezwungen hatte, damit er seinen Kindern Brot verschaffen konnte.
»Mein Vater war ein guter Mensch«, sagte Ernst einmal zu mir. »Seine Seele war gut, aber sie wurde verzerrt und verstümmelt und abgestumpft durch die Grausamkeit des Lebens. Seine Herren, diese Bestien, machten ein erschöpftes Tier aus ihm. Er könnte heute noch leben wie dein Vater. Er hatte eine gute Konstitution. Aber er war an die Maschine gefesselt und musste sich zu Tode arbeiten — um des Profits willen. Vergiss das nicht! Um des Profits willen — setzten die reichen Schmarotzer, die feinen Herren, die Bestien, sein Lebensblut in ein Weingelage, in schimmernden Tand oder eine ähnliche Sinnenorgie um.«
(1) Fußeisen — die afrikanischen Sklaven wurden damit gefesselt, ebenso Verbrecher. Erst als die Verbrüderung der Menschheit Tatsache wurde, kamen die Fußeisen außer Gebrauch.
(2) Wenn Everhard es sich nicht vorstellen konnte, so gab es doch, sogar vor seiner Zeit, Menschen, die den Schatten kommen sahen. John C. Calhoun sagte: »Im Lande ist eine Macht entstanden, größer als das Volk selbst, aus vielen, verschiedenartigen und mächtigen Interessen zusammengesetzt und zusammengehalten durch die Kohäsionskraft des riesigen Überschusses der Banken.« Und der große Humanist Abraham Lincoln sagte kurz vor seiner Ermordung: »Ich sehe in naher Zukunft eine Krisis kommen, die mich um die Sicherheit meines Landes zittern lässt... Körperschaften sind entthront, eine Ära der Korruption in höchsten Stellen wird folgen, und die Geldmacht des Landes wird ihre Herrschaft zu verlängern wissen, indem sie die Vorurteile ausnutzt, bis aller Reichtum sich in einigen wenigen Händen befindet und die Republik vernichtet ist.«
(3) Dieses Buch »Wirtschaft und Erziehung« wurde in jenem Jahre veröffentlicht. Drei Exemplare sind erhalten; zwei in Ardis und eines in Asgard. Es behandelt in sorgfältig ausgearbeiteten Einzelheiten einen für die Dauer des Bestehens wichtigen Faktor, die kapitalistische Seite der Universitäten und Volksschulen. Es war eine logische, niederschmetternde Anklage des ganzen Erziehungssystems, das in den Köpfen der Studenten nur solche Ideen entwickelte, die dem kapitalistischen Regime und dem Ausschluss aller feindlichen und umstürzlerischen Gedanken dienten. Das Buch erregte die Wut der Oligarchie und wurde prompt von ihr unterdrückt.
»Der Bischof hat den Kopf verloren«, schrieb Ernst mir. »Er schwebt gänzlich in der Luft. Heute abend will er beginnen, in unserer elenden kleinen Welt wieder Ordnung zu schaffen. Er will seine Botschaft verkünden. Das hat er mir gesagt, und ich kann ihn nicht davon abbringen. Heute abend führt er den Vorsitz in der I.H.P.(1) und will gleich in seinen einleitenden Worten seine Verkündigung bringen.
Soll ich dich mitnehmen? Sein Versuch ist natürlich schon im voraus zum Scheitern verurteilt. Es wird dir und ihm das Herz brechen, aber für dich und mich wird es eine ausgezeichnete Lehre sein. Du weißt, liebes Herz, wie stolz ich auf deine Liebe bin. Und deshalb möchte ich, dass du meinen vollen Wert erkennst, dass ich in deinen Augen wiedergutmache, was dir an mir unwürdig erschienen sein mag. Mein Stolz will, dass du meine Meinung als korrekt und richtig erkennen sollst. Meine Ansichten sind hart, aber der Misserfolg eines so edlen Menschen wie des Bischofs wird dir sagen, warum ich zu solcher Härte gezwungen bin. Komm also heute abend; so Trauriges sich auch ereignen mag, fühle ich doch, dass es dich mir näher bringen wird.«
Die I.H.P. hielt an diesem Abend eine Versammlung in San Franzisko ab(2). Die Versammlung war einberufen worden, um über geeignete Mittel zur Bekämpfung der öffentlichen Unmoral zu beraten. Bischof Morehouse führte den Vorsitz. Als er auf dem Katheder stand, konnte ich deutlich sehen, wie nervös und aufgeregt er war. Neben ihm saßen Bischof Dickinson, H.H. Jones, Professor der Ethik an der kalifornischen Universität, Frau W. W. Burd, die große Organisatorin wohltätiger Veranstaltungen, Philipp Ward, der ebenso große Philanthrop, und noch einige kleinere Leutchen auf dem Gebiet der Moral und der Nächstenliebe. Bischof Morehouse erhob sich und begann ohne Einleitung:
»Ich fuhr gestern in meinem Wagen durch die Straßen. Es war Abend. Hin und wieder sah ich durch die Wagenfenster, und plötzlich war mir, als würden mir die Augen geöffnet, und ich sah die Dinge, wie sie wirklich sind. Zuerst bedeckte ich meine Augen mit den Händen, um sie dem schrecklichen Anblick zu verschließen, dann aber, in der Dunkelheit klang die Stimme: Was tun? Kurz darauf erhob sich die Frage in anderer Weise: Was würde der Herr tun? Und bei dieser Frage schien helles Licht den Raum zu erfüllen, und ich erkannte sonnenklar meine Pflicht wie Saul die seine auf dem Wege nach Damaskus.
Ich ließ halten, stieg aus und überredete mit einigen Worten zwei öffentliche Dirnen, sich zu mir in den Wagen zu setzen. Wenn Jesus recht hatte, dann waren diese Unglücklichen meine Schwestern, und die einzige Hoffnung auf ihre Läuterung lag in meiner Liebe und Fürsorge.
Ich wohne in einer der anmutigsten Gegenden San Franziskos. Das Haus, in dem ich wohne, hat hunderttausend Dollar gekostet, die Möbel, die Bibliothek und die Kunstwerke und noch viel mehr. Es ist ein herrschaftliches Haus, nein, ein Palast mit vielen Bedienten. Ich habe nie gewusst, wozu Paläste gut sind. Ich hatte gedacht, um darin zu leben. Jetzt aber weiß ich es. Ich nahm die beiden Frauen von der Straße in meinen Palast, und sie werden bei mir bleiben. Ich hoffe, jedes Zimmer meines Palastes mit Schwestern wie diesen füllen zu können.«
Die Zuhörer waren immer unruhiger und verwirrter geworden, und die Gesichter derer, die auf dem Podium saßen, verrieten immer mehr Schrecken und Niedergeschlagenheit. Und an dieser Stelle erhob Bischof Dickinson sich und verließ mit einem Ausdruck des Widerwillens eilig das Podium und die Halle. Bischof Morehouse aber hatte alles um sich her vergessen, seine Augen strahlten seherisch, und er fuhr fort:
»Oh, meine Schwestern und Brüder, diese meine Handlungsweise zeigte mir einen Weg zur Überwindung aller Schwierigkeiten. Ich hatte bisher nicht gewusst, wozu man Wagen hat. Jetzt weiß ich es. Es gibt sie, damit Schwache, Kranke und Alte fahren können; es gibt sie, damit denen Ehre erwiesen werde, die selbst das Schamgefühl verloren haben. Ich wusste nicht, wozu Paläste erbaut wurden, jetzt aber habe ich erkannt, wozu sie nützlich sind. Die Paläste der Kirche sollten Hospitäler und Heime für die sein, die auf Abwege geraten und gefährdet sind.« Er machte eine lange Pause, völlig von seinen Gedanken überwältigt und in nervöser Aufregung, wie er sie am besten zum Ausdruck bringen sollte.
»Ich bin nicht der Rechte, meine lieben Brüder, von Moral zu Ihnen zu sprechen. Ich habe zu lange in Schmutz und Heuchelei gelebt, als dass ich imstande wäre, anderen zu helfen; aber das, was ich mit den Frauen, meinen Schwestern, getan habe, zeigt mir, dass der bessere Weg leicht zu finden ist. Für die, welche an Jesus und sein Evangelium glauben, kann es nichts anderes zwischen Mensch und Mensch geben als die Liebe. Liebe allein ist stärker als Sünde — stärker als Tod. Deshalb sage ich zu den Reichen unter Ihnen, dass es Ihre Pflicht ist, zu tun, wie ich getan habe und tue. Möge jeder von euch, dem es gut geht, einen Dieb oder eine Unglückliche in sein Haus nehmen und als Bruder oder Schwester behandeln, und San Franzisko wird keine Polizei und keine Obrigkeit mehr brauchen, die Gefängnisse werden in Hospitäler verwandelt werden, und das Verbrechen wird mit den Verbrechern verschwinden.
Wir müssen uns selbst geben, nicht nur unser Geld. Wir müssen tun, was Christus tat. Das ist die Botschaft der Kirche heute. Wir sind weit von der Lehre des Herrn abgewichen. Wir haben Geld an die Stelle Christi gesetzt. Ich möchte euch ein Gedicht vorlesen, in dem alles gesagt wird. Es wurde von einer irrenden Seele geschrieben, die dennoch klar sah(3). Es darf nicht missverständlich als Angriff auf die katholische Kirche aufgefasst werden. Es ist ein Angriff auf alle Kirchen, auf den Pomp und Glanz aller Kirchen, die vom Wege des Herrn abgewichen sind und sich von seinen Lämmern abgesondert haben. Hört:
Silberfanfaren hallten durch den Dom, Und betend lag das Volk auf seinen Knien; Und einem hohen Gotte gleich erschien, Hoch über Tausenden, der heilige Herr von Rom. Nach Art der Priester schneeweiß war sein Kleid, Und Purpur wallte an ihm königgleich; Drei goldene Kronen trug sein Haupt zugleich. So schritt der Papst in Glanz und Herrlichkeit. Da dacht' ich, wie der eine einst allein Verlassen wanderte an ödem Strand, Vergeblich suchend eine Ruhestatt: >Der Fuchs hat seinen Bau, der Vogel hat Sein Nest; ich aber keine Stätte fand, Und Tränen salzen meinen kargen Wein.<«
Die Zuhörer waren erschüttert, aber sie blieben stumm. Bischof Morehouse bemerkte es jedoch nicht. Er fuhr unbeirrt fort:
»Und so sage ich denn zu den Reichen unter euch, und zu allen Reichen überhaupt, dass ihr die Lämmer des Herrn arg bedrängt. Ihr habt eure Herzen verhärtet. Ihr habt eure Ohren den Stimmen verschlossen, die im Lande rufen, Stimmen von Sorge und Qual, die ihr nicht hören wollt, die aber doch eines Tages gehört werden. Und so sage ich euch —«
An dieser Stelle führten H. H. Jones und Philipp Ward, die sich bereits von ihren Sitzen erhoben hatten, den Bischof vom Katheder, während die Zuhörer atemlos und erschüttert dasaßen.
Als wir wieder auf der Straße standen, lachte Ernst hart und wild. Sein Lachen berührte mich unangenehm. Mir schien das Herz von unterdrückten Tränen zerspringen zu wollen.
»Er hat seine Botschaft ausgerichtet«, rief Ernst. »Die Menschlichkeit und das tief verborgene, zarte Wesen ihres Bischofs brachen hervor, und da schlössen seine christlichen Zuhörer, die ihn liebten, dass er verrückt sei! Hast du gesehen, wie behutsam sie ihn fortführten? Die Hölle muss bei diesem Schauspiel gelacht haben.«
»Und doch muss, was der Bischof heute tat und sagte, großen Eindruck gemacht haben«, sagte ich.
»Meinst du?« fragte Ernst spöttisch.
»Es wird Aufsehen erregen«, erklärte ich. »Hast du nicht gesehen, wie die Referenten während seiner Rede sich die Finger wund schrieben?«
»Nicht eine Zeile davon wird morgen in den Zeitungen stehen.«
»Das kann ich nicht glauben!« rief ich.
»Warte nur ab«, lautete die Antwort. »Nicht eine Zeile, nicht ein Gedanke, den er geäußert hat. Die Tagespresse? Lügenpresse!«
»Aber die Referenten?« warf ich ein. »Ich habe sie doch gesehen.«
»Nicht ein Wort von dem, was er gesprochen hat, wirst du gedruckt sehen. Du vergisst die Redakteure. Sie beziehen ihre Gehälter für die Politik, die sie treiben. Und ihre Politik besteht darin, nichts zu drucken, was eine vitale Bedrohung der bestehenden Ordnung bedeutet. Die Rede des Bischofs war ein heftiger Angriff auf die herrschende Moral. Sie war Ketzerei. Man führte ihn vom Podium, um weitere Ketzereien zu verhüten. Die Zeitungen werden seine Ketzereien mit Stillschweigen übergehen. Die Presse der Vereinigten Staaten? Sie ist eine Schmarotzerpflanze, die sich an der kapitalistischen Klasse mästet. Ihre Aufgabe ist, die öffentliche Meinung zugunsten der herrschenden Klasse zu beeinflussen, und das tut sie gründlich.
Lass mich prophezeien. Die Zeitungen werden morgen nur melden, dass die Gesundheit des Bischofs angegriffen, dass er überarbeitet und gestern abend zusammengebrochen sei. Einige Tage später wird man eine Notiz bringen, dass seine Nerven vollkommen zerrüttet seien, und dass seine dankbare Gemeinde ihm einen längeren Urlaub bewilligt habe. Dann wird folgendes geschehen: Entweder wird der Bischof seinen Irrtum einsehen und von seinem Urlaub als ein gesunder Mensch zurückkehren, der keine Visionen mehr hat, oder er beharrt in seinem Wahn, und dann wirst du sicher in den Zeitungen, mit rührendem Zartgefühl versteckt, die Meldung lesen, dass er geisteskrank geworden sei. Und dann wird er seine Visionen gepolsterten Wänden erzählen können.«
»Jetzt gehst du zu weit!« rief ich.
»In den Augen der Gesellschaft ist es wirklich Wahnsinn«, erwiderte er. »Welcher ehrenhafte und nicht wahnsinnige Mann würde Dirnen und Diebe in sein Haus aufnehmen und als Schwestern und Brüder behandeln? Christus starb allerdings zwischen Dieben, aber das ist etwas anderes. Wahnsinn? Die Geistesprozesse eines Menschen, mit dem man nicht übereinstimmt, sind immer irrig, und der Geist dieses Menschen ist daher irre. Wo ist die Grenze zwischen Irren und Irresein? Es ist unfassbar, dass ein gesunder Mensch in völligem Widerspruch mit den Schlüssen eines ändern gesunden Menschen stehen kann.
Ein gutes Beispiel dafür steht in der heutigen Abendzeitung. Am Südende der Market Street wohnt Mary McKennan, eine arme, aber ehrliche Frau. Patriotin ist sie auch. Aber sie hat irrige Gedanken bezüglich der amerikanischen Flagge und des Schutzes, den diese Flagge vermutlich symbolisieren soll. Ihr Mann hatte einen Unfall und musste drei Monate im Krankenhaus liegen. Obwohl sie für andere wusch, blieb sie mit der Miete im Rückstand. Gestern wollte man sie aus ihrer Wohnung treiben. Da hüllte sie sich in eine amerikanische Flagge und erklärte, dass sie nun geschützt sei und nicht auf die kalte Strasse gesetzt werden könnte. Und was geschah? Sie wurde als wahnsinnig festgenommen. Heute ist sie von Irrenärzten untersucht und für verrückt erklärt worden. Man hat sie in das Napa-Asyl gebracht.«
»Aber das ist doch etwas ganz anderes«, warf ich ein.
»Angenommen, ich hätte über den literarischen Wert eines Buches andere Ansichten als alle anderen, so würde man mich doch deshalb nicht in eine Heilanstalt bringen.«
»Sehr richtig«, erwiderte er. »Aber diese Meinungsverschiedenheit ist keine Drohung für die Gesellschaft. Darin eben liegt der Unterschied. Die Meinungsverschiedenheit Mary McKennans und die des Bischofs aber bedrohen die Gesellschaft. Wie, wenn alle Armen die Mietezahlung verweigerten und hinter der amerikanischen Flagge Schutz suchen wollten? Die Grundbesitzer würden ja ruiniert werden. Und die Anschauungen des Bischofs sind ebenso gefährlich für die Gesellschaft. Also in die Anstalt mit ihnen! «
Aber ich wollte es noch nicht glauben.
»Warte es ab«, sagte Ernst, und ich wartete.
Am nächsten Morgen ließ ich alle Zeitungen holen. Insofern hatte Ernst recht: Nicht ein Wort aus der Rede des Bischofs war gedruckt. Ein oder zwei Zeitungen schrieben lediglich, dass der Bischof von seinen Gefühlen übermannt worden sei. Dagegen waren die Plattheiten der Redner, die nach ihm gesprochen hatten, vollständig wiedergegeben.
Einige Tage später erschien eine kurze Notiz, dass der Bischof in Urlaub gegangen sei, um sich von den Folgen einer Überarbeitung zu erholen. So weit war alles gut; von Wahnsinn, ja auch nur von einem Nervenzusammenbruch wurde keine Andeutung gemacht.
Ich ließ mir nicht träumen, welchen Leidensweg der Bischof noch gehen sollte, den Weg nach Golgatha und zum Kreuz, wie Ernst es vorausgesehen hatte.
(1) Der mit diesen Buchstaben bezeichnete Name der Organisation ist nicht festzustellen.
(2) Mit dem Fährboot brauchte man nur wenige Minuten von Berkeley nach San Franzisko. Diese sowie die ändern Städte an der Bucht bilden in Wirklichkeit einen einzigen Komplex.
(3) Oskar Wilde, einer der Meister der Sprache im 19. Jahrhundert der christlichen Zeitrechnung.
Kurz bevor Ernst sich als Kandidat der Sozialisten für den Kongress aufstellen ließ, gab Vater sein »Gewinn- und Verlustessen«, wie er es vertraulich nannte. Ernst nannte es das Essen der Maschinenstürmer. Tatsächlich lud Vater hauptsächlich Geschäftsleute — kleine Geschäftsleute natürlich — ein. Ich zweifle, dass einer von ihnen an irgendeinem Geschäft beteiligt war, dessen Gesamtkapital mehr als einige hunderttausend Dollar betrug. Sie waren echte Vertreter des Mittelstandes.
Da war zum Beispiel Owen von der Firma Silverberg, Owen & Co., einem großen Kolonialwarengeschäft, das mehrere Zweiggeschäfte besaß; wir kauften bei ihnen. Ferner die beiden Teilhaber der großen Drogerie Kowalt & Washburn, sowie Herr Asmunsen, Besitzer eines großen Granitsteinbruchs in Contra Costa Country, und viele ähnliche Leute, Besitzer oder Teilhaber kleiner Fabriken, kleiner Geschäfte — kurz, kleine Kapitalisten.
Es waren gescheit aussehende Männer, und sie sprachen klar und einfach. Sie klagten einmütig über die großen Wirtschaftsverbände und Trusts. Ihre Losung war: »Nieder mit den Trusts!« Die Ursache alles Elends waren die Trusts, und alle beklagten sich darüber. Sie vertraten die Ansicht, dass solche Trusts wie Eisenbahnen und Telegraphen dem Staat übereignet werden müssten; die gewaltigen Anhäufungen von Reichtum sollten durch entsprechende Abgaben verhindert werden. Ferner verlangten sie, dass gemeinnützige Anlagen wie Wasserleitung, Gas, Fernsprecher und Straßenbahn in den Besitz der Gemeinde übergehen sollten.
Besonders interessant war, was Asmunsen als Besitzer des Steinbruchs schilderte. Er erklärte, nie Gewinn aus seinem Steinbruch erzielen zu können, obgleich sein Geschäft seit der Zerstörung San Franziskos durch das große Erdbeben einen riesigen Aufschwung genommen hätte. Vor sechs Jahren wäre der Wiederaufbau San Franziskos in Angriff genommen, sein Geschäft hätte sich seitdem vervierfacht und verachtfacht, und doch habe er nichts davon.
»Die Eisenbahn kennt meine Geschäfte besser als ich«, sagte er. »Sie weiß meine Unkosten auf den Cent genau und kennt sogar meine Lieferungsverträge. Woher sie diese Kenntnisse hat, kann ich nur vermuten. Sie muss Spione in meinem Geschäft und in denen meiner Geschäftsfreunde haben, denn, sehen Sie, sobald ich einen großen Vertrag abschließe, dessen Bedingungen mir einen guten Gewinn versprechen, werden die Frachtsätze von meinem Steinbruch nach den Ablieferungsorten erhöht. Eine Begründung wird nicht gegeben. Die Eisenbahn schluckt meinen Gewinn. Ich habe nie die Eisenbahn von einer solchen Tariferhöhung abbringen können. Gab es andererseits unvorhergesehene Zwischenfälle, erhöhten sich die Unkosten oder mussten Verträge unter weniger aussichtsreichen Bedingungen geschlossen werden, so setzte die Eisenbahn die Frachtsätze stets entsprechend herab. Was ist das Ergebnis? Die Eisenbahn bekommt stets meinen Gewinn, möge er groß oder klein sein.«
»Ihnen bleibt also«, unterbrach Ernst ihn, »ungefähr soviel, wie das Gehalt ausmachen würde, das Sie als Geschäftsführer bekämen, wenn der Steinbruch der Eisenbahn gehörte? «
»Ganz genau«, erwiderte Asmunsen. »Neulich sah ich meine Bücher der letzten zehn Jahre durch und fand, dass ich in diesen zehn Jahren genau so viel verdient hatte, wie das Gehalt eines Geschäftsführers ausgemacht hätte. Die Eisenbahn hätte ebenso gut Besitzerin meines Steinbruchs sein und mich als Geschäftsführer angestellt haben können.«
»Nur mit dem Unterschied«, Ernst lachte, »dass die Eisenbahn dann das Risiko getragen hätte, das Sie ihr nun so entgegenkommend abnehmen.«
»Sehr richtig«, erwiderte Asmunsen erregt.
Nachdem jeder sein Herz ausgeschüttet hatte, begann Ernst nach allen Seiten Fragen zu stellen. Er fing mit Herrn Owen an.
»Haben Sie nicht vor etwa sechs Monaten hier in Berkeley ein Zweiggeschäft eröffnet?«
»Ja«, antwortete Herr Owen.
»Und seitdem haben, wie ich bemerkte, drei kleine Kolonialwarenhandlungen ihre Läden geschlossen. War das Ihre Schuld?«
Herr Owen bejahte mit selbstgefälligem Lächeln. »Sie konnten sich nicht gegen uns halten.«
»Warum nicht?«
»Wir hatten mehr Kapital. Je größer das Geschäft, desto geringer die Unkosten, und desto höher die Leistungsfähigkeit.«
»Und Ihre Filiale hat die Gewinne der drei kleinen Geschäfte aufgesogen. Ich verstehe. Aber sagen Sie, was ist aus den Inhabern der drei Geschäfte geworden?«
»Einer von ihnen fährt einen Lieferwagen für uns. Was aus den beiden ändern geworden ist, weiß ich nicht.«
Ernst wandte sich unvermittelt an Herrn Kowalt.
»Sie verkaufen viel zu herabgesetzten Preisen(1). Was ist aus den kleinen Drogisten geworden, die Sie an die Wand gedrückt haben?«
»Einer von ihnen ist jetzt Leiter unserer Arzneimittelabteilung«, lautete die Antwort.
»Und Sie saugen den Gewinn auf, den früher diese kleineren Geschäfte gemacht haben?«
»Gewiss. Dafür sind wir ja Geschäftsleute.«
»Und sie«, wandte Ernst sich plötzlich an Herrn Asmunsen. »Sie sind entsetzt, weil die Eisenbahn Ihre Gewinne aufgesogen hat?«
Herr Asmunsen nickte.
»Sie möchten wohl den Gewinn für Ihre Tasche haben? «
Herr Asmunsen nickte wieder.
»Auf Kosten anderer?«
Keine Antwort.
»Auf Kosten anderer?« beharrte Ernst.
»So verdient man eben«, erwiderte Herr Asmunsen kurz.
»Dann sehen Sie es als Geschäftsmann für Ihre Aufgabe an, an ändern zu verdienen, diese ändern jedoch zu hindern, an Ihnen zu verdienen, nicht wahr?«
Ernst musste die Frage wiederholen, ehe Herr Asmunsen antwortete.
»Ja, so ist es«, sagte er. »Nur dass wir nichts dagegen haben, dass auch die ändern verdienen, solange dieser Verdienst nicht übermäßig ist.«
»Mit übermäßig meinen Sie groß; aber Sie haben nichts dagegen, selbst großen Verdienst einzuheimsen? Sicher nicht.«
Herr Asmunsen gestand diese Schwäche freundlich ein. Noch ein anderer der Anwesenden wurde jetzt von Ernst aufs Korn genommen, ein Herr Calvin, der früher einmal eine große Molkerei besessen hatte.
»Vor einiger Zeit haben Sie den Milchtrust bekämpft«, sagte Ernst zu ihm; »und jetzt haben Sie sich in die Politik(2) gestürzt. Wie kommt das?«
»Oh, ich habe den Kampf nicht aufgegeben«, antwortete Herr Calvin und sah kriegerisch genug drein. »Ich bekämpfe den Trust auf dem einzigen Felde, wo er bekämpft werden kann, dem politischen. Ich will Ihnen das erklären. Vor einiger Zeit hatten wir Molkereibesitzer vollkommen freie Hand.«
»Aber Sie machten sich gegenseitig Konkurrenz«, unterbrach Ernst ihn.
»Ja, und dadurch wurden die Preise gedrückt. Wir machten Versuche, uns zu organisieren, aber unabhängige Molkereibesitzer durchbrachen den Ring immer wieder. Dann kam der Milchtrust.«
»Finanziert von dem Überschuss der Standard Oil Company(3)«, sagte Ernst.
»Ja«, bestätigte Herr Calvin. »Aber das wussten wir damals nicht. Der Trust kam uns mit dem Knüppel: Macht mit und werdet fett oder bleibt draußen und hungert.< Die meisten von uns traten ein. Wer es nicht tat, hungerte. O ja, der Trust bezahlte... zuerst. Der Milchpreis stieg um einen Cent das Liter, ein Viertel dieses Cents bekamen wir, drei Viertel der Trust, dann stieg der Preis wieder um einen Cent, und davon bekamen wir nichts. Unsere Vorstellungen waren erfolglos. Der Trust stand unter der Kontrolle der Standard Oil Company. Wir entdeckten, dass unsere Anteile verpfändet waren. Schließlich wurde uns der Viertelcent auch nicht mehr zugestanden. Dann begann der Trust uns auszupressen. Was sollten wir tun? Schließlich waren wir ausgepresst, und es gab keinen Molkereibesitzer mehr, nur noch einen Milchtrust.«
»Aber ich sollte meinen, dass Sie mit einem Preisaufschlag von zwei Cents noch konkurrenzfähig gewesen wären«, sagte Ernst listig.
»Das meinten wir auch, und wir versuchten es.« Herr Calvin schwieg einen Augenblick. »Aber das ruinierte uns. Der Trust brachte die Milch billiger auf den Markt, als wir es konnten. Er konnte immer noch mit einem kleinen Gewinn verkaufen, wo wir mit offenbarem Verlust arbeiteten. Ich verlor dabei fünfzigtausend Dollar. Die meisten von uns machten Bankrott(4). Die Molkereibesitzer verloren ihre Existenz.«
»Der Trust nahm Ihnen also Ihren Gewinn«, sagte Ernst. »Und nun versuchen Sie es mit der Politik, um den Trust mit gesetzlichen Mitteln zu vernichten und Ihren Gewinn wiederzubekommen .«
Herrn Calvins Gesicht erhellte sich.
»Genau dasselbe sage ich den Bauern in meinen Ansprachen. Das ist in wenigen Worten unsere Idee.«
»Und doch produziert der Trust die Milch billiger, als die unabhängigen Molkereien es konnten?« forschte Ernst.
»Warum sollte er es nicht bei seiner glänzenden Organisation und den neuen maschinellen Einrichtungen, die sein großes Kapital ermöglicht?«
»Fraglos«, antwortete Ernst. »Er sollte es gewiss, und, mehr noch, er tut es.«
Jetzt holte Herr Calvin zu einem politischen Gespräch aus und setzte seine Ansichten auseinander. Ein Teil der Anwesenden zollte ihm warmen Beifall, und alle waren sich darüber einig, dass die Trusts vernichtet werden müssten.
»Armes, törichtes Volk«, sagte Ernst leise zu mir. »So weit ihre Augen reichen, sehen sie klar, aber ihre Augen reichen nur bis zu ihrer eigenen Nasenspitze.«
Kurz darauf ergriff er wieder das Wort und behielt es in seiner charakteristischen Weise für den Rest des Abends.
»Ich habe Ihnen genau zugehört«, begann er, »und ich sehe deutlich, dass Sie in diesen geschäftlichen Fragen von Ihrem Recht überzeugt sind. Das Leben summiert sich bei Ihnen zu Profiten. Sie haben den festen, steten Glauben, dass Sie nur erschaffen wurden, um Profite zu machen. Nur dass die Sache einen Haken hat. Mitten in Ihrem Profite machen kommt der Trust und nimmt Ihnen die Profite weg. Das ist das Dilemma, das irgendwie dem Zweck der Schöpfung widerspricht, und so erscheint es Ihnen als einziger Ausweg, den zu vernichten, der Ihnen die Profite wegschnappt.
Ich habe Ihnen genau zugehört und kann nur einen Namen finden, der Sie kennzeichnet. Ich will Ihnen diesen Namen nennen, Sie sind Maschinenstürmer. Wissen Sie, was ein Maschinenstürmer ist? Hören Sie zu. Im achtzehnten Jahrhundert webten in England Männer und Frauen in ihren eigenen Hütten auf Handwebstühlen Stoffe. Dieses System der Heimarbeit war langweilig, schwerfällig und kostspielig. Dann kam die Dampfmaschine mit ihrer Ersparnis. Tausend Webstühle wurden in einer großen Fabrik aufgestellt und von einer Zentraldampfmaschine in Gang gesetzt. So konnte der Stoff billiger hergestellt werden als von den Heimarbeitern auf ihren Handwebstühlen. Die Fabrik war ihnen im Herstellungsprozess überlegen, und die Konkurrenz schied aus. Die Männer und Frauen, die bisher ihre Handweberei für eigene Rechnung betrieben hatten, mussten jetzt in die Fabrik gehen und an den Maschinenwebstühlen arbeiten, und zwar zum Nutzen der Kapitalisten. Ja, mehr noch, in diesen Fabriken arbeiteten zu niedrigen Löhnen auch kleine Kinder. Viele Männer wurden dadurch arbeitslos, und es kamen bittere Zeiten für sie. Ihre Lebenshaltung verschlechterte sich. Sie hungerten, und sie sagten, dass die Maschine an allem schuld sei. Deshalb versuchten sie, die Maschine zu stürmen und zu zerstören. Sie hatten kein Glück damit; ihre Einfalt hielt die wirtschaftliche Entwicklung nicht auf. Sie, meine Herren, haben nichts von ihnen gelernt. Jetzt, anderthalb Jahrhunderte später, wollen Sie ebenfalls die Maschine stürmen. Ihrer eigenen Ansicht nach arbeiten die Trusts schneller und billiger, und deshalb können Sie nicht mit ihnen konkurrieren. Und nun möchten Sie diese überlegenen Maschinen stürmen. Der Unterschied zwischen Ihnen und den naiven Arbeitern damals in England ist, dass Sie noch unwissender sind. Während Sie von der Wiederherstellung des freien Wettbewerbs reden, erdrücken die Trusts Sie völlig.
Sie erzählen alle dieselbe Geschichte, wie der freie Wettbewerb ausgeschaltet wurde und die Trusts aufkamen. Sie, Herr Owen, haben den freien Wettbewerb hier in Berkeley vernichtet, als Ihr Zweiggeschäft die drei kleinen Kolonialwarenhändler aus ihren Läden vertrieb. Ihre Firma war stärker. Jetzt spüren Sie den Druck der Trusts und schreien. Sie sind eben kein Trust. Wären Sie ein über die ganzen Vereinigten Staaten verbreiteter Trust, dann würden Sie ein anderes Lied singen. Und das würde lauten: >Gepriesen seien die Trusts.« Ihre kleine Firma ist aber eben kein Trust, und Sie fühlen selbst Ihren Mangel an Kraft. Sie beginnen Ihr eigenes Ende zu ahnen. Sie und Ihre Filialen sind nur Bauern in einem Schachspiel. Sie sehen mächtigere Geschäfte entstehen und täglich mächtiger werden. Sie sehen, wie gepanzerte Fäuste sich auf Ihren Profit legen und hier und dort einen Teil davon nehmen — die Fäuste des Eisenbahntrusts, des Stahl-, des Öl-, des Kohlentrusts — und Sie wissen, dass Sie schließlich erdrückt werden, und dass man Ihnen den letzten Cent Ihres kleinen Profits wegnehmen wird.
Sie sind ein armseliger Spieler, Herr Owen. Als Sie, dank Ihrer besseren Organisation, die drei kleinen Geschäfte in Berkeley an die Wand drückten, brüsteten Sie sich, sprachen von Tatkraft und Unternehmungslust und ließen von dem Gewinn, den Sie durch das Verschlucken der drei kleinen Geschäfte gemacht hatten, Ihre Frau nach Europa reisen. Ein Hund schnappt eben dem anderen den Bissen weg, und Sie haben beide verschluckt. Und nun werden Sie wieder von größeren Hunden aufgefressen, und da heulen Sie. Und was ich Ihnen sage, das gilt allen hier am Tische. Sie heulen alle. Sie fühlen alle, dass Sie Ihr Spiel verloren haben, und deshalb heulen Sie. Durch Ihr Heulen klären Sie die Situation aber nicht, wie ich es getan habe. Sie sagen nicht, dass Sie den Wunsch haben, aus anderen Gewinn herauszuschlagen, und dass Sie nur deshalb heulen, weil andere den Profit, den Sie gemacht haben, wieder aus Ihnen herauspressen. Nein, dazu sind Sie zu schlau. Statt dessen sagen Sie etwas anderes. Sie machen die politischen Redensarten der kleinen Kapitalisten, wie Herr Calvin. Und was sagte er? Ich wiederhole einige seiner Aussprüche, die ich behalten habe: >Unsere wesentlichen Grundgedanken sind richtig«, >Was dieses Land braucht, ist die Rückkehr zu den grundlegenden amerikanischen Methoden — Freie Bahn für alle<, >Der Geist der Freiheit, in dem dieses Volk geboren wurde«, >Lasst uns zu den Grundsätzen unserer Vorfahren zurückkehren.« Wenn er sagt, >Freie Bahn für alle«, so meint er, freie Bahn, um sich Gewinn zu verschaffen, was ihm die großen Trusts jetzt unmöglich machen. Und das Abgeschmackteste dabei ist: Sie haben dieses Schlagwort so oft wiederholt, dass Sie jetzt selbst daran glauben. Sie wollen nur Gelegenheit haben, auf Ihre eigene kleinliche Art und Weise Profite zu machen, aber Sie bemänteln das, indem Sie sich selbst den Gedanken suggerieren, dass Sie Freiheit verlangen. Sie sind unverschämt und gewinnsüchtig, aber der Nimbus Ihrer Phrasen verleitet Sie zu dem Wahn, dass Sie patriotisch seien. Ihre Gewinnsucht, die reiner Eigennutz ist, gaben Sie oft für selbstlose Sorge um die leidende Menschheit aus. Sie sind unter sich, meine Herren, lassen Sie die Maske fallen und seien Sie einmal ehrlich. Blicken Sie den Tatsachen ins Auge und stellen Sie sie mit aufrichtigen Worten fest.«
Jetzt gab es rote und zornige Gesichter an der Tafel und ein gut Teil Schrecken. Sie fürchteten sich ein wenig vor diesem jungen, bartlosen Mann, vor dem Schwung und der Kraft seiner Rede und vor seiner schrecklichen Freude daran, die Dinge beim rechten Namen zu nennen. Herr Calvin antwortete unverzüglich.
»Und warum nicht?« fragte er. »Warum können wir es nicht machen, wie unsere Väter es gemacht haben, als die Republik gegründet wurde? Sie haben viel Wahres gesagt, Herr Everhard, so unangenehm es auch war. Aber wir sind unter uns, und da wollen wir uns aussprechen. Wir wollen alle Masken ablegen und uns zu der Wahrheit, die Herr Everhard klar und deutlich festgestellt hat, bekennen. Es ist richtig, dass wir Kleinkapitalisten hinter dem Gewinn her sind, und dass die Trusts ihn uns wegschnappen. Es ist wahr, dass wir die Trusts vernichten wollen, damit die Gewinne wieder uns zufallen. Aber warum sollten wir das nicht? Warum nicht? Ich frage, warum nicht?«
»Aha, jetzt kommen wir zum Kern der Sache«, sagte Ernst mit zufriedenem Ausdruck. »Ich will Ihnen sagen, warum nicht, wenn meine Worte auch ziemlich hart sein werden. Sehen Sie, meine Herren, Sie haben Ihr Geschäft ganz gut gelernt, aber von der sozialen Entwicklung verstehen Sie gar nichts. Sie befinden sich mitten in einem Übergangsstadium der wirtschaftlichen Entwicklung, aber die verstehen Sie nicht und daher kommt Ihre ganze Verwirrung. Warum Sie nicht zurückkehren werden? Weil sie es nicht können. Sie können den Fluss nicht bergauf fließen lassen, und Sie können die Flut der wirtschaftlichen Entwicklung nicht in den Kanal zurückleiten, aus dem sie gekommen ist. Josua ließ die Sonne über Gibeon stillstehen, aber Sie wollen Josua noch übertreffen. Sie wollen die Sonne am Himmel rückwärts gehen lassen. Sie wollen, dass die Zeit vom Abend zum Morgen zurückgeht.
Angesichts der arbeitersparenden Maschinen, der organisierten Produktion, des durch Zusammenschluss erhöhten Unternehmungsgeistes, wollen Sie die wirtschaftliche Sonne um eine volle Generation oder noch mehr in jene Zeiten zurückversetzen, da es keine Großkapitalisten, keine großen Maschinen, keine Eisenbahnen gab — in die Zeit, da eine Schar kleiner Kapitalisten sich gegenseitig bekämpfte und die Produktion primitiv, zeitraubend, kostspielig und nicht organisiert war. Glauben Sie mir, Josua hatte es leichter, und dazu half ihm Jehova. Aber ihr Kleinkapitalisten seid von Gott verlassen. Die Sonne der Kleinkapitalisten geht unter und wird nie mehr aufgehen. Und Sie haben nicht einmal die Macht, sie stillstehen zu lassen. Sie sind im Begriff, zugrunde zu gehen, und Sie sind dazu verurteilt, ganz von der Oberfläche der Gesellschaft zu verschwinden.
Das ist der Gang der Entwicklung. Es ist das Wort Gottes. Die Trusts sind stärker als der freie Wettbewerb. Der Urmensch war ein furchtsames Geschöpf, das sich in Felsspalten verkroch. Aber er schloss sich zu Horden zusammen und bekriegte seine fleischfressenden Feinde. Es waren Tiere, die sich gegenseitig bekämpften. Der Urmensch war ein Gesellschaftstier, und das war der Grund, dass er die Herrschaft über die anderen Tiere errang. Und der Mensch schuf immer größere Verbände, fest gefügte Organisationen gegen den freien Wettbewerb. Es ist ein Kampf von tausend Jahrhunderten, in denen der freie Wettbewerb immer wieder geschlagen wurde. Wer sich auf die Seite des freien Wettbewerbs stellt, geht zugrunde.«
»Aber die Trusts sind doch selbst aus dem freien Wettbewerb hervorgegangen«, unterbrach ihn Herr Calvin.
»Sehr richtig«, antwortete Ernst. »Und die Trusts haben selbst den freien Wettbewerb unterbunden. Daher sind Sie, Herr Calvin, nach Ihrer eigenen Aussage, nicht mehr Molkereibesitzer.«
Das erste Lachen an diesem Abend erklang am Tische, und selbst Herr Calvin stimmte ein.
»Und da wir gerade einmal bei den Trusts sind«, fuhr Ernst fort, »so lassen Sie uns ein paar Tatsachen feststellen. Ich werde einige Behauptungen machen, und wenn Sie nicht mit mir übereinstimmen, so sprechen Sie. Stillschweigen bedeutet Zustimmung. — Stimmt es nicht, dass ein mechanischer Webstuhl schneller und billiger arbeitet als ein Handwebstuhl?« Er hielt inne, aber niemand widersprach ihm. »Ist es dann nicht sehr unvernünftig, die Maschine zu stürmen und zu der mühsamen und kostspieligen Methode der Handweberei zurückzukehren?« Man nickte zustimmend mit dem Kopfe. »Finden Sie nicht, dass die unter dem Namen Trust bekannte Organisation wirksamer und Billiger arbeitet als tausend miteinander konkurrierende kleine Gesellschaften?« Niemand hatte etwas einzuwenden. »Ist es dann nicht unvernünftig, diese billigen und wirksamen Organisationen zu vernichten?«
Lange antwortete niemand. Dann ergriff Herr Kowalt das Wort:
»Was sollen wir denn tun?« fragte er. »Die Vernichtung der Trusts ist das einzige Mittel für uns, ihrer Herrschaft zu entrinnen.«
Ernst war sofort Feuer und Flamme.
»Ich werde Ihnen einen ändern Weg zeigen«, rief er. »Wir wollen diese wundervollen Maschinen, die so wirksam und billig arbeiten, nicht zerstören. Wir wollen Sie beaufsichtigen. Wir wollen Nutzen aus ihrer Wirksamkeit und Billigkeit ziehen. Lassen Sie sie für uns selbst laufen. Lassen Sie uns die gegenwärtigen Besitzer dieser vorzüglichen Maschinen enteignen und selbst die Maschinen in Besitz nehmen. Das, meine Herren, ist Sozialismus, eine umfassendere Vereinigung als die Trusts, eine höhere wirtschaftliche und soziale Organisation, als die Erde sie je gesehen hat. Das ist die Entwicklungslinie. Wir begegnen der Organisation mit einer noch höheren Organisation. Das schafft uns den Sieg. Kommen Sie herüber zu uns Sozialisten und kämpfen Sie auf der Seite der Sieger.«
Jetzt erhob sich Widerspruch. Man schüttelte die Köpfe, und Murren wurde hörbar.
»Also schön, Sie ziehen es vor, Anachronisten zu sein«, Ernst lachte. »Sie wollen lieber atavistische Rollen spielen. Aber wie alle Atavisten, sind auch Sie dem Untergang geweiht. Haben Sie sich gefragt, was aus Ihnen werden soll, wenn noch größere Verbände als die gegenwärtigen Trusts entstehen? Haben Sie je überlegt, was Sie tun werden, wenn die großen Trusts selbst in dem Verband der Verbände, dem sozialen, wirtschaftlichen und politischen Trust — aufgehen?« Er wandte sich plötzlich an Herrn Calvin.
»Habe ich nicht recht? Sie fühlen den Drang, eine neue politische Partei zu gründen, weil die alte Partei in der Gewalt der Trusts ist. Das größte Hindernis für Ihre Bauernpropaganda sind die Trusts. Hinter jedem Hindernis, dem Sie begegnen, in jedem Schlag, der Sie trifft, in jeder Niederlage, die Sie erleiden, spüren Sie ihre Hand. Stimmt das nicht? Antworten Sie mir.«
Herr Calvin hüllte sich in ein unbehagliches Schweigen.
»Bitte«, ermutigte Ernst ihn.
»Es ist wahr«, gestand Herr Calvin, »wir brachten in der Regierung von Oregon ein glänzendes Schutzgesetz gegen die Trusts durch, aber der Gouverneur, eine Kreatur der Trusts, legte sein Veto ein. Wir wählten einen Gouverneur für Colorado, aber er durfte sein Amt nicht antreten. Zweimal brachten wir eine staatliche Einkommensteuer durch, und beide Male verwarf sie der oberste Gerichtshof als verfassungswidrig. Die Gerichtshöfe befinden sich in den Händen der Trusts. Wir, das Volk, bezahlen unsere Richter unzureichend. Aber es wird eine Zeit kommen —«
»Da die Trusts in ihrer Gesamtheit die ganze Gesetzgebung kontrollieren und selbst die Regierung sein werden«, unterbrach ihn Ernst.
»Niemals! Niemals!« hieß es. Alle waren aufgeregt und kampfbereit.
»Sagen Sie mir«, fragte Ernst, »was werden Sie tun, wenn diese Zeit kommt?«
»Wir werden uns aus aller Kraft dagegen stemmen«, rief Herr Asmunsen, und alle stimmten ihm bei.
»Das würde Bürgerkrieg heißen«, warnte Ernst sie.
»Dann mag es Bürgerkrieg sein«, antwortete Herr Asmunsen, und alle Anwesenden riefen ihren Beifall.
»Wir haben die Taten unserer Vorfahren nicht vergessen. Wir sind bereit, für unsere Freiheit zu kämpfen und zu sterben.«
Ernst lächelte und sagte: »Vergessen Sie nicht, wir sind stillschweigend übereingekommen, dass in Ihrem Falle, meine Herren, Freiheit heißt, aus den ändern Profite herauszupressen .«
Jetzt war die Tafelrunde aufgebracht und zornig, aber Ernst beschwichtigte den Tumult und verschaffte sich Gehör.
»Noch eine Frage. Wenn Sie sich unter Anwendung von Gewalt erheben, dann erinnern Sie sich bitte: die Ursache Ihrer Erhebung wird sein, dass die Regierung sich in den Händen der Trusts befindet. Daher wird die Regierung Ihnen die reguläre Armee, die Flotte, die Miliz, die Polizei, kurz, die ganze organisierte Kriegsmacht der Vereinigten Staaten entgegenstellen. Wo bleiben Sie dann?«
Schrecken prägte sich auf ihren Gesichtern aus, und ehe sie sich erholen konnten, fuhr Ernst fort:
»Erinnern Sie sich, dass unsere reguläre Armee vor nicht langer Zeit nur fünfzigtausend Mann betrug? Von Jahr zu Jahr wuchs sie, und heute ist sie dreihunderttausend Mann stark.«
Er holte zu einem neuen Schlage aus.
»Das ist noch nicht alles. Während Sie eifrig Ihrem Lieblingsphantom, dem Profit, nachjagen und moralistische Betrachtungen über Ihren angebeteten Götzen, den freien Wettbewerb, anstellen, haben die Trusts weit größere und schrecklichere Dinge vollbracht. Denken Sie an die Miliz.«
»Sie ist unsere Stärke«, rief Herr Kowalt. »Mit ihr schlagen wir die reguläre Armee.«
»Sie werden selbst in die Miliz eingereiht werden«, erwiderte Ernst. »Und man wird Sie nach Maine oder nach Florida oder nach den Philippinen oder sonst irgendwohin schicken, um Ihre eigenen Kameraden, die um der Freiheit willen im Bürgerkriege stehen, umzubringen. Unterdessen werden Ihre Kameraden aus Wisconsin oder Kansas oder irgendeinem ändern Staate zur Miliz eingezogen und nach Kalifornien geschickt, um hier Ihre Kameraden umzubringen.«
Jetzt waren sie wirklich erschüttert, sie saßen wortlos da, bis Herr Owen schließlich murmelte:
»Wir werden nicht zur Miliz gehen. So verrückt werden wir nicht sein.«
Ernst lachte hell auf.
»Sie kennen die zustande gekommene Verquickung nicht, Sie haben keinen Ausweg. Sie werden in die Miliz geschleift werden.«
»Es gibt noch etwas wie ein Zivilrecht«, beharrte Herr Owen.
»Nicht, wenn die Regierung das Zivilrecht aufhebt. An dem Tage, an dem Sie davon reden, sich zu erheben, wird man Ihre eigene Macht gegen Sie ausspielen. Sie müssten zur Miliz, ob Sie wollen oder nicht. >Habeas corpus< höre ich einen murmeln. Statt >habeas corpus« würde es für Sie >post mortem< geben. Wenn Sie den Eintritt in die Miliz oder nach Ihrem Eintritt den Gehorsam verweigerten, würde man Sie vor ein Kriegsgericht stellen und wie Hunde niederknallen. Das ist das Gesetz.«
»Das ist das Gesetz nicht«, behauptete Herr Calvin mit Bestimmtheit. »Ein solches Gesetz gibt es nicht, junger Mann, Sie träumen. Sie sprechen von einer Verwendung der Miliz auf den Philippinen. Aber das ist verfassungswidrig. Die Verfassung sagt ausdrücklich, dass die Miliz nie außer Landes geschickt werden darf.«
»Was hat die Verfassung damit zu tun?« fragte Ernst. »Die Gerichtshöfe legen die Verfassung aus, und die Gerichtshöfe sind, wie Herr Asmunsen mir bestätigt hat, Kreaturen der Trusts. Außerdem ist es Gesetz, wie ich gesagt habe; schon seit Jahren, meine Herren, seit neun Jahren.«
»Dass wir zur Miliz ausgehoben werden können?« fragte Herr Calvin ungläubig. »Dass man uns im Weigerungsfalle durch ein Kriegsgericht erschießen könnte?«
»Ja«, erwiderte Ernst, »eben das.«
»Wie kommt es denn, dass wir nie etwas von diesem Gesetz gehört haben«, fragte mein Vater, und ich merkte, dass es auch für ihn neu war.
»Aus zwei Gründen«, sagte Ernst. »Erstens war es nicht notwendig, es den Leuten besonders einzuschärfen. Sie hätten es immer noch früh genug erfahren. Und zweitens wurde das Gesetz heimlich, eilig und eigentlich ohne tatsächliche Diskussion durch Kongress und Senat verabschiedet.
Natürlich brachten die Zeitungen nichts darüber. Aber wir Sozialisten wussten es. Wir veröffentlichten es in unseren Blättern. Aber die lesen Sie ja nie.«
»Ich glaube immer noch, dass Sie träumen«, sagte Herr Calvin hartnäckig. »Das hätte das Land nie zugegeben.«
»Aber das Land hat es zugegeben«, erwiderte Ernst. »Und was das anbetrifft, dass ich träume«, er fuhr mit der Hand in die Tasche und zog eine kleine Broschüre heraus, »— so sagen Sie mir bitte, ob das wie ein Traumgebilde aussieht?«
Er schlug das Heft auf und las:
»Paragraph eins, wird verfügt und so weiter und so weiter, dass die Miliz aus allen diensttauglichen kräftigen Männern der respektiven Staaten, Territorien und des Distrikts von Kolumbia bestehen soll, welche ein Alter von über achtzehn und unter fünfundvierzig Jahren haben.
Paragraph sieben, dass jeder Offizier oder in die Liste eingetragene Mann — denken Sie an Paragraph eins — meine Herren, Sie sind alle in die Liste eingetragen —, dass jeder eingetragene Mann der Miliz, der sich weigert oder es versäumen sollte, sich bei einer der oben näher bezeichneten Musterungen zu erscheinen, vor ein Kriegsgericht gestellt und von einem solchen Kriegsgericht unmittelbar bestraft werden soll.
Paragraph acht, dass diese Kriegsgerichte nur aus Milizoffizieren zu bestehen haben.
Paragraph neun, dass die Miliz, wenn sie zum Kriegsdienst der Vereinigten Staaten einberufen wird, den gleichen Gesetzen und Kriegsartikeln unterstehen soll wie die reguläre Armee.
Da haben Sie es, meine Herren, amerikanische Bürger und Milizgenossen. Vor neun Jahren glaubten wir Sozialisten, dass das Gesetz sich nur gegen die Arbeiter richtete. Jetzt aber will mir scheinen, dass es sich auch gegen Sie richtet. In der kurzen Diskussion, die zugelassen wurde, sagte der Abgeordnete Wiley, dass dieses Gesetz >als eine Art Reserve vorgesehen sei, um den Mob an der Gurgel zu packen< — der Mob sind Sie, meine Herren — >sowie als Schutz gegen alle Wechselfälle des Lebens, der Freiheit und des Eigentums<. Und wenn die Zeit einmal kommen wird, da Sie sich erheben werden, so denken Sie daran, dass es gegen das Eigentum der Trusts geht und gegen die Erlaubnis der Trusts, Sie im Einklang mit dem Gesetz auszupressen. Man hat Ihnen die Zähne ausgebrochen, meine Herren. Man hat Ihnen die Krallen gestutzt. An dem Tage, an dem Sie sich, ohne Zähne und Krallen, erheben, werden Sie so harmlos sein wie ein Heer von Muscheln.«
»Ich glaube es nicht!« rief Kowalt. »Ein solches Gesetz gibt es nicht. Das ist eine von den Sozialisten erfundene Zeitungsente.«
»Das Gesetz wurde am 30. Juli 1902 eingebracht, und zwar von Diek, dem Abgeordneten von Ohio. Es wurde in aller Eile durchgepeitscht und am 14. Januar 1903 vom Senat einstimmig angenommen. Und genau sieben Tage später wurde es vom Präsidenten der Vereinigten Staaten genehmigt(4).«
(1) Die Herabsetzung des Verkaufspreises bis zum Einkaufspreis und selbst darunter. Große Geschäfte konnten einen derartigen verlustreichen Verkauf länger ertragen als kleine und entledigten sich auf diese Weise manches Konkurrenten. Eine allgemein übliche Art des Wettbewerbs.
(2) In dieser Periode wurden viele Anstrengungen gemacht, die Bauern, denen es von Tag zu Tag schlechter ging, in einer politischen Partei zu organisieren, deren Ziel es war, die Trusts und ähnliche Körperschaften durch strenge Gesetzgebung zu vernichten. Alle solchen Versuche mussten mit einem Fehlschlage enden.
(3) Der erste erfolgreiche große Trust, der fast ein Menschenalter vor den ändern gegründet wurde.
(4) Everhard hatte im wesentlichen recht, wenn er sich auch in den Daten irrte. Das Gesetz wurde nicht am 30. Juli, sondern am 30. Juni eingebracht. Der Kongressbericht befindet sich hier in Ardis, und wenn man ihn einsieht, findet man folgende Daten bezüglich dieses Gesetzes: 30. Juni, 9., 5., und 17. Dezember 1902, sowie 7. und 14. Januar 1903. Die Unwissenheit der Geschäftsleute, die sich an dem Abend offenbarte, war nichts Ungewöhnliches. Nur wenige Menschen kannten die Existenz dieses Gesetzes. E. Untermann, ein Revolutionär, veröffentlichte im Juni 1903 ein Pamphlet gegen Girard, Kansas, über das »Milizgesetz«. Das Pamphlet wurde fast nur in Arbeiterkreisen gelesen; soweit war die Trennung der Klassen schon vorgeschritten, dass der Mittelstand überhaupt nichts davon hörte und so in Unwissenheit über das Gesetz blieb.
Die durch seine Enthüllungen verursachte Bestürzung hatte sich noch nicht gelegt, als Ernst fortfuhr:
»Eine ganze Reihe von Ihnen hat heute abend behauptet, dass Sozialismus etwas Unmögliches sei. Sie haben seine Unmöglichkeit verfochten, und jetzt lassen Sie mich Ihnen seine Unvermeidlichkeit darlegen. Es ist nicht nur unvermeidlich, dass Sie, die Kleinkapitalisten, untergehen, auch der Untergang der Großkapitalisten und der Trusts ist unvermeidlich. Vergessen Sie nicht, dass die Flut der Entwicklung nie rückwärts fließt. Sie fließt immer weiter, vom freien Wettbewerb zum Verband, vom kleinen Verband zum großen, vom großen zum riesigen, und sie ergießt sich schließlich in den Sozialismus, den riesigsten aller Verbände.
Sie sagen, dass ich träume. Schön. Ich werde Ihnen die Mathematik meines Traumes darlegen; und ich fordere sie von vornherein auf, mir zu beweisen, dass meine Mathematik nicht stimmt. Ich werde Ihnen zeigen, dass der Zusammenbruch des kapitalistischen Systems unvermeidlich ist, und ich werde die Unvermeidlichkeit dieses Zusammenbruchs mathematisch beweisen. Ich beginne, und bitte Sie nur, etwas Geduld mit mir zu haben, wenn ich anfangs ein wenig weitschweifig bin.
Lassen Sie uns zunächst einmal einen einzelnen Industriezweig ins Auge fassen, und wenn ich irgend etwas behaupten sollte, mit dem Sie nicht übereinstimmen, so bitte ich Sie, mich zu unterbrechen. Nehmen wir eine Schuhwarenfabrik. Diese Fabrik kauft Leder und verarbeitet es zu Schuhen.
Sagen wir, es wären für hundert Dollar Leder. Es geht durch die Fabrik und kommt in Form von Schuhen wieder heraus, die einen Wert von, sagen wir, zweihundert Dollar haben. Der Wert des Leders hat sich also um hundert Dollar vermehrt. Wie ist das gekommen? Lassen Sie uns sehen. Kapital und Arbeit haben also den Wert um hundert Dollar gesteigert. Das Kapital stellt die Fabrik, die Maschinen und kommt für alle Auslagen auf. Arbeit liefert Arbeit. Durch vereinte Kraft von Kapital und Arbeit wurde der Wertzuwachs von hundert Dollar geschaffen. Sind wir soweit einig? «
Die Tafelrunde nickte zustimmend.
»Arbeit und Kapital haben also diese hundert Dollar verdient, und nun gehen sie daran, zu teilen. Die Statistiken dieser Teilung rechnen mit Brüchen: wir wollen der Bequemlichkeit halber runde Zahlen nehmen. Das Kapital nimmt fünfzig Dollar als seinen Anteil, und die Arbeit erhält fünfzig Dollar in Lohn als ihren Anteil. Wir wollen hier nicht auf die Streitigkeiten bezüglich der Teilung eingehen(1) . Wie sehr man sich auch streiten mag, zu irgendeinem Prozentsatz muss die Teilung doch vorgenommen werden. Und bedenken Sie, dass das, was für diesen einen Industriezweig in Frage kommt, auch für alle ändern Fabrikationszweige zutrifft. Habe ich recht?«
Wieder nickte der ganze Tisch zustimmend.
»Und nun setzen wir den Fall, dass die Arbeit, die ihre fünfzig Dollar erhalten hat, ihrerseits Schuhe kaufen wollte.
Sie kann das nur im Wert von fünfzig Dollar. Das ist klar, nicht wahr?
Und nun nehmen wir statt dieses einzelnen Zweiges die ganze Summe aller industriellen Zweige in den Vereinigten Staaten, die die Herstellung des Leders selbst, die Lieferung der Rohstoffe, den Transport und den Verkauf, kurz, alles einschließen. Nehmen wir, um eine runde Summe zu nennen, an, dass die Gesamtproduktion an Sachwerten in den Vereinigten Staaten vier Milliarden Dollar jährlich beträgt. In derselben Zeit hat die Arbeit einen Lohn von zwei Milliarden Dollar erhalten. Vier Milliarden sind produziert worden. Wie viel kann die Arbeit hiervon zurückkaufen? Zwei Milliarden. Darüber kann es keine Meinungsverschiedenheit geben, das ist sicher. Im übrigen ist der Teilungssatz, den ich angenommen habe, sehr hoch, denn in Tausenden von kapitalistischen Unternehmungen kann die Arbeit bei weitem nicht die Hälfte der Gesamtproduktion zurückkaufen. Wir wollen aber annehmen, dass die Arbeit zwei Milliarden zurückkaufen kann. Das heißt, dass die Arbeit nur zwei Milliarden verbrauchen kann. Wir müssen also mit zwei Milliarden rechnen, die die Arbeit nicht zurückkaufen und verbrauchen kann.«
»Die Arbeit verbraucht ihre zwei Milliarden nicht«, unterbrach ihn Herr Kowalt. »Täte sie es, dann gäbe es keine Ersparnisse in den Sparkassen.«
»Die Ersparnisse der Arbeit in den Sparkassen sind nur eine Art Reservefonds, der ebenso schnell wieder verbraucht wird, wie er sich anhäuft. Die Ersparnisse sind für Alter, Krankheit und unvorhergesehene Fälle sowie für Begräbniskosten gemacht. Sie sind einfach ein Stück Brot, das man wieder in den Schrank gelegt hat, um es erst am nächsten Tage zu essen. Nein, die Arbeit verbraucht alles, was ihr Lohn von der Produktion zurückkauft.
Zwei Milliarden verbleiben dem Kapital. Verbraucht das Kapital, nachdem es alle seine Ausgaben bestritten hat, den Rest? Verbraucht das Kapital seine ganzen zwei Milliarden? «
Ernst hielt inne und richtete die Frage an verschiedene Herren. Sie schüttelten die Köpfe.
»Ich weiß es nicht«, sagte einer von ihnen freimütig.
»Natürlich wissen Sie es«, fuhr Ernst fort. »Denken Sie einen Augenblick nach. Wenn das Kapital seinen Anteil verbrauchte, könnte die Gesamtsumme des Kapitals nicht wachsen. Sie würde konstant bleiben. Wenn Sie die ökonomische Geschichte der Vereinigten Staaten betrachten wollen, werden Sie sehen, dass die Gesamtsumme des Kapitals beständig gewachsen ist. Das heißt, dass das Kapital seinen Anteil nicht verbraucht. Erinnern Sie sich noch der Zeit, als England einen großen Teil unserer Eisenbahnaktien besaß? Mit den Jahren kauften wir diese Aktien zurück. Was heißt das? Dass der unverbrauchte Teil des Kapitals die Aktien zurückkaufte. Was bedeutet die Tatsache, dass heute die Kapitalisten der Vereinigten Staaten Hunderte und aber Hunderte von Millionen Dollar in mexikanischen, russischen und griechischen Aktien besitzen? Das bedeutet, dass diese Hunderte und aber Hunderte Millionen von ihrem Kapitalanteil nicht verbraucht wurden. Seit Beginn des kapitalistischen Systems hat das Kapital seinen Anteil nie völlig verbraucht.
Und nun kommen wir zur Hauptsache. Vier Milliarden Werte werden jährlich in den Vereinigten Staaten produziert. Hiervon kauft die Arbeit zwei Milliarden zurück und verbraucht sie. Das Kapital verbraucht die ihm verbleibenden zwei Milliarden nicht. Es verbleibt also ein großer, unverbrauchter Überschuss. Und was geschah mit diesem Überschuss? Was geschieht mit ihm? Die Arbeit kann nichts davon verbrauchen, denn sie hat ihren Lohn ja bereits ausgegeben. Das Kapital verbraucht diesen Überschuss ebenfalls nicht, weil es naturgemäß soviel, wie es konnte, verbraucht hat. Aber der Überschuss ist noch da. Was kann damit geschehen? Was ist damit geschehen?« »Er geht ins Ausland«, meinte Herr Kowalt. »Sehr richtig«, stimmte Ernst ihm zu. »Dieser Überschuss verursacht unsern Bedarf an ausländischen Abnehmern. Er wird exportiert. Er muss exportiert werden. Es gibt keine andere Möglichkeit, ihn loszuwerden. Und dieser unverbrauchte und exportierte Überschuss wird zu dem, was wir unsere günstige Handelsbilanz nennen. Sind wir soweit einig?«
»Es dürfte Zeitverschwendung sein, uns dieses Abc des Handels auseinanderzusetzen«, sagte Herr Calvin mürrisch. »Das verstehen wir alle.«
»Und gerade durch dieses Abc, das ich Ihnen so genau auseinandergesetzt habe, werde ich Sie aufrütteln!« erwiderte Ernst. »Das ist das Schöne daran. Und ich fange jetzt gleich an.
Die Vereinigten Staaten sind ein kapitalistisches Land, das seine Hilfsquellen aufgeschlossen hat. Zufolge seinem kapitalistischen System in der Industrie hat es unverbrauchte Überschüsse, die es abstoßen muss, und zwar ins Ausland(2). Und was von den Vereinigten Staaten gilt, gilt von jedem kapitalistischen Staate mit erschlossenen Hilfsquellen. Jedes dieser Länder hat einen unverbrauchten Überschuss. Vergessen Sie nicht, dass sie schon miteinander Handel getrieben haben, und dass diese Überschüsse doch geblieben sind. Die Arbeit in allen diesen Ländern hat ihre Löhne ausgegeben und kann von dem Überschuss nichts kaufen. Das Kapital in allen diesen Ländern hat auch schon verbraucht, was es ausgeben konnte. Und immer bleiben noch Überschüsse. Gegenseitig können diese Länder sich die Überschüsse nicht verkaufen. Wie werden sie sie also los?«
»Sie verkaufen sie an Länder mit unerschlossenen Hilfsquellen«, meinte Herr Kowalt.
»Sehr richtig. Sehen Sie, meine Beweisführung ist so klar und einfach, dass Sie sie selbst in Ihren Gedanken weiterführen. Und weiter. Gesetzt, die Vereinigten Staaten verkauften ihren Überschuss an ein Land mit unerschlossenen Hilfsquellen. Sagen wir, Brasilien. Was erhielten nun die Vereinigten Staaten von Brasilien als Gegenwert?«
»Gold«, sagte Herr Kowalt.
»Aber es gibt nur soundso viel Gold auf der Welt, und nicht allzu viel«, warf Ernst ein.
»Gold in Gestalt von Sicherheiten, Aktien und so weiter«, ergänzte Herr Kowalt.
»Da haben Sie's«, sagte Ernst. »Die Vereinigten Staaten erhalten von Brasilien als Gegenwert Aktien und Sicherheiten. Und was bedeutet das? Das bedeutet, dass die Vereinigten Staaten dann Besitzer von Eisenbahnen, Fabriken, Bergwerken und Ländereien in Brasilien sein werden. Und was bedeutet das wiederum?«
Herr Kowalt überlegte und schüttelte den Kopf.
»Ich will es Ihnen sagen«, fuhr Ernst fort. »Das bedeutet, dass die Hilfsquellen von Brasilien erschlossen werden. Und nun weiter. Wenn Brasilien unter dem kapitalistischen System seine Hilfsquellen erschlossen hat, wird es selbst einen unverbrauchten Überschuss haben. Kann es diesen Überschuss an die Vereinigten Staaten loswerden? Nein, denn die Vereinigten Staaten haben selbst einen Überschuss. Können die Vereinigten Staaten ihren Überschuss an Brasilien loswerden wie bisher? Nein, denn jetzt hat Brasilien einen Überschuss.
Was geschieht nun? Die Vereinigten Staaten und Brasilien müssen sich andere Länder mit unerschlossenen Hilfsquellen suchen, um ihren Überschuss an sie abzugeben. Und wenn das geschieht, werden auch diese Länder ihre Hilfsquellen erschließen, dann bekommen auch sie Überschüsse und suchen sich ihrerseits wieder Absatzgebiete in anderen Ländern. Jetzt, meine Herren, passen Sie auf. Unser Planet hat nur eine bestimmte Größe. Es gibt nur soundsoviel Länder auf der Welt. Was geschieht, wenn alle Länder der Welt, selbst das kleinste und letzte, mit einem Überschuss in der Hand allen anderen Ländern, die ebenfalls Überschüsse haben, gegenüberstehen?«
Er machte eine Pause und sah die Zuhörer an. Die Bestürzung in ihren Mienen war belustigend. Aber auch Schrecken lag in ihnen. Durch abstrakte Begriffe hatte Ernst eine Vision beschworen. Und jetzt, da sie sie sahen, wurden sie von Schrecken gepackt.
»Wir sind vom Abc ausgegangen, Herr Calvin«, sagte Ernst listig. »Ich habe Ihnen jetzt das ganze Alphabet hergesagt. Es ist sehr einfach. Das ist das Schöne daran. Sie haben gewiss die Antwort bereit. Also bitte, wenn jedem Land der Erde ein unverbrauchter Überschuss bleibt, wo bleibt dann Ihr kapitalistisches System?«
Aber Herr Calvin schüttelte ärgerlich den Kopf. Er überlegte augenscheinlich, in der Hoffnung, einen Irrtum in Ernsts Beweisführung zu finden.
»Wir wollen die Sache noch einmal kurz durchsprechen«, sagte Ernst. »Wir gingen von einem einzelnen Industriezweig, der Schuhwarenfabrikation, aus. Wir sahen, dass die Produktionsteilung dort der aller anderen industriellen Betriebe ähnelt. Wir sahen, dass die Arbeit mit ihrem Lohn nur einen gewissen Teil der Produktion zurückkaufen konnte, und dass das Kapital den ihm verbleibenden Anteil nicht ganz aufbrauchte. Wir sahen, dass immer noch ein unverbrauchter Überschuss blieb, nachdem die Arbeit ihren ganzen Lohn, und das Kapital alles, was es benötigte, verbraucht hatte. Wir wurden uns darüber einig, dass dieser Überschuss nur an das Ausland abgesetzt werden konnte, dass infolgedessen die Hilfsquellen dieses Landes aufgeschlossen wurden und dieses Land binnen kurzem selbst einen unverbrauchten Überschuss haben musste. Wir dehnten diesen Vorgang auf alle Länder der Erde aus, bis jedes Land jährlich und täglich einen unverbrauchten Überschuss produzierte, den es nicht mehr an das Ausland absetzen konnte. Und nun frage ich Sie noch einmal: Was fangen wir mit diesem Überschuss an?«
Noch immer antwortete niemand.
»Herr Calvin?« fragte Ernst.
»Das geht über meinen Horizont«, gestand Herr Calvin.
»Ich habe mir solche Dinge nie träumen lassen«, sagte Herr Asmunsen. »Und jetzt scheinen sie mir so klar wie gedruckt .«
Zum ersten Mal hörte ich nun die Auslegung der Lehre Marx(3) vom Mehrwert; Ernst entwickelte sie, und zwar so einfach, dass auch ich bestürzt und wie vom Donner gerührt dasaß.
»Ich will Ihnen sagen, wie Sie den Überschuss loswerden können«, fuhr Ernst fort. »Werfen Sie ihn ins Meer. Werfen Sie jedes Jahr Hunderte von Millionen Dollar in Schuhen, in Weizen , in Kleidern, in sämtlichen Handelsartikeln ins Meer. Wäre das nicht eine Lösung?«
»Zweifellos«, antwortete Herr Calvin. »Aber es ist abgeschmackt von Ihnen, so zu reden.«
Ernst wandte sich blitzschnell gegen ihn.
»Ist es auch nur im geringsten abgeschmackter als das, was Sie Maschinenstürmer reden, wenn Sie die Rückkehr zu den vorsintflutlichen Methoden Ihrer Vorfahren fordern? Welche Vorschläge machen Sie, um die Überschüsse loszuschlagen? Sie würden der ganzen Frage einfach aus dem Wege gehen, indem Sie keinen Überschuss produzierten. Aber wie wollen Sie den Überschuss vermeiden: durch Rückkehr zu einer primitiven Produktionsweise, die so verworren, unordentlich und vernunftswidrig, so zeitraubend und kostspielig ist, dass es unmöglich wäre, einen Überschuss zu produzieren !«
Herr Calvin schluckte. Der Hieb saß. Er schluckte mehrmals und räusperte sich.
»Sie haben recht«, sagte er. »Ich bin geschlagen. Es ist abgeschmackt. Aber wir müssen etwas tun. Für uns vom Mittelstand ist es eine Frage auf Leben und Tod. Wir wollen nicht zugrunde gehen. Lieber wollen wir abgeschmackt sein und zu der sicher rohen, primitiven und unökonomischen Methode unserer Vorfahren zurückkehren. Wir wollen die Industrie auf das Vor-Trust-Stadium zurückführen. Wir wollen die Maschinen stürmen. Und was wollen Sie dagegen machen?«
»Aber Sie können die Maschinen nicht stürmen«, erwiderte Ernst. »Sie können die Flut der Entwicklung nicht rückwärts lenken. Ihnen stehen zwei Mächte gegenüber, deren jede allein stärker ist als der Mittelstand. Die Großkapitalisten, die Trusts verlegen Ihnen den Rückweg. Sie wollen nicht, dass die Maschinen zerstört werden. Und größer noch als die Macht der Trusts ist die der Arbeit. Sie erlaubt Ihnen nicht, die Maschinen zu stürmen. Die Weltherrschaft, und mit ihr die Maschine, liegt zwischen Trust und Arbeit. Dort ist die Schlachtfront. Auf keiner Seite will man die Vernichtung der Maschinen, auf jeder Seite aber ihren Besitz. In diesem Kampf ist kein Raum für den Mittelstand, der ist ein Zwerg zwischen zwei Riesen. Sie müssen einsehen, dass Sie, die Angehörigen des armen, dem Untergang geweihten Mittelstandes, zwischen zwei Mühlsteine gepresst sind, und dass das Mahlen soeben begonnen hat.
Ich habe Ihnen mathematisch bewiesen, dass der Zusammenbruch des kapitalistischen Systems unvermeidlich ist. Wenn jedes Land mit einem unverbrauchten und unverkäuflichen Überschuss in der Hand dasteht, wird das kapitalistische System unter dem schrecklichen Profitgebäude zusammenbrechen, das es selbst errichtet hat. Dann aber wird es für den Mittelstand ganz unerträglich werden. Für die Vereinigten Staaten, für die ganze Welt wird ein neues, gewaltiges Zeitalter anbrechen. Statt von den Maschinen zermalmt zu werden, wird das Leben durch sie angenehmer, glücklicher und schöner gestaltet werden. Sie vom untergegangenen Mittelstand und der Arbeiter — es wird dann nur noch Arbeiter geben — Sie und alle Arbeiter werden die Produkte der wunderbaren Maschinen gerecht verteilen. Und wir alle werden neue und noch wunderbarere Maschinen bauen. Und es wird keinen unverbrauchten Überschuss geben, weil es keinen Gewinn gibt.«
»Gesetzt aber, in diesem Kampf um die Herrschaft über die Maschine und die Welt würden die Trusts siegen?« fragte Herr Kowalt.
»Dann«, antwortete Ernst, »werden Sie und die Arbeiter und wir alle von der eisernen Ferse der unbarmherzigsten, furchtbarsten Despotismus, den die Geschichte der Menschheit je gesehen hat, zermalmt werden. Diesen Despotismus würde man treffend mit dem Namen >Die Eiserne Ferse<(4) bezeichnen.«
Eine lange Pause entstand, in der jeder sich ungewohnten, schweren Gedanken hingab.
»Aber Ihr Sozialismus ist ein Traum«, sagte Herr Calvin und wiederholte:
»Ein Traum.«
»Dann will ich Ihnen etwas zeigen, was kein Traum ist«, antwortete Ernst. »Und dieses Etwas will ich Oligarchie nennen. Sie nennen es Plutokratie. Wir meinen beide dasselbe: die Großkapitalisten oder die Trusts. Wir wollen sehen, wer heute die Macht hat. Und zu diesem Zweck wollen wir die Gesellschaft in Klassen einteilen.
Es gibt drei große Klassen in der Gesellschaft. Erstens: die Plutokratie, die sich aus reichen Bankiers, Eisenbahnmagnaten, Verbandsdirektoren und Trustmagnaten zusammensetzt. Zweitens: den Mittelstand, Ihre Klasse, die aus Landwirten, Kaufleuten, kleinen Fabrikanten und berufstätigen Leuten besteht. Drittens und letztens: meine Klasse, das Proletariat, das aus Lohnarbeitern zusammengesetzt ist(5).
Sie können nicht leugnen, dass der Besitz heute eine wesentliche Macht in den Vereinigten Staaten bedeutet. Wie ist der Besitz unter den drei Klassen verteilt? Ich werde Ihnen Zahlen nennen. Die Plutokratie besitzt Werte für siebenundsechzig Milliarden. Von sämtlichen gewerbetreibenden Menschen in den Vereinigten Staaten gehören nur neun-zehntel Prozent der Plutokratie an, aber siebzig Prozent des gesamten Reichtums sind in ihrem Besitz. Der Mittelstand besitzt vierundzwanzig Milliarden. Neunundzwanzig Prozent der berufstätigen Menschen gehören dem Mittelstand an, und ihr Anteil am Gesamtvermögen beträgt fünfundzwanzig Prozent. Endlich das Proletariat. Das besitzt vierzig Milliarden und stellt siebzig Prozent der arbeitenden Bevölkerung. In seinem Besitz befinden sich vier Prozent der gesamten Werte. Wer hat die Macht, meine Herren?«
»Nach Ihren eigenen Angaben sind wir vom Mittelstand mächtiger als die Arbeiter«, bemerkte Herr Asmunsen.
»Dass Sie uns schwach nennen, macht Sie im Vergleich zur Macht der Plutokratie nicht stärker«, gab Ernst zurück »Aber ich bin noch nicht fertig. Es gibt eine größere Macht als Reichtum, größer deshalb, weil sie einem nicht genommen werden kann. Unsere Stärke, die Stärke des Proletariats, liegt in unseren Muskeln, in unseren Händen, die Stimmzettel abgeben, in unseren Fingern, die Gewehre abdrücken können. Diese Stärke kann uns nicht genommen werden. Es ist die Urkraft, die Kraft, die dem Leben verwandt ist, die Kraft, die stärker ist als Reichtum, und die uns der Reichtum nicht nehmen kann.
Ihre Kraft aber ist entreißbar. Sie kann Ihnen genommen werden. Gerade jetzt ist die Plutokratie dabei, es zu tun, und sie wird sie Ihnen schließlich ganz nehmen. Und dann haben Sie aufgehört, Mittelstand zu sein. Sie werden zu uns herabsteigen und Proletarier sein. Und das Beste dabei ist, dass Sie dann unsere Kraft vermehren werden. Wir werden Sie als Brüder begrüßen und Schulter an Schulter mit Ihnen für die Sache der Menschheit kämpfen.
Sie sehen, der Arbeiter hat nichts Konkretes, das man ihm nehmen kann. Sein Anteil am Volksvermögen besteht aus Kleidern und Haushaltungsgegenständen; in sehr seltenen Fällen hat er einmal ein eigenes Heim. Sie aber haben konkrete Werte, vierundzwanzig Milliarden, und die will die Plutokratie Ihnen wegnehmen. Natürlich besteht auch beim Proletariat ein starkes Verlangen, sie Ihnen zu nehmen. Sie sind sich Ihrer Lage nicht klar, meine Herren? Der Mittelstand ist ein schwaches kleines Lamm zwischen Löwen und Tigern. Einer von beiden verschlingt sie. Und wenn die Plutokratie Sie auch zuerst verschlingen sollte, nun, so ist es nur eine Frage der Zeit, wann das Proletariat die Plutokratie verschlingen wird.
Ihr gegenwärtiger Reichtum ist kein zuverlässiger Gradmesser für Ihre Macht . Ihr Reichtum ist in diesem Augenblick nichts als eine leere Schale. Deshalb lautet Ihr schwacher Kriegsruf: >Zurück zu den Methoden unserer Väter !< Sie sind sich Ihrer Machtlosigkeit bewusst. Sie wissen, dass Ihre Stärke eine leere Schale ist, und ich will Ihnen das beweisen.
Welche Macht haben die Landwirte? Mehr als fünfzig Prozent sind Sklaven angesichts der Tatsache, dass sie nur Pächter oder tief verschuldet sind. Und alle sind Sklaven angesichts der Tatsache, dass die Trusts alle Mittel zum Vermarkten des Getreides, wie Speicher, Eisenbahnen, Elevatoren und Dampferlinien, besitzen oder unter ihrer Kontrolle haben. Und noch mehr, die Trusts kontrollieren den Markt selbst. Die Bauern haben gar keine Macht in diesen Dingen. Über ihre politische Macht werde ich später sprechen, und zwar werde ich dabei gleich über die politische Macht des Mittelstandes reden.
Tag für Tag pressen die Trusts die Landwirte aus, wie sie Herrn Calvin und die übrigen Molkereibesitzer ausgepresst haben. Und Tag für Tag werden die Kaufleute auf dieselbe Weise ausgepresst. Erinnern Sie sich, dass der Tabaktrust in New York allein in sechs Monaten über vierhundert Zigarrengeschäfte aufgesogen hat. Wo sind die einstigen Besitzer der Kohlengruben? Sie wissen heute, ohne dass ich es Ihnen zu sagen brauche, dass der Eisenbahntrust Anthrazitgruben und Asphaltfelder besitzt oder kontrolliert. Besitzt der Standard Oil Trust(6) nicht an zwanzig Ozeanlinien? Und steht nicht auch alles Kupfer unter seiner Kontrolle, abgesehen vom Hüttentrust, einem kleinen Außenseiter? Zehntausend Städte in den Vereinigten Staaten erhalten ihr Licht von Gesellschaften, die im Besitz des Standard Oil Trusts sind oder unter seiner Kontrolle stehen, und in ebenso vielen Städten befinden sich alle elektrischen Verkehrsmittel — Straßenbahnen, Hochbahnen und Untergrundbahnen — in seinen Händen. Die kleinen Kapitalisten, denen diese Tausende von Unternehmungen gehörten, sind dahin. Das wissen Sie. Und ebenso wird es Ihnen ergehen.
Dem kleinen Fabrikanten ergeht es ebenso wie dem Landwirt; beide sind heute zu Vasallen erniedrigt. Im übrigen sind heute alle Angehörigen freier Berufe, alle Künstler, wenn auch nicht dem Namen nach, Leibeigene und die Politiker Knechte. Warum arbeiten Sie, Herr Calvin, Tag und Nacht, um die Bauern mit den übrigen Mitgliedern des Mittelstandes zu einer neuen, politischen Partei zu vereinigen? Weil die Angehörigen der alten Partei nichts mit Ihren atavistischen Ideen zu tun haben wollen. Und warum wollen sie das nicht? Weil sie, wie ich sagte, Knechte und Vasallen der Plutokratie sind.
Ich nannte die Angehörigen der freien Berufe Leibeigene. Was sind sie denn anderes? Sie alle, Professoren, Redakteure, Geistliche, behalten ihre Stellungen nur, weil sie der Plutokratie dienstbar sind, und ihr Dienst besteht darin, nur Ideen zu verbreiten, die der Plutokratie nichts schaden, oder die sie fördern. Verbreiten sie Ideen, die für die Plutokratie bedrohlich sind, so verlieren sie ihre Stellungen und steigen, wenn sie nicht für schlechte Tage vorgesorgt haben, zum Proletariat hinab, gehen entweder unter oder werden Agitatoren der arbeitenden Klasse. Und vergessen Sie nicht, dass Presse, Kanzel und Universität die öffentliche Meinung machen und das Denken des Volkes bestimmen. Die Künstler wiederum schmeicheln fast ausschließlich dem vulgären Geschmack der Plutokratie.
Alles in allem aber ist der Reichtum an sich gar nicht die wirkliche Macht; er ist nur das Mittel dazu, die Macht selbst ist die Regierung. Wer aber beaufsichtigt heute die Regierung? Das Proletariat mit seinen zwanzig Millionen Arbeitnehmern? Selbst Sie lachen über diesen Gedanken. Der Mittelstand mit seinen acht Millionen tätigen Mitgliedern? Nein, nicht mehr als das Proletariat. Wer kontrolliert also die Regierung? Die Plutokratie mit ihrer knappen Viertelmillion tätiger Mitglieder. Aber auch diese Viertelmillion kontrolliert die Regierung, nicht, wenn sie auch wirksame Beihilfe dazu leistet. Es ist das Hirn der Plutokratie, das die Regierung kontrolliert. Und dieses Hirn besteht aus sieben(7) kleinen, aber mächtigen Gruppen. Und vergessen Sie nicht, dass diese Gruppen heute wirklich gemeinsam arbeiten.
Lassen Sie uns nur eine einzige dieser Eisenbahngruppen herausgreifen und ihre Macht betrachten. Sie beschäftigt vierzigtausend Rechtsanwälte, um das Volk zu entrechten. Sie verschenkt ungezählte Tausende von Fahrkarten an Richter, Bankiers, Redakteure, Minister, Akademiker und Mitglieder der gesetzgebenden Körperschaften und des Kongresses. Sie unterhält in der Hauptstadt eines jeden Staates sowie in der Landeskapitale üppig eingerichtete Lobbys(8) Und in allen ändern größeren und kleineren Städten des Landes beschäftigt sie eine ungeheure Armee von Winkeladvokaten und kleinen Politikern, deren Aufgabe es ist, Parteitagungen beizuwohnen, Versammlungen einzuberufen, sich zu Geschworenen machen zu lassen, Richter zu bestechen und in jeder Weise die Interessen der Gruppe zu vertreten(9).
Meine Herren, ich habe nur die Macht einer von den sieben Gruppen flüchtig skizziert, die das Hirn der Plutokratie(10) bilden. Ihre vierundzwanzig Milliarden Werte verleihen Ihnen nicht für fünfundzwanzig Cents Einfluss auf die Regierung. Ihr Reichtum ist nur eine leere Schale, und auch die wird man Ihnen bald wegnehmen. Die Plutokratie hat heute alle Macht in Händen. Sie gibt die Gesetze, denn sie hat den Senat, den Kongress, die Gerichte, und die gesetzgebenden Körperschaften in ihrer Gewalt. Und nicht allein das. Hinter dem Gesetz muss die Macht stehen, es zur Ausführung zu bringen. Die Plutokratie gibt heute die Gesetze, und zu ihrer Ausführung stehen ihr die Polizei, die Armee, die Flotte und endlich auch noch die Miliz, der Sie, ich und wir alle angehören, zu Gebote.«
Es folgte keine starke Diskussion, und die Gäste gingen bald. Alle waren still und niedergeschlagen, und sie verabschiedeten sich mit leiser Stimme. Das Bild, das sie gesehen hatten, schien ihnen Schrecken eingeflößt zu haben.
»Die Lage ist wirklich ernst«, sagte Herr Calvin zu Ernst.
»Ich habe kaum etwas gegen Ihre Schilderung einzuwenden Nur Ihr Urteil über den Mittelstand unterschreibe ich nicht. Wir werden die Trusts über den Haufen werfen.«
»Und zu den Methoden unserer Vorfahren zurückkehren«, vollendete Ernst den Satz.
»Jawohl«, antwortete Herr Calvin feierlich. »Ich weiß, dass es eine Art Maschinenstürmerei und dass es absurd ist. Aber dann ist das ganze Leben im Hinblick auf die Machenschaften der Plutokratie absurd. Jedenfalls aber ist unsere Maschinenstürmerei letzten Endes praktisch möglich, und das ist Ihr Traum nicht. Ihr sozialistischer Traum ist — nun, eben ein Traum. Wir können Ihnen nicht folgen.«
»Ich wünschte nur, Sie wüssten ein wenig von Entwicklungslehre und Soziologie«, sagte Ernst nachdenklich, und sie schüttelten sich die Hände. »Dann könnten wir uns viele sparen.«
(1) Everhard entwickelt hier klar die Ursache aller Arbeiterunruhen jener Zeit. Bei der Teilung des gemeinsam erzielten Gewinnes wollte das Kapital alles haben, was es bekommen konnte, und ebenso machten es die Arbeiter. Dieser Streit über die Teilung war unversöhnlich. Solange das System der kapitalistischen Produktion existierte, stritten Arbeit und Kapital sich über die Teilung des gemeinschaftlichen Gewinnes. Uns erscheint das heute als ein lächerliches Schauspiel, wir dürfen aber nicht vergessen, dass wir den Vorteil haben, sieben Jahrhunderte später zu leben.
(2) Theodore Roosevelt, Präsident der Vereinigten Staaten, erließ folgende öffentliche Erklärung: »Wir brauchen eine liberale und umfassendere Verteilung des Erwerbs und Verkaufs von Werten, so dass fremde Staaten die Überproduktion der Vereinigten Staaten in genügendem Maße aufnehmen können.« Natürlich war die Überproduktion, die er meinte, der Gewinn des kapitalistischen Systems, der die Aufnahmefähigkeit der Kapitalisten überstieg. Zur selben Zeit sagte der Senator Mark Hanna: »Die jährliche Produktion von Reichtum in den Vereinigten Staaten übersteigt seinen Verbrauch um ein Drittel.« Auch ein anderer Senator, Chauncey Depew, sagte: »Das amerikanische Volk produziert Jährlich zwei Milliarden mehr, als es verbrauchen kann.«
(3) Karl Marx — der große Geistesheld des Sozialismus. Ein deutscher Jude des neunzehnten Jahrhunderts, ein Zeitgenosse von John Stuart Mill. Es erscheint uns heute unglaublich, dass seit den ökonomischen Entdeckungen von Marx Generationen verstrichen sind, in denen er von anerkannten Denkern und Gelehrten verspottet wurde. Die Folge seiner Entdeckungen war, dass er aus seinem Heimatlande vertrieben wurde und als Verbannter in England starb.
(4) Dies ist, soweit bekannt, das erste Mal, dass dieser Name auf die Oligarchie angewendet wurde.
(5) Diese Einteilung der Gesellschaft stimmt überein mit der von Luden Sanial, einer der statistischen Autoritäten jener Zeit. Er berechnete die Zahlenstärke der Klassen nach der Volkszählung der Vereinigten Staaten im Jahre 1900 wie folgt: Plutokratie 250 251, Mittelstand 8 429 845 und Proletariat 20 393 137.
(6) Standard Oil und Rockefeller - siehe Fußnote 10 aus diesem Kapitel
(7) Noch im Jahre 1907 rechnete man damit, dass elf Gruppen das Land beherrschten; diese Zahl wurde jedoch durch die Verschmelzung der fünf Eisenbahngruppen zu einer Einheit auf sieben reduziert. Jene fünf Gruppen, die sich nebst ihren finanziellen und politischen Verbündeten derart verschmolzen, waren l. James J. Hill, der die Nordwestbahn kontrollierte; 2. die Pennsylvania-Eisenbahn-Gruppe, die von Schiff und ändern großen Bankfirmen in New York und Philadelphia finanziert wurde; 3. Harriman, der mit Frick als Berater und Odell als politischem Vertreter der Kontinentlinie, die Südwest- und die Südpacific-Küstenlinien kontrollierte; 4. die Eisenbahninteressen der Familie Gould und 5. Moore, Reid und Leeds, bekannt unter dem Namen »Die Rock-Island-Bande«. Diese starken Oligarchien gingen schließlich als Sieger aus dem Wettbewerb hervor und gelangten zu dem unvermeidlichen Zusammenschluss.
(8) Lobbys, eigentlich Vorsäle, Bureaus, die zur Bestechung und Korruption von Parlamentsmitgliedern und anderen Politikern, die die Interessen des Volkes vertreten sollten, eingerichtet waren.
(9) Ein Jahrzehnt vor diesen Auslassungen Everhards gab das New-Yorker Handelsamt einen Bericht heraus, dem wir folgendes entnehmen: »Die Eisenbahnen kontrollieren völlig die Gesetzgebung der meisten Staaten der Union; sie ernennen die Senatoren, Kongressmitglieder und Gouverneure der Vereinigten Staaten und setzen sie ab und sind die eigentlichen Leiter der Politik der Vereinigten Staaten.«
(10) Rockefeller begann als Mitglied des Proletariats, und durch Glück und Geschicklichkeit brachte er es dazu, den ersten vollkommenen Trust zu schaffen, nämlich den als Standard Oil bekannten. Wir können es uns nicht versagen, ein bemerkenswertes Blatt aus der Geschichte jener Zeiten folgen zu lassen, um zu zeigen, wie die Notwendigkeit, den Überschuss des Standard Oil Trusts anzulegen, kleine Kapitalisten an die Wand drückte und den Zusammenbruch des Mittelstandes beschleunigte. Wir wollen David Graham Philipps, einen radikalen Schriftsteller dieser Periode, zitieren, und zwar nach einem Exemplar der Saturday Evening Post vom 4. Oktober 1902. Es ist dies das einzige erhaltene Exemplar des Blattes, aber nach Aufmachung und Inhalt können wir schließen, dass es eine populäre, periodisch erscheinende Zeitung war, die eine große Verbreitung genoss. Das Zitat möge hier folgen:
»Vor ungefähr zehn Jahren wurde das Einkommen Rockefellers von autoritativer Seite auf 30000000 Dollar geschätzt. Er hatte die Grenze rentabler Anlage seines Verdienstes in der Ölindustrie erreicht, in deren Kassen die riesigen Summen — mehr als 2 000 000 Dollar monatlich allein für David Rockefeller --strömten. Das Problem der Neuanlage seines Gewinns wurde immer schwieriger. Es wurde ein Alp. Das Einkommen schwoll immer mehr an, und die Möglichkeit gesunder Kapitalanlage war begrenzt, noch begrenzter als heute. Es war nicht das Verlangen nach noch größerem Gewinn, das die Rockefellers veranlasste, sich noch auf andere Zweige als öl zu legen. Die hereinrollende Hut des Reichtums, durch ihren Monopolmagneten unwiderstehlich angezogen, zwang und trieb sie weiter. Sie errichteten einen Stab von Leuten, die geeignete Kapitalanlagen ausfindig machen mussten. Man sagt, dass der Chef dieses Stabes ein Jahresgehalt von 125 000 Dollar bezog.
Der erste bemerkbare Abstecher der Rockefellers in fremdes Gebiet erfolgte in das der Eisenbahn. Um das Jahr 1895 besaßen sie die Kontrolle über ein Fünftel des amerikanischen Schienenstranges. Was befindet sich heute in ihrem Besitz oder doch, infolge überwiegender Kapitalbeteiligung, unter ihrer Kontrolle? Sie haben die Majorität aller großen Eisenbahnen von New York, außer einer einzigen, bei der sie nur mit einigen Millionen beteiligt sind. Sie haben ihre Hand in den meisten der großen Linien, deren Mittelpunkt Chikago ist. Sie beherrschen mehrere der Pacific-Linien. Ihre Stimme ist es, die Morgan so mächtig macht, wenn sie auch, wie man sagen muss, seinen Verstand mehr brauchen, als er ihre Stimme — jedenfalls augenblicklich —, und die Verbindung beider ist die Grundlage der »Interessengemeinschaft«.
Aber die Eisenbahnen waren allein nicht imstande, diese mächtige Flut des Goldes zu absorbieren. Gegenwärtig ist das Einkommen von John D. Rockefeller von 2 500 000 Dollar auf vier, fünf, sechs Millionen im Monat, auf 75 000 000 Dollar im Jahr angewachsen. Alles Petroleum wurde für ihn zum Gewinn. Die Neuanlage des Einkommens ergab wieder viele Millionen im Jahr.
Die Rockefellers legten sich auf Gas und Elektrizität, sobald diese Industrien sich soweit entwickelt hatten, dass sie eine sichere Kapitalanlage darstellten. Und heute muss ein großer Teil des amerikanischen Volkes, sobald die Sonne untersinkt, die Rockefellers bereichern, einerlei, welche Art Beleuchtungsmittel sie gebrauchen. Dann legten sie sich auf den Grundstückshandel. Man sagt, dass wenige Jahre zuvor Rockefeller fast zu Tränen gerührt wurde, wenn er von einem Landwirt hörte, der es vermocht hatte, sich von seinen Hypotheken zu befreien; jetzt wurden acht Millionen, die er auf Jahre hinaus gut verzinslich untergebracht glaubte, plötzlich vor seiner Tür abgeladen und jammerten nach einem Unterkommen. Diese unerwartete neue Sorge, wie er Raum für Kinder, Enkel und Urenkel seines Petroleums finden sollte, war zuviel für den Gleichmut dieses Mannes mit seiner gestörten Verdauung...
Die Rockefellers verlegten sich auf Minen — Eisen, Kohlen, Kupfer und Blei; auf andere Industrien; auf Straßenbahnen, auf Staats- und Gemeindeanleihen; auf Schiffe, Telegraphenlinien; auf Grundbesitz, Wolkenkratzer, Paläste, Hotels und Geschäftshäuserblocks; auf Lebensversicherungen und Banken. Bald gab es buchstäblich kein Industriegebiet mehr, auf dem ihre Millionen nicht arbeiteten ...
Die Bank der Rockefellers — die National City Bank — ist bei weitem die größte Bank der Vereinigten Staaten. Sie wird in der ganzen Welt nur durch die Bank von England und die Bank von Frankreich übertroffen. Ihre Depositen betragen durchschnittlich über hundert Millionen täglich, und sie beherrscht den Geldmarkt wie auch den Effektenmarkt von Wall Street. Aber sie steht nicht allein da; sie ist nur das Haupt der Rockefeller-Banken, die allein in New York vierzehn Banken und Trusts und in allen Zentren des Landes Bankhäuser von großer Kapitalkraft und starkem Einfluss umfassen.
John D. Rockefeller besitzt Aktien vom Standard Oil Trust für vier bis fünfhundert Millionen Kurswert. Er ist mit hundert Millionen am Stahltrust, mit fast ebensoviel an einer Eisenbahn im Westen, mit beinahe der Hälfte an einer zweiten beteiligt. Und so könnten wir fortfahren, bis der Geist vom Aufzählen ermüdet ist. Sein Einkommen betrug im letzten Jahre gegen 100 000 000 Dollar — es ist zweifelhaft, ob das Einkommen aller Mitglieder der Familie Rothschild zusammen eine größere Summe ausmacht. Und dabei steigt es von Jahr zu Jahr.«
Unmittelbar nach diesem Abend erfolgte ein erschreckendes Ereignis nach dem ändern; und ich, die ich all meine Tage so friedlich in der stillen Universitätsstadt verlebt hatte, wurde mit meinen persönlichen Angelegenheiten in den Strudel der großen Weltereignisse hineingezogen. Was es war, das mich zur Revolutionärin machte — ob meine Liebe zu Ernst oder das klare Bild, das er mir von der Gesellschaft, in der ich lebte, gezeigt hatte—, weiß ich nicht; aber Revolutionärin wurde ich, und ich geriet in einen Wirbel von Ereignissen, die mir noch vor drei Monaten unfassbar gewesen wären.
Die Krisis in meinem eigenen Schicksal kam gleichzeitig mit großen Krisen in der Gesellschaft. Zunächst verlor Vater seinen Lehrstuhl an der Universität. Oh, er wurde nicht formell entlassen. Er wurde gebeten, zu verzichten, das war alles. Das wollte an sich nicht viel heißen. Vater freute sich im Grunde, namentlich, weil seiner Entlassung die Veröffentlichung seines Buches »Wirtschaft und Erziehung« zugrunde lag. Das erhärtete seine Beweisführung, und er war zufrieden. Denn welch besseren Beweis konnte es für die Behauptung geben, dass das Erziehungswesen von der kapitalistischen Klasse beherrscht wurde?
Aber dieser Beweis gelang nirgends. Niemand erfuhr, dass Vater zum Rücktritt gezwungen worden war. Seine Bedeutung als Wissenschaftler war so groß, dass die Bekanntgabe seines Rücktritts und ihrer wahren Ursache die ganze Welt in Aufruhr gebracht hätte. Die Zeitungen überschütteten ihn mit Lobreden und gaben ihm recht, dass er die Plackerei des Lehrstuhls aufgegeben hatte, um sich ganz seinen wissenschaftlichen Forschungen widmen zu können.
Zuerst lachte Vater. Dann wurde er ärgerlich — tonisch ärgerlich. Dann erfolgte die Unterdrückung seines Buches. Das geschah so geheim, dass wir es zuerst gar nicht gewahr wurden. Das Erscheinen des Buches hatte gleich einige Aufregung im Lande verursacht. Vater war von der kapitalistischen Presse beschimpft worden; der Grundton der Schmähungen war, dass es bedauerlich sei, wenn ein großer Gelehrter sein eigentliches Gebiet verlasse und sich in das Reich des Sozialismus begebe, wovon er nichts verstehe, und wohin er sich übereilt verirrt habe. Das dauerte eine Woche, und Vater lachte sich ins Fäustchen und sagte, sein Buch habe den Kapitalismus an seiner wunden Stelle getroffen. Dann hörten plötzlich die Zeitungen und kritischen Schriften auf, das Buch zu besprechen. Und ebenso plötzlich verschwand das Buch aus dem Buchhandel. Nicht ein einziges Exemplar war mehr bei den Buchhändlern aufzutreiben. Vater schrieb an den Verlag und erhielt die Mitteilung, dass die Matern durch einen unglücklichen Zufall beschädigt seien. Eine unerquickliche Korrespondenz folgte. Als der Verlag sich schließlich zu einer unzweideutigen Erklärung gezwungen sah, schrieb er, dass er nicht in der Lage sei, das Buch neu zu setzen; er sei jedoch gern bereit, seine Rechte abzutreten.
»Sie werden im ganzen Lande keinen Verleger mehr für das Buch finden«, sagte Ernst. »An Ihrer Stelle würde ich mich jetzt zurückziehen. Sie haben nur einen Vorgeschmack von der Eisernen Ferse bekommen.«
Aber Vater war Gelehrter und nichts als das. Er zog nie voreilige Schlüsse. Ein Experiment war keins, wenn es nicht in allen Einzelheiten durchgeführt wurde. So machte er denn geduldig die Runde bei allen Verlegern. Sie machten unzählige Ausflüchte, aber kein einziger wollte die Neuausgabe des Buches übernehmen.
Als Vater die Überzeugung gewonnen hatte, dass das Buch tatsächlich unterdrückt worden war, machte er den Versuch, diese Tatsache in den Zeitungen zu veröffentlichen; aber es gelang ihm nicht. Bei einer politischen Sozialistenversammlung, bei der viele Berichterstatter zugegen waren, glaubte er, eine Möglichkeit zu sehen. Er erzählte die Geschichte von der Unterdrückung seines Buches, Als er jedoch am nächsten Morgen die Zeitungen las, lachte er, dann aber wurde er von einem Zorn ergriffen, der allen tonischen Zorn, den er je gefühlt, in den Schatten stellte. Das Buch erwähnten die Zeitungen nicht, wohl aber verleumdeten sie den Autor. Sie rissen seine Worte und Sätze aus dem Zusammenhang heraus und verdrehten die wohlüberlegten Äußerungen zu einer wilden, anarchistischen Sprache. Das alles geschah sehr geschickt. Ein Umstand ist mir besonders gut im Gedächtnis haften geblieben. Er hatte den Ausdruck »soziale Revolution« gebraucht. Die Referenten ließen einfach das Wort »soziale« aus. Ein Telegramm der Associated Press meldete das, und im ganzen Lande erhob sich überall großes Geschrei. Vater wurde als Nihilist und Anarchist gebrandmarkt, und eine viel verbreitete Karikatur zeigte ihn mit einer roten Fahne an der Spitze einer Bande von langhaarigen, wildblickenden Kerlen, die Pechfackeln, Messer und Dynamitbomben in den Händen trugen.
Die Presse überfiel ihn mit langen Schmähartikeln, und es wurden Anspielungen auf einen geistigen Zusammenbruch gemacht. Ernst sagte uns, eine derartige Handlungsweise seitens der kapitalistischen Presse sei nichts Neues. Es herrsche dort die Gepflogenheit, in alle sozialistischen Versammlungen Berichterstatter zu schicken mit dem ausdrücklichen Befehl, über alles Geredete falsch und verdreht zu berichten, um dadurch den Mittelstand von einer Annäherung an das Proletariat abzuschrecken. Und wieder ermahnte Ernst meinen Vater, den Kampf einzustellen und sich zurückzuziehen.
Die sozialistische Presse des Landes nahm jedoch den Kampf auf, und im Leserkreise der Arbeiterschaft erfuhr man, dass das Buch unterdrückt war. Aber auch nur hier. Kurz darauf traf der »Appell an die Vernunft«, ein großer sozialistischer Verlag, mit Vater eine Vereinbarung über eine Neuausgabe des Buches. Vater war glücklich, Ernst war beunruhigt.
»Ich sage euch, wir stehen vor unbekannten Ereignissen«, beharrte er. »Große Dinge bereiten sich rings um uns vor. Wir können sie fühlen. Was es ist, wissen wir nicht, aber es ist da. Der ganze Bau der Gesellschaft erbebt darunter. Fragt mich nicht. Ich weiß selber nichts. Aber aus diesem Wirbel der Gesellschaft kristallisiert sich etwas. Und zwar gerade jetzt. Die Unterdrückung Ihres Buches ist ein Niederschlag. Wie viele Bücher sind unterdrückt worden? Wir ahnen es nicht. Wir tappen im Dunkeln. Wir haben keine Möglichkeit, es zu erfahren. Aber passt auf, jetzt kommt die Unterdrückung der sozialistischen Presse und der sozialistischen Verlagsanstalten. Ich fürchte, sie kommt. Man erdrosselt uns.«
Ernst hatte seine Hand näher am Pulsschlag der Ereignisse als die übrigen Sozialisten. Zwei Tage später erfolgte der erste Schlag. Der »Appell an die Vernunft« war eine Wochenschrift, deren Abonnentenzahl unter dem Proletariat siebenhundertfünfzigtausend betrug. Außerdem wurden häufig Sondernummern in einer Auflage von zwei bis fünf Millionen gedruckt. Diese großen Ausgaben wurden von dem kleinen Stab freiwilliger Mitarbeiter, die sich um den »Appell« gesammelt hatten, ausgeteilt. Der erste Schlag richtete sich gegen diese Sonderausgaben und war vernichtend. Durch eine eigenmächtige Verfügung der Post wurde entschieden, dass sie keine regelmäßig erscheinende Zeitung darstellten, und dass deshalb ihre Beförderung von der Post abgelehnt werden müsse.
Eine Woche später entschied die Post, dass das Blatt selbst ein revolutionäres Organ sei, und sperrte die Beförderung ganz. Das war ein furchtbarer Schlag für die sozialistische Propaganda. Der »Appell« war verzweifelt. Man beschloss, das Blatt den Abonnenten durch die Expressgesellschaften zuzustellen, aber die lehnten ab. Das war das Ende des »Appell«. Aber doch nicht ganz. Er ging mit verdoppeltem Eifer an seine Buchausgaben. Von Vaters Buch lagen zwanzigtausend Exemplare in der Binderei, weitere befanden sich im Druck. Da erschien plötzlich, ohne jede Ankündigung, nachts eine Bande, steckte unter dem Schwenken der amerikanischen Flagge und dem Absingen patriotischer Lieder das reichhaltige Inventar des »Appell« in Brand und vernichtete es völlig.
Dabei war Girard in Kansas eine ruhige, friedliebende Stadt. Nie hatte es dort Arbeiterunruhen gegeben. Der »Appell« zahlte Einheitslöhne, und er war tatsächlich das Rückgrat der Stadt, da er Hunderten von Männern und Frauen Beschäftigung gab. Die Bande bestand nicht aus Bürgern von Girard, sie war wie aus dem Erdboden gestiegen und, nachdem sie ihre Aufgabe in jeder Beziehung erfüllt hatte, wieder in ihm verschwunden. Ernst sah in diesem Ereignis das finsterste Anzeichen.
»> Die Schwarzen Hundertschaften<(1) sind in den Vereinigten Staaten organisiert«, sagte er. »Das ist der Anfang. Aber es kommt noch schlimmer. Die Eiserne Ferse hat Blut geleckt.«
Und das war das Ende von Vaters Buch. Im Laufe der Zeit sollten wir noch viele Taten der Schwarzen Hundertschaften sehen. Von Woche zu Woche wurden immer mehr sozialistische Zeitungen von der Post gesperrt, und die Schwarzen Hundertschaften zerstörten eine ganze Anzahl sozialistischer Druckereien. Die Zeitungen lobten natürlich, der reaktionären Politik folgend, die herrschende Klasse, zerrten die vernichtete soziale Presse in den Schmutz und priesen die Schwarzen Hundertschaften als wahre Patrioten und Retter der Gesellschaft. So überzeugend waren all diese Fälschungen, dass selbst Geistliche von der Kanzel herab in gutem Glauben die Schwarzen Hundertschaften rühmten, wenn sie auch die Anwendung von Gewalt bedauerten.
Die Geschichte ging ihren Gang. Die Herbstwahlen standen vor der Tür, und Ernst wurde von der sozialistischen Partei als Kandidat für den Kongress aufgestellt. Seine Aussichten waren sehr günstig. Der Straßenbahnerstreik in San Franzisko war zusammengebrochen, und ebenfalls der darauf folgende Streik der Fuhrleute. Beide Niederlagen waren verhängnisvoll für die organisierten Arbeiter. Der ganze Hafenarbeiterverband hatte, gemeinsam mit seinen Verbündeten aus dem Baugewerbe, die Fuhrleute unterstützt, und alle waren unrühmlich unterlegen. Der Streik hatte Blut gekostet. Die Polizei hatte ihre Knüppel auf zahllose Köpfe niedersausen lassen, und die Totenliste war durch das Feuer eines Maschinengewehrs erhöht worden, das von den Schuppen der großen Speditionsfirmen auf die Streikenden gerichtet wurde.
Infolgedessen waren die Leute erregt und rachgierig Sie verlangten Blut und Vergeltung. Auf ihrem eigenen Felde geschlagen, drängte es sie, durch eine politische Aktion Rache zu nehmen. Ihre Organisation bestand noch; das verlieh ihnen in dem politischen Kampfe, der entbrannt war, Macht. Ernsts Wahlaussichten stiegen von Tag zu Tag Täglich erklärten neue Verbände, ihre Stimmen den Sozialisten geben zu wollen, und selbst Ernst musste lachen, als sich schließlich sogar die Leichenträger und Geflügelrupfer einstellten. Die Arbeiter wurden störrisch. Zu den sozialistischen Versammlungen drängten sie sich mit ungeheurer Begeisterung, aber den Lockungen der alten Parteipolitiker blieben sie unzugänglich. Die Redner der alten Partei standen meistens vor leeren Sälen, und wenn sie sich einmal füllten, dann wurden die Redner so roh behandelt, dass mehr als einmal die Polizei einschreiten musste.
Die Geschichte ging ihren Gang. Die Luft vibrierte von Ereignissen, die eintrafen oder bevorstanden. Schwere Zeiten(2) waren für das Land gekommen. Und die Ursache war eine Reihe glücklicher Jahre, in denen es immer schwerer geworden war, den unverbrauchten Überschuss an das Ausland abzusetzen. Die Industrie arbeitete nur noch in beschränktem Maße. Viele große Fabriken standen still, und die Löhne wurden an allen Enden gekürzt.
Auch der große Maschinenarbeiterstreik war zusammengebrochen. In dem blutigsten Streik, der die Vereinigten Staaten je erschüttert hatte, waren zweihunderttausend Maschinenarbeiter mit fünfhunderttausend Verbündeten aus der Metallindustrie besiegt worden. Regelrechte Schlachten hatten zwischen ihnen und dem Heere der Streikbrecher(3), die von den Arbeitgeberverbänden ins Feld geschickt wurden, stattgefunden; die Schwarzen Hundertschaften erschienen in den entlegensten Ortschaften und zerstörten das Eigentum. Dann waren hunderttausend Mann von der regulären Armee aufgeboten worden, um der Sache ein Ende mit Schrecken zu machen. Eine Anzahl Arbeiterführer wurde hingerichtet, viele andere zu Gefängnisstrafen verurteilt und Tausende von den Streikenden in Rinderpferchen(4) zusammengetrieben und von den Soldaten aufs unbarmherzigste behandelt.
Jetzt musste man für die guten Jahre bezahlen. Alle Märkte waren überfüllt, alle Preise fielen, und bei dem allgemeinen Preissturz der der Arbeit am allerschnellsten. Das Land wurde durch industrielle Kämpfe erschüttert. Überall wurde gestreikt, und wo nicht gestreikt wurde, sperrten die Unternehmer die Arbeiter aus. Die Zeitungen waren voll von Berichten über Gewalttaten und Blutvergießen. Und überall hatten die Schwarzen Hundertschaften ihre Hand im Spiel. Aufruhr, Brandstiftung und wahllose Zerstörung war ihre Aufgabe, und die erfüllten sie wahrlich gut. Die ganze reguläre Armee stand im Felde, eine Folge der Tätigkeit der Schwarzen Hundertschaften(5). Alle Städte und Dörfer glichen bewaffneten Lagern, und die Arbeiter wurden wie die Hunde niedergeschossen. Aus dem Riesenheer der Arbeitslosen rekrutierten sich die Streikbrecher, und wenn die Streikbrecher von den Arbeitern überwältigt wurden, erschienen stets die Truppen und schlugen die Arbeiter. Dazu kam noch die Miliz. Bis jetzt hatte man seine Zuflucht noch nicht zu dem geheimen Milizgesetz zu nehmen brauchen, nur die reguläre Armee war aufgeboten, und sie war überall im Felde. In dieser Schreckenszeit aber wurde die reguläre Armee durch Regierungsbefehl um hunderttausend Mann vermehrt. Nie hatten die Arbeiter eine solche Niederlage erlitten. Die großen Industriefürsten, die Oligarchen, hatten anfangs ihr volles Gewicht in die von den kämpfenden Arbeitgeberverbänden gelegten Breschen geworfen. Diese Verbände gehörten tatsächlich dem Mittelstand an, jetzt aber bereiteten sie unter dem Zwang der schweren Zeiten, der krachenden Märkte und mit Unterstützung der großen Industriefürsten den organisierten Arbeitern eine schreckliche und entscheidende Niederlage. Das Bündnis war übermächtig, aber es war ein Bündnis zwischen Löwe und Lamm, und das sollte der Mittelstand nur zu bald erfahren.
Die Arbeiterschaft war blutdürstig und rachsüchtig, aber zermalmt. Durch ihre Niederlage wurden die Zeiten indessen nicht besser. Die Banken, selbst eine der wichtigsten Hilfskräfte der Oligarchie, kündigten fortwährend die Kredite. Die Wall-Street-Gruppe(6) stürzte den Geldmarkt in einen Strudel, in dem die Werte des ganzen Landes fast ertranken. Und aus diesem Zusammenbruch und Untergang stieg die wachsende Oligarchie unbekümmert, unerschütterlich und sicher wieder hervor. Ihre Ruhe und Sicherheit war erschreckend. Zur Ausführung ihrer Pläne benutzte sie nicht nur ihre eigene riesige Macht, sondern auch die ganze Finanzkraft der Vereinigten Staaten.
Die Industriefürsten hatten sich jetzt gegen den Mittelstand gewandt. Die Arbeitgeberverbände, die den Industriefürsten behilflich gewesen waren, die Arbeiter zu zerschmettern, wurden jetzt selbst von ihren früheren Verbündeten zerschmettert. Und inmitten des Unterganges der kleinen Geschäftsleute und Fabrikanten standen die Trusts fest. Ja, mehr noch, sie waren tätig. Sie säten Wind, Wind, und immer mehr Wind. Denn sie allein verstanden es, den Sturm zu ernten und Gewinne aus ihm zu ziehen. Und was für Gewinne! Riesige! Stark genug, dem Sturm, den sie selbst zum größten Teil entfesselt hatten, zu trotzen, ließen sie ihn tosen und raubten die treibenden Trümmer. Alle Werte schrumpften unbarmherzig und unbegreiflich ein, und die Trusts häuften zu ihrem bisherigen Besitz ungeheure Reichtümer, indem sie ihre Unternehmungen auf immer neue Gebiete ausdehnten — und immer auf Kosten des Mittelstandes. Der Sommer 1912 gab dem Mittelstand den Todesstoß. Selbst Ernst war über die Schnelligkeit erstaunt, mit der es geschehen war. Er schüttelte den Kopf und sah den Herbstwahlen hoffnungslos entgegen.
»Es hat keinen Zweck«, sagte er, »wir sind geschlagen. Die Eiserne Ferse schreitet. Ich hatte auf einen friedlichen Sieg an der Wahlurne gehofft. Ich habe mich geirrt. Wickson hatte recht. Die wenigen Freiheiten, die uns noch geblieben sind, werden uns auch geraubt werden; die Eiserne Ferse wird über uns hinwegschreiten. Der Arbeiterschaft bleibt nichts übrig als eine blutige Revolution. Dann werden wir freilich siegen, aber mich schaudert, wenn ich daran denke.«
Und von diesem Augenblick an setzte Ernst sein ganzes Vertrauen auf die Revolution. Hierin eilte er seiner Partei voraus. Seine Genossen stimmten ihm nicht zu und blieben dabei, dass der Sieg durch die Wahlen errungen werden müsse. Nicht, dass sie eingeschüchtert gewesen wären. Dazu waren sie zu berechnend und zu waghalsig. Sie waren nur skeptisch. Das war alles. Ernst konnte sie nicht dazu bringen, den Aufmarsch der Oligarchen ernst zu nehmen. Sie waren zwar beunruhigt, aber doch ihrer eigenen Macht zu sicher. In ihrem sozialen Gebäude gab es keinen Raum für die Oligarchie, und deshalb existierte sie nicht.
»Wir schicken Sie in den Kongress, und alles ist in Ordnung«, sagten sie ihm in einer vertraulichen Sitzung.
»Und wenn man mich aus dem Kongress herausholt«, erwiderte Ernst kaltblütig, »an die Wand stellt und mir eine Kugel durch den Kopf jagt — was dann?«
»Dann gehen wir mit Gewalt vor«, antwortete ein Dutzend gleichzeitig.
»Dann werdet ihr euch in euerem Blute wälzen«, lautete seine Entgegnung. »Das Lied habe ich schon den Mittelstand singen hören, und wo ist er jetzt mit seiner Gewalt?«
(1) »Die Schwarzen Hundertschaften« waren reaktionäre, von der untergehenden Autokratie in der russischen Revolution organisierte Pöbelbanden. Sie attackierten die revolutionären Gruppen und plünderten und zerstörten gegebenenfalls Eigentum, um der Autokratie einen Vorwand zu verschaffen, die Kosaken herbeizurufen.
(2) Unter dem kapitalistischen Regime waren derartige Perioden ebenso unvermeidlich wie sinnwidrig. Wohlergehen brachte immer Elend mit sich. Das war natürlich dem Übermaß an unverbrauchtem Verdienst zuzuschreiben, der sich aufgespeichert hatte.
(3) Streikbrecher — das waren in jeder Beziehung, nur nicht dem Namen nach, die Privatsoldaten der Kapitalisten. Sie waren durch und durch organisiert und gut bewaffnet und wurden in steter Bereitschaft gehalten, um jederzeit in Sonderzügen sofort nach irgendeinem Teil des Landes geschickt zu werden, wo die Arbeiterschaft einen Streik oder die Unternehmer eine Aussperrung ins Werk setzten. Nur jene sonderbaren Zeiten konnten ein Schauspiel bieten wie Farley, ein bekannter Streikbrecherführer, der im Jahre 1906 mit einer schwer bewaffneten und vollkommen ausgerüsteten Armee von zweitausendfünfhundert Mann in Sonderzügen quer durch die Vereinigten Staaten von New York nach San Franzisko fuhr, um den Streik der Straßenbahner zu brechen. Eine solche Handlungsweise war eine direkte Verletzung der Gesetze des Landes. Die Tatsache, dass sie, wie tausend ähnliche, ungestraft hinging, zeigt uns, wie vollständig die Gerichtsbarkeit von der Plutokratie beherrscht wurde.
(4) In einem Bergarbeiterstreik in Idaho in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts wurden viele Streikende durch die Truppen in einen Rinderpferch getrieben. Diese Methode wurde noch im zwanzigsten Jahrhundert befolgt.
(5) Nur der Name, nicht die Idee war aus Russland importiert. Die Schwarzen Hundertschaften waren von kapitalistischen Geheimagenten ins Leben gerufen und fanden bei den Arbeiterkämpfen im neunzehnten Jahrhundert Verwendung. Darüber kann man nicht streiten. Kein geringerer als Caroll D. Wright, Arbeitsminister der Vereinigten Staaten, ist für diese Angaben verantwortlich. Aus seinem Buche: »Die Kämpfe der Arbeit« entnehmen wir die Klage, dass »in einigen der großen historischen Streiks die Unternehmer selbst Gewalttätigkeiten veranlassten«, dass Fabrikanten vorsätzlich Streiks ins Leben riefen, um sich von überflüssigem Inventar zu befreien, und dass während des Eisenbahnerstreiks im Auftrage der Unternehmer Frachtwaren verbrannt wurden, um den Tumult zu steigern. Diese Geheimagenten der Unternehmer bildeten dann die Schwarzen Hundertschaften, und sie waren es, die später zu der schrecklichen Waffe der Oligarchie, den Agents provocateurs, wurden.
(6) Wall Street — nach einer Straße im ältesten New York benannt, wo sich die Fondsbörse befand, an der die unsinnige Organisation der Gesellschaft heimliche Manipulationen aller Industrien des Landes erlaubte.
Herr Wickson ließ Vater nicht zu sich bitten. Sie trafen sich zufällig auf dem Fährboot nach San Franzisko, und die Warnung, die er Vater erteilte, kam daher ganz unvorbereitet. Hätten sie sich nicht zufällig getroffen, so wäre Vater überhaupt nicht gewarnt worden. Der Erfolg wäre immerhin der gleiche gewesen. Vater entstammte dem alten Mayflower-Geschlecht(1), und sein Blut war gebieterisch.
»Ernst hatte recht«, sagte er zu mir, sobald er nach Hause zurückgekehrt war. »Ernst ist ein außergewöhnlicher junger Mann, und ich sehe lieber, dass du seine Gattin als die Rockefellers oder selbst des Königs von England würdest.«
»Was ist vorgefallen?« fragte ich beunruhigt.
»Die Oligarchie ist im Begriff, über uns hinwegzuschreiten — über dich und mich. Das hat Wickson mir wenigstens gesagt. Er war sehr liebenswürdig — für einen Oligarchen. Er bot mir an, mir meinen Posten wiederzugeben. Was sagst du dazu? Er, Wickson, dieser schmutzige Geldraffer, hat die Macht, zu entscheiden, ob ich an der Universität lehren soll oder nicht. Aber mehr noch: Er wollte mich zum Vorsitzenden eines großen physikalischen Instituts machen, das gegründet werden sollte — du siehst, die Oligarchie muss ihren Überschuss irgendwie anlegen.
> Erinnern Sie sich, was ich dem sozialistischen Verehrer Ihrer Tochter sagte?< meinte er. >Ich sagte ihm, dass wir über die arbeitende Klasse hinwegmarschieren würden. Und das werden wir. Was Sie betrifft, so schätze ich Sie als Gelehrten sehr; wenn Sie aber gemeinsame Sache mit den Sozialisten machen, dann hüten Sie sich, das ist alles, was ich Ihnen sagen kann.« Und damit drehte er sich um und ließ mich stehen.«
»Das heißt, dass wir früher heiraten müssen, als du gedacht hattest«, erklärte Ernst, als ich es ihm erzählte Ich verstand ihn nicht, musste ihm aber bald genug recht geben Gerade zu dieser Zeit sollte die Dividende der Sierra-Spinnereien ausgezahlt werden, aber Vater bekam nichts. Als er einige Tage gewartet hatte, schrieb er an das Sekretariat. Prompt kam die Antwort, dass die Bücher keinen Aktienbesitz Vaters aufwiesen, und dass man ihn höflichst um näheren Aufschluss bäte.
»Den sollen sie klar genug haben, zum Donnerwetter«, erklärte Vater und fuhr zur Bank, um die fraglichen Aktien aus dem Schließfach zu nehmen.
»Ernst ist wirklich ein außerordentlicher Mensch«, sagte er, als er heimkam und ich ihm aus dem Überzieher geholfen hatte. »Ich wiederhole, mein Kind, dieser junge Mann ist ein ganz ungewöhnlicher Mensch.«
Ich wusste aus Erfahrung, dass, wenn er Ernst derart lobte, etwas Unheilvolles zu erwarten war.
»Sie sind schon über mich hinweggeschritten«, erklärte Vater. »Es sind keine Aktien da. Das Schließfach war leer. Ihr werdet bald heiraten müssen, du und Ernst.«
Vater war kein Geschäftsmann. Er brachte zwar die Sierra-Spinnereien vor Gericht, konnte aber ihre Bücher nicht dorthin schaffen. Er beherrschte das Gericht nicht, das taten aber die Spinnereien. Das sagt alles. Er wurde durch das Gesetz vollkommen geschlagen, und der nackte Raub triumphierte.
Wenn ich an jene Tage zurückdenke, erscheint es mir fast lächerlich, wie Vater geschlagen wurde. Er traf Wickson zufällig in San Franzisko auf der Straße und sagte ihm, dass er ein Schurke sei. Und dann wurde er wegen versuchter Tätlichkeiten festgenommen, zu einer Geldstrafe verurteilt und musste sich verpflichten, sich künftig friedlich zu verhalten. Das alles war so lächerlich, dass Vater zu Hause selbst darüber lachte. Aber der Lärm in den Zeitungen! Sie brachten feierliche Aufsätze über den Bazillus der Gewalttätigkeit, der jeden befiele, der sich dem Sozialismus in die Arme würfe, und Vater, der ein so langes und friedfertiges Leben geführt hatte, wurde als glänzendes Beispiel für die Wirkung dieses Bazillus hingestellt. Mehrere Blätter behaupteten, Vater sei infolge seiner anstrengenden wissenschaftlichen Studien überarbeitet und geisteskrank geworden, und schlugen vor, ihn in einer staatlichen Irrenanstalt unterzubringen. Das war nicht nur Gerede, es war drohende Gefahr. Aber Vater war klug genug, sie zu sehen. Die Erfahrungen, die der Bischof gemacht hatte, waren eine gute Lehre für ihn. Und deshalb blieb er ruhig, soviel Ungerechtigkeiten ihm auch widerfahren mochten, und überraschte dadurch, wie ich annehme, seine Feinde wirklich.
Dann kam unser Haus — unser Heim — an die Reihe. Eine Hypothek wurde für verfallen erklärt, und wir mussten es aufgeben. Natürlich gab es gar keine Hypothek, hatte nie eine gegeben. Das Grundstück war bar bezahlt worden und das Haus ebenfalls sofort nach seiner Fertigstellung, und weder das eine noch das andere war je belastet worden. Aber die Hypothek war da, vorschriftsmäßig aufgesetzt und unterzeichnet, und eine Aufstellung der auf eine Reihe von Jahren hinaus zu entrichtenden Zinsen lag ebenfalls vor. Vater machte kein Geschrei. Wie man ihn seines Geldes beraubt hatte, so beraubte man ihn jetzt seines Heims. Und er hatte niemand, an den er sich halten konnte. Die Maschinerie der Gesellschaft befand sich in den Händen derer, die ihn zugrunde richten wollten. Vater war Philosoph durch und durch, und deshalb ärgerte er sich nicht lange.
»Ich bin zum Untergang verurteilt«, sagte er zu mir. »Aber das ist kein Grund, weshalb ich nicht versuchen sollte, so viel wie möglich von meiner Haut zu retten. Meine alten Knochen sind schwach, und ich habe meine Lektion gelernt. Gott weiß, dass ich nicht den Wunsch habe, meine letzten Tage in der Irrenanstalt zu verbringen.«
An dieser Stelle fällt mir Bischof Morehouse ein, den ich lange auf diesen Seiten vernachlässigt habe. Zuerst will ich jedoch berichten, dass ich mich verheiratete. In dem Strudel der Ereignisse wird diese Begebenheit bedeutungslos, das weiß ich wohl, und deshalb erwähne ich sie nur nebenbei.
»Jetzt werden wir richtige Proletarier«, sagte Vater, als wir aus unserem Heim vertrieben wurden. »Ich habe oft deinen Mann um seine Kenntnis vom Proletariat beneidet. Jetzt soll ich es also selbst kennen lernen.«
In Vaters Adern muss Abenteuerblut geflossen sein. Ihm erschien unser Zusammenbruch als ein Abenteuer. Weder Zorn noch Erbitterung ergriff ihn. Er war zu sehr Philosoph und zu einfach, um rachsüchtig zu sein, und lebte zu sehr in der Welt des Geistes, als dass er die leiblichen Genüsse entbehrt hätte, die wir aufgeben mussten. So kam es, dass er seinen Einzug in vier armselige Stuben im schmutzigen Süden der Market Street in San Franzisko mit der Freude und der Begeisterung eines Kindes — und mit den klaren Augen und dem festen Halt eines außerordentlichen Geistes hielt. In geistiger Beziehung verknöcherte er tatsächlich nie. Er hatte keinen falschen Begriff von Werten. Konventionelle oder gewohnheitsmäßige Werte bedeuteten ihm nichts. Die einzigen Werte, die er anerkannte, waren mathematische und wissenschaftliche Tatsachen. Mein Vater war ein großer Mensch. Er hatte einen Geist und eine Seele, wie nur große Menschen sie besitzen. In manchem war er sogar größer als Ernst, der doch der größte Mensch war, den ich gekannt habe.
Mir selbst brachte unser verändertes Leben eine gewisse Erleichterung. Wenn sonst nichts, so war ich doch jetzt von der organisierten Verleumdung befreit, die in immer steigendem Maße unser Los in der Universitätsstadt gewesen war, seit wir uns die Feindschaft der wachsenden Oligarchie zugezogen hatten. Und auch für mich war diese Veränderung ein Abenteuer, und zwar das größte von allen, denn es war das Abenteuer meiner Liebe. Der Verlust unseres Vermögens hatte meine Heirat beschleunigt, und so zog ich als junge Frau in die vier Stübchen in der Pell Street, der verrufensten Gegend San Franziskos, ein.
Von alledem weiß ich heute nur noch eines: Ich machte Ernst glücklich. Ich trat in sein stürmisches Leben nicht als eine neue verwirrende Kraft, sondern als Friedensbringerin. Ich schenkte ihm Ruhe, das war der Lohn meiner Liebe für ihn. Das war das untrügliche Zeichen dafür, dass ich mich nicht geirrt hatte. Ihm Vergessen zu schaffen oder das Licht der Freude in diesen armen müden Augen zu entzünden — welch größere Freude hätte mich beseligen können?
Diese lieben, müden Augen. Er arbeitete, wie nur wenige Menschen je gearbeitet haben, und er arbeitete sein ganzes Leben lang für andere. Das war der Maßstab seiner Männlichkeit. Er liebte die Menschen, und er liebte mich. Und dieser Mann mit der eingefleischten Kampflust, seiner Gladiatorenerscheinung und seinem Adlermut — dieser Mann war gegen mich vornehm und zartfühlend wie ein Dichter. Er war ein Dichter. Ein Sänger in Taten. Sein ganzes Leben sang er das Lied der Menschlichkeit. Und er tat es aus reiner Menschenliebe, gab für diese Menschen sein Leben und ward gekreuzigt.
Und alles das tat er nicht in der Hoffnung auf künftigen Lohn. Seiner Auffassung nach gab es kein Leben nach diesem. Er, in dem die Unsterblichkeit loderte, verneinte diese Unsterblichkeit. Das war der Widerspruch in ihm. Er mit seinem warmen Geiste war beherrscht vom materialistischen Monismus, dieser kalten, abstoßenden Philosophie Ich pflegte ihn zu widerlegen, indem ich ihm sagte, dass ich seine Unsterblichkeit an den Schwingen seiner Seele mäße und endlose Zeiten leben müsste, um sie ganz zu ermessen Dann lachte er, streckte die Arme nach mir aus und nannte mich seine liebe Metaphysikerin. Die Müdigkeit schwand aus seinen Augen, und in ihnen erstrahlte das Licht seines Liebesglücks, das auch wieder ein neuer, hinreichender Beweis für seine Unsterblichkeit war.
Oft nannte er mich auch seine Dualistin und wollte mir erklären, wie Kant im Sinne der reinen Vernunft zum Zwecke der Gottesanbetung die Vernunft aufgehoben hätte. Und er zog die Parallele und zieh mich einer ähnlichen Schuld. Und wenn ich meine Schuld eingestand, sie aber als einen Akt höchster Vernunft verteidigte, presste er mich an sich und lachte, wie nur einer von Gottes erkorenen Liebenden lachen kann. Ich war gewohnt, zu verneinen, dass Vererbung und Umgebung das eigene Wesen, die eigene Begabung eher erklärten, als der kalt forschende Finger der Wissenschaft das trügerische Etwas, das hinter dem Leben stand, erfassen, zergliedern, einteilen und erklären könnte.
Ich war der Meinung, dass der Raum das Sichtbarwerden Gottes und dass die Seele eine Erscheinung seines Wesens sei, und wenn er mich seine liebe Metaphysikerin nannte, nannte ich ihn meinen unsterblichen Materialisten. Und so liebten wir uns und waren glücklich; und ich verzieh ihm seinen Materialismus über dem gewaltigen Werk, das er, ohne an einen Gewinn für sich zu denken, vollbrachte, und um seiner außerordentlichen Bescheidenheit willen, die ihn vor einem königlichen Stolz auf sich und seine Seele bewahrte.
Aber stolz war er. Wie sollte auch ein Adler nicht stolz sein? Seiner Auffassung nach war es für einen Sterblichen schöner als für einen Gott, sich Gott ähnlich zu fühlen. Und so begeisterte er sich für das, was er für seine Sterblichkeit ansah. Er zitierte gern das Fragment eines Gedichts, das er nie ganz gesehen hatte, und nach dessen Urheber er vergebens forschte. Ich schreibe dies Fragment hier nieder, nicht nur, weil er es liebte, sondern weil es den Widerspruch zwischen seinem Geist und seiner Auffassung von seinem Gott kennzeichnet. Denn wie kann ein Mann mit bebenden Fibern und leidenschaftlicher Begeisterung diese Verse sprechen und doch nur sterblicher Staub und ein winziges Körnchen vergänglicher Kraft, eine vorübergehende Erscheinung sein? Hier möge es folgen:
Freude auf Freude, Gewinn auf Gewinn
Sind mir von Geburt bestimmt.
Ich jauchze den Stolz meines Lebens hinaus,
Das nie ein Ende nimmt.
Und soll ich auch leiden jeglichen Tod,
Der mir zum letzten beschert,
So hab' ich den Becher der Freude doch
Bis auf den Grund geleert —
Des Stolzes Schaum, der Macht Geschmack,
Der Liebe süße Glut!
Den letzten Tropfen ich kniend schlürf,
Denn ach, der Trank ist gut;
Ich trink auf das Leben, ich trink auf den Tod,
Und mein Lied, mein Lied erklingt,
Denn sterbe ich, ein anderes Ich
Den vollen Becher trinkt.
Der Mensch, den du aus Eden vertriebst,
War ich, o Herr, war ich,
Und ich bin wieder da, wenn Himmel und Meer
Und Erde spalten sich;
Denn es ist meine Welt, meine prächtige Welt,
Die Welt meiner süßen Pein,
Vom ersten Wimmern des Säuglings bis
Zu der gefolterten Mutter Schrei'n.
Mein Puls schlägt kommender Menschheit gleich,
Von Wünschen das Herz mir schwillt,
Die wogende Flut meines wildjungen Bluts
Das göttliche Feuer stillt.
Ich bin Mensch, Mensch, Mensch aus lebendigem Fleisch
Bis zum Rest meiner Erdenfrist,
Vom heimlichen Dunkel des Mutterleibs,
Bis nichts als der Geist mehr ist.
Fleisch meines Fleischs und Blut meines Bluts,
Dreht die Erde sich, wie mir's gefällt,
Und ungestillt wird nach Eden der Durst
Auf ewig quälen die Welt.
Allmächtiger, wenn einst das Leben verrauscht
Und zerstoben der schillernde Schaum,
Ist die Finsternis der ewigen Nacht
Zu lang nicht für meinen Traum.
Der Mensch, den du aus Eden vertriebst,
War ich, o Herr, war ich,
Und ich bin wieder da, wenn Himmel und Meer
Und Erde spalten sich;
Denn es ist meine Welt, meine prächtige Welt,
Die Welt meiner süßen Pein,
Vom ersten Wimmern des Säuglings bis
Zu der gefolterten Mutter Schrei'n.
Ernst war stets überarbeitet. Seine prachtvolle Konstitution hielt ihn aufrecht; aber selbst sie konnte nicht den müden Ausdruck aus seinen Augen bannen. Seine lieben, müden Augen! Denn er schlief nachts nie mehr als viereinhalb Stunden; und doch fand er nicht Zeit genug, alles das zu tun, was er vorhatte. Seine propagandistische Tätigkeit stellte er nie ein, und immer war er auf lange Zeit hinaus für Vorlesungen in den Arbeitervereinen verpflichtet. Und dann der Wahlkampf. Der allein nahm die ganze Kraft eines Mannes in Anspruch. Mit der Unterdrückung der sozialistischen Verlage hatten die mageren Einkünfte, die er von dort bezogen, aufgehört, und er musste schwer für seinen Lebensunterhalt arbeiten, und zwar neben all seiner anderen Arbeit. Er übersetzte eine große Reihe wissenschaftlicher und philosophischer Werke für bürgerliche Verleger. Wenn er spät abends völlig erschöpft heimkam, machte er sich an seine Übersetzungen und arbeitete bis in die Morgenstunden hinein. Und zu alledem kamen noch seine Studien. Bis zu seinem Todestage blieb er ihnen treu, und er studierte ungeheuer viel.
Und doch fand er noch Zeit, mich durch seine Liebe glücklich zu machen. Aber das war nur dadurch möglich, dass ich mein Leben in dem seinen aufgehen ließ. Ich lernte Stenographie und Schreibmaschine und wurde seine Sekretärin. Er behauptete, dass es mir gelänge, seine Arbeit auf die Hälfte zu reduzieren, und ich lernte eifrig, um sein Werk verstehen zu können. Wir teilten alle unsere Interessen und waren miteinander froh.
Und mitten in unserer Arbeit stahlen wir uns süße Augenblicke — nur ein Wort, eine Liebkosung oder einen zärtlichen Blick, und dass wir uns diese Augenblicke stehlen mussten, machte sie nur noch süßer. Wir lebten auf Höhen, wo die Luft rein und funkelnd war, wo alle Mühsal der Menschheit galt, und wo Geiz und Eigennutz nie zugelassen wurden. Wir liebten die Liebe, und nie wurde unsere Liebe getrübt. Und dies bleibt mir: Ich habe nichts versäumt. Ich schenkte ihm Ruhe — ihm, der so schwer für andere arbeitete, meinem lieben Sterblichen mit den müden Augen.
(1) Mayflower war der Name eines der ersten Schiffe, die nach der Entdeckung der Neuen Welt Kolonisten nach Amerika brachten. Die Nachkommen dieser frühesten Kolonisten waren eine Zeitlang stolz auf ihre Abstammung; mit der Zeit verbreitete sich ihr Blut jedoch so, dass es eigentlich in den Adern eines jeden Amerikaners rann.
Kurz nach meiner Verheiratung traf ich zufällig Bischof Morehouse. Aber ich will die Geschehnisse der Reihe nach wiedergeben. Nach dem ereignisreichen Abend in der L.P.H.-Versammlung hatte der Bischof, ein edler Mensch, dem freundschaftlichen Druck, der auf ihn ausgeübt wurde, nachgegeben und war in Urlaub gegangen. Aber er kehrte wieder, fester als je überzeugt, dass es seine Bestimmung sei, die Botschaft der Kirche zu predigen. Und zur Bestürzung seiner Gemeinde war seine erste Predigt ganz ähnlich der Rede, die er seinerzeit in der Versammlung gehalten hatte. Wieder sprach er lange und umständlich davon, dass die Kirche von der Lehre des Herrn abgewichen sei und Mammon an Stelle Christi gesetzt habe.
Der Erfolg war, dass er, ob er wollte oder nicht, in einer privaten Irrenanstalt eingesperrt wurde, während die Zeitungen pathetische Berichte über seinen geistigen Zusammenbruch und die Frömmigkeit seines Charakters brachten. Er wurde als Gefangener im Sanatorium festgehalten. Ich ging mehrmals hin, um ihn zu besuchen, wurde aber nicht zu ihm gelassen, und ich war aufs tiefste erschüttert von der Tragödie eines gesunden, normalen, frommen Mannes, der durch den brutalen Willen der Gesellschaft vernichtet wurde. Denn der Bischof war gesund, rein und edel. Ernst hatte recht! Ihm fehlte nichts als nur die rechten Begriffe von Biologie und Soziologie, und das war der Grund, dass er die Fragen, die sich vor ihm erhoben, nicht hatte beantworten können.
Was mich erschreckte, war die Hilflosigkeit des Bischofs. Wenn er bei der Wahrheit, wie er sie sah, blieb, war er verurteilt, in der Anstalt zu bleiben. Er konnte nichts dagegen tun. Sein Geld, seine Stellung, seine Bildung konnten ihn nicht retten. Seine Ansichten waren gefährlich für die Gesellschaft, und die Gesellschaft konnte nicht begreifen, dass solche Ansichten einem gesunden Hirn entspringen konnten. Dies schien mir jedenfalls die Stellung zu sein, die die Gesellschaft dazu einnahm.
Aber der Bischof war trotz seiner reinen, edlen Gesinnung von Argwohn erfasst. Er begriff seine gefährliche Lage klar. Er sah sich im Netz gefangen und versuchte, zu entschlüpfen. Ohne Hilfe von seinen Freunden, wie Vater, Ernst und ich sie ihm hätte bringen können, war er in seinem Kampf ganz auf sich allein angewiesen. Und in der verschärften Einzelhaft des Sanatoriums erholte er sich und wurde wieder gesund. Er hatte keine Visionen mehr, sein Hirn war von der Idee befreit, dass es Pflicht der Kirche sei, die Lämmer des Herrn zu weiden.
Wie gesagt, er wurde gesund, ganz gesund, und die Zeitungen sowie die Geistlichkeit begrüßten seine Rückkehr freudig. Ich ging einmal in seine Kirche. Die Predigt war ganz wie die, welche er lange, ehe er Visionen gehabt, gehalten hatte. Ich war enttäuscht, erschüttert. Hatte die Gesellschaft ihn zur Unterwerfung gezwungen? War er ein Feigling? War er zum Widerruf gezwungen worden? Oder war die Anstrengung zu groß für ihn gewesen, und hatte er sich demütig den Gesetzen der bestehenden Ordnung unterworfen?
Ich besuchte ihn in seinem schönen Hause. Er war traurig und verändert. Er war recht abgemagert, und sein Gesicht hatte Falten, die ich nie zuvor gesehen. Er war sichtlich erschrocken über meinen Besuch. Beim Sprechen zupfte er nervös an seinem Ärmel, und seine Augen irrten ratlos umher und vermieden es, den meinen zu begegnen. Sein Gedächtnis schien geschwächt, er konnte plötzlich Pausen in der Unterhaltung eintreten lassen, unvermittelt zu anderen Dingen überspringen und zeigte eine verwirrende Inkonsequenz. War dies der klardenkende, christusähnliche Mann, den ich gekannt hatte, der Mann mit den reinen hellen Augen und dem Blick, der ebenso standhaft und fest war wie seine Seele? Man war bös mit ihm umgesprungen; er war eingeschüchtert bis zur Unterwerfung. Seine Gesinnung war zu vornehm. Er hatte nicht vermocht, dem organisierten Wolfsrudel der Gesellschaft zu trotzen.
Ich war traurig, unsagbar traurig. Er sprach unbestimmt und fürchtete sich so offensichtlich vor meinen Fragen, dass ich nicht das Herz hatte, sie zu stellen. Er sprach wie abwesend von seiner Krankheit, und wir unterhielten uns in abgerissenen Sätzen über die Kirche, über Veränderungen in der Verwaltung und über geringfügige Liebeswerke, und er sah mich mit so sichtbarer Erleichterung gehen, dass ich hätte lachen mögen, wäre mir das Herz nicht so voll von Tränen gewesen.
Der arme kleine Held! Hätte ich ihn nur gekannt! Er kämpfte wie ein Riese, und ich ahnte es nicht. Allein, ganz allein inmitten von Millionen Kameraden kämpfte er seinen Kampf. Voll Grauen vor der Anstalt und erfüllt von seinem Glauben an Recht und Wahrheit, hielt er an Recht und Wahrheit fest; aber so allein war er, dass er sich nicht einmal mir anzuvertrauen wagte. Er hatte seine Lektion gut gelernt — nur zu gut.
Aber ich sollte es bald erfahren. Eines Tages verschwand der Bischof. Er hatte niemand etwas davon gesagt, dass er fort wolle. Als aber die Tage vergingen und er nicht zurückkehrte, hieß es allgemein, er müsse in einem Anfall von Geistesgestörtheit Selbstmord begangen haben. Dann aber erfuhr man, dass er seinen ganzen Besitz — sein Haus in der Stadt, sein Landhaus in Menlo Park, seine Gemälde, seine Sammlungen und sogar seine geliebten Bücher — verkauft hatte. Es war klar, dass er heimlich reinen Tisch gemacht hatte, ehe er verschwand.
Dies geschah in der Zeit, als es uns selbst recht elend ging. Kaum aber hatten wir uns in unserer neuen Wohnung eingerichtet, als der Bischof uns Gelegenheit gab, über sein Tun zu staunen und nachzudenken. Und dann wurde uns plötzlich alles klar. Eines Abends war ich in der Dämmerung rasch über die Straße gelaufen, um bei einem Schlachter Fleisch zum Abendbrot für Ernst zu holen.
In dem Augenblick, als ich aus dem Laden trat, tauchte aus dem danebenliegenden Laden ein Mann auf. Ein eigentümliches Gefühl sagte mir, dass ich diesen Mann kennen müsse, und ich sah mich mehrmals nach ihm um. Aber der Mann hatte sich umgedreht und ging eilig fort. Etwas in der Haltung seiner Schultern und der Saum seines silberweißen Haares zwischen Rockkragen und Hutrand erweckten unbestimmte Erinnerungen in mir. Statt die Straße zu kreuzen, eilte ich hinter dem Manne her. Ich suchte mich von dem sich unversehens aufdrängenden Gedanken zu befreien und beschleunigte dabei meine Schritte. Nein, es war unmöglich. Er konnte es nicht sein — dieser Mann in den verschossenen blauen Hosen, die zu lang und an den Enden abgetreten waren.
Ich blieb stehen, lachte über mich selbst und wollte die Jagd aufgeben. Aber diese verhexte Ähnlichkeit der Schultern und dieses Silberhaar! Wieder eilte ich ihm nach. Als ich ihn überholte, blickte ich ihm keck ins Gesicht; dann drehte ich mich plötzlich um und stand — dem Bischof gegenüber.
Er blieb ebenso plötzlich stehen und atmete schwer. Eine große Tüte fiel aus seiner Rechten auf den Bürgersteig. Sie zerriss, und zwischen seine und meine Füße rollten eine Menge Kartoffeln. Er sah mich überrascht und traurig an; dann schien er zu erschlaffen, seine Schultern senkten sich mutlos, und er seufzte tief. Ich reichte ihm die Hand. Er drückte sie, aber die seine fühlte sich feucht an. Er räusperte sich verlegen und ich sah, wie ihm der Schweiß aus der Stirn brach. Er war sichtbar tief erschrocken.
»Die Kartoffeln«, murmelte er ängstlich. »Sie sind kostbar.«
Wir sammelten sie auf und taten sie wieder in die geplatzte Tüte, die er sorgsam unter den Arm presste. Ich versuchte, ihm meine Freude über unsere Begegnung auszudrücken und bat ihn, uns recht bald zu besuchen.
»Vater wird sich freuen, Sie wieder zu sehen«, sagte ich. »Wir wohnen nur ein paar Häuser entfernt.«
»Ich kann nicht«, sagte er. »Ich muss gehen. Leben Sie wohl.«
Er sah sich argwöhnisch um, als fürchtete er, entdeckt zu werden, und schickte sich dann an weiterzugehen. »Sagen Sie mir, wo Sie wohnen; ich werde später vorsprechen«, sagte er, als er sah, dass ich neben ihm herschritt und mich jetzt, da ich ihn gefunden hatte, an seine Fersen heftete.
»Nein«, antwortete ich bestimmt. »Sie müssen jetzt gleich mitkommen.«
Er warf einen Blick auf die Kartoffeln unter seinem Arm und die ändern kleinen Pakete, die er unter dem ändern Arm trug.
»Es ist wirklich unmöglich«, sagte er. »Verzeihen Sie meine Unhöflichkeit. Aber wenn Sie wüssten —«
Er sah aus, als wolle er zusammenbrechen. Im nächsten Augenblick hatte er sich aber wieder in der Gewalt.
»Außerdem diese Lebensmittel«, fuhr er fort. »Es ist ein trauriger Fall. Es ist schrecklich. Sie ist eine alte Frau. Ich muss sie ihr gleich bringen. Sie braucht sie dringend. Ich muss gleich gehen. Sie verstehen. Dann komme ich wieder. Ich verspreche es Ihnen.«
»Ich begleite Sie«, erbot ich mich. »Ist es weit?«
Er seufzte wieder und ergab sich. »Nur bis zur übernächsten Ecke«, sagte er. »Lassen Sie uns eilen.«
Unter der Führung des Bischofs lernte ich einiges aus meiner jetzigen Nachbarschaft kennen. Ich hatte mir nicht träumen lassen, dass es so furchtbares Elend gäbe. Das kam natürlich daher, dass ich mich nicht selbst mit Wohltätigkeit beschäftigte. Ich hatte mich überzeugt, dass Ernst recht hatte, wenn er sie höhnisch als ein Geschwür bezeichnete. Entfernt das Geschwür, hieß sein Rezept. Gebt dem Arbeiter sein Erarbeitetes, pensioniert wie Soldaten die, die in der Arbeit in Ehren grau geworden sind, dann sind Almosen überflüssig. Hiervon überzeugt, arbeitete ich mit ihm gemeinsam auf die Revolution hin und verschwendete meine Kraft nicht damit, soziale Übel zu lindern, die immer wieder aus der Ungerechtigkeit des Systems entspringen mussten.
Ich folgte dem Bischof in das drei mal vier Meter große einzige Zimmer einer Mietswohnung. Und hier trafen wir eine alte Deutsche — vierundsechzig Jahre alt war die Frau, wieder Bischof mir sagte. Sie war überrascht, mich zu sehen, nickte mir aber einen freundlichen Gruß zu und nähte an einem Paar Männerhosen weiter. Neben ihr auf dem Fußboden lag ein weiterer Stoß Hosen. Der Bischof sah, dass weder Kohlen noch Holz vorhanden waren, und ging, es zu holen.
Ich nahm ein Paar Hosen in die Hand und betrachtete ihre Arbeit.
»Sechs Cents, meine Dame«, sagte sie, den Kopf wiegend, und nähte weiter. Sie nähte langsam, aber ununterbrochen. Das Wort »nähen« schien sie ganz zu beherrschen.
»Für diese ganze Arbeit?« fragte ich. »Mehr wird dafür nicht bezahlt? Wie lange brauchen Sie dazu?«
»Nein, mehr nicht. Sechs Cents für die fertige Hose. An jedem Paar nähe ich zwei Stunden. — Aber das weiß der Chef nicht«, fügte sie rasch hinzu, aus Furcht, ihm Unannehmlichkeiten zu bereiten. »Ich bin langsam. Ich habe Gicht in den Fingern. Junge Mädchen arbeiten viel schneller. Sie brauchen nur halb so lange. Der Chef ist gut. Er erlaubt mir, die Arbeit mit heimzunehmen, weil ich alt bin und das Geräusch der Maschine mir Kopfschmerzen macht. Wäre er nicht so gut zu mir, so müsste ich hungern.
Ja, wer im Geschäft arbeitet, bekommt acht Cents. Aber was soll ich tun? Es gibt nicht einmal Arbeit genug für die Jungen. Die Alten haben keine Aussicht. Oft bekomme ich nur ein Paar. Manchmal aber, wie heute, habe ich acht Paar bis zum Abend fertig zu machen.«
Ich fragte sie, wie viele Stunden sie arbeitete; das hinge von der Jahreszeit ab, antwortete sie.
»Im Sommer, wenn die Nachfrage groß ist, arbeite ich von fünf Uhr morgens bis neun Uhr abends. Im Winter aber ist es so kalt. Dann dauert es so lange, bis die Finger nicht mehr steif sind. Dafür muss ich abends länger arbeiten - manchmal bis nach Mitternacht.
Ja, es war ein schlechter Sommer. Die schweren Zeiten! Gott muss zürnen. Das hier ist meine erste Arbeit in dieser Woche. Es ist schon richtig, dass man nicht viel zu essen hat, wenn es keine Arbeit gibt. Aber daran bin ich gewöhnt. Ich habe mein ganzes Leben genäht. Früher in der alten Heimat und jetzt — seit dreiunddreißig Jahren — hier in San Franzisko. Wenn nur das Geld für die Miete da ist, dann ist alles in Ordnung. Der Hauswirt ist sehr freundlich, aber er verlangt seine Miete. Und das gehört sich auch so. Er nimmt nur drei Dollar für dieses Zimmer. Das ist billig. Aber es ist nicht leicht, jeden Monat die drei Dollar aufzubringen .«
Sie schwieg und nähte, den Kopf neigend, weiter.
»Sie müssen mit Ihrem Verdienst sehr haushalten«, meinte ich. Sie nickte lebhaft.
»Wenn ich die Miete bezahlt habe, ist es nicht mehr so schlimm. Fleisch kann ich mir allerdings nicht kaufen. Und Milch zum Kaffee auch nicht. Aber eine Mahlzeit täglich gibt es doch. Und manchmal auch zwei.«
Die letzten Worte sprach sie mit Stolz. Als sie aber schweigend weiter stichelte, bemerkte ich die müden Augen und den abgehärmten Mund. Ihr Blick war abwesend. Sie rieb sich rasch die trüben Augen klar; sie musste weiter nähen.
»Nein, der Hunger tut nicht weh«, erklärte sie. »Daran gewöhnt man sich. Ich weine nur um mein Kind. Die Maschine hat sie getötet. Es ist wahr, sie musste schwer arbeiten, aber ich begreife es doch nicht. Sie war stark, und jung — erst vierzig. Und dreißig Jahre arbeitete sie schon. Sie fing früh an, das ist richtig; aber mein Mann war gestorben. In der Fabrik explodierte der Kessel. Und was sollten wir machen? Sie war erst zehn Jahre alt, aber sehr kräftig. Und doch hat die Maschine sie getötet. Ja. Meine Tochter wurde getötet, und dabei war sie die beste Arbeiterin in der Fabrik. Ich habe oft darüber nachgedacht, und ich weiß es. Darum kann ich nicht in der Fabrik arbeiten. Die Maschine zerrüttet mir den Kopf. Ich höre immer, wie sie sagt: Ich tat es, ich tat es! Und das sagt sie den ganzen Tag. Und dann denke ich an meine Tochter und kann nicht arbeiten.«
Ihre Augen wurden wieder feucht, und sie musste sie sich wischen, ehe sie weiter sticheln konnte.
Ich hörte den Bischof die Treppe herauf stolpern und öffnete die Tür. Was für einen Anblick bot er! Auf dem Rücken trug er einen halben Sack Kohlen, und obendrauf ein Bündel Holz. Sein Gesicht war von Kohlenstaub bedeckt, und der Schweiß rann ihm in Strömen von der Stirn. Er stellte seine Last in die Ecke neben den Ofen und wischte sich das Gesicht mit einem bunten baumwollenen Taschentuch. Ich traute kaum meinen Augen. Der Bischof schwarz wie ein Kohlenträger, in einem billigen Arbeiterhemd (am Halse fehlte ein Knopf) und in Überziehhosen! Das war das Merkwürdigste von allem — die Überziehhosen, die, unten abgetreten, zu weit herabhingen und mit einem schmalen Lederriemen, wie Arbeiter ihn tragen, um die Hüfte geschnallt waren.
Dem Bischof war warm, aber der alten Frau krampften sich die armen geschwollenen Hände vor Kälte zusammen; und ehe wir sie verließen, hatte der Bischof Feuer gemacht und ich die Kartoffeln geschält und auf den Ofen gestellt. Mit der Zeit sollte ich erfahren, dass sich viele ähnliche Fälle wie der ihrige und noch weit schlimmere in den ungeheuren Arbeiterkasernen meiner Nachbarschaft verbargen.
Als wir in unsere Wohnung traten, war Ernst beunruhigt um mich. Nachdem die erste Überraschung sich gelegt hatte und sie sich begrüßt hatten, lehnte sich der Bischof auf seinem Stuhl zurück und seufzte mit sichtbarer Erleichterung. Wir seien die ersten von seinen alten Freunden, die er seit seinem Verschwinden sähe, sagte er. Er musste in der Zwischenzeit sehr unter der Einsamkeit gelitten haben. Er erzählte viel, sprach aber am meisten von der Freude, die er bei der Ausübung des göttlichen Gebotes fühlte.
»Jetzt weide ich wirklich seine Lämmer«, sagte er. »Und ich habe eine große Lehre erhalten. Der Seele kann nicht geholfen werden, ehe nicht der Magen beschwichtigt ist. Zuerst müssen seine Lämmer Brot und Butter, Kartoffeln und Fleisch haben, und dann, dann erst sind ihre Seelen für feinere Nahrung empfänglich.«
Er aß so herzhaft von dem Abendbrot, das ich bereitet hatte. Nie hatte er in alten Tagen an unserm Tisch einen solchen Appetit gehabt. Wir sprachen darüber, und er sagte, dass er sich nie im Leben so wohl gefühlt hätte wie jetzt.
»Ich gehe jetzt stets zu Fuß«, sagte er, und die Röte stieg ihm in die Wangen bei dem Gedanken an die Zeit, da er in seinem Wagen gefahren war, als sei es eine Sünde gewesen, von der er sich nicht so leicht lossprechen könnte. Und doch lag in seinem Gesicht eine immerwährende Qual, die Qual des Leides, das er jetzt auf sich genommen hatte. Er sah das Leben in seiner wahren Gestalt, und die war so ganz anders, als er es in seinen Büchern gelesen hatte.
»Und Sie haben die Verantwortung für alles das, junger Mann«, wandte er sich direkt an Ernst.
Ernst war verlegen.
»Ich — ich habe Sie gewarnt«, stotterte er.
»Nein, Sie missverstehen mich«, erwiderte der Bischof. »Ich mache Ihnen keinen Vorwurf, sondern ich danke Ihnen. Ich muss Ihnen danken, weil Sie mir meinen Weg gewiesen haben. Sie haben mich von den Theorien des Lebens zum Leben selbst geführt. Sie haben den Schleier vom sozialen Betrug weggezogen. Sie haben Licht in mein Dunkel gebracht, und jetzt sehe ich das Licht auch. Und ich bin sehr glücklich, nur... « Er zögerte zerquält, und in seinen Augen lag eine tiefe Furcht. »Nur die Verfolgung. Ich tue niemand etwas zuleide. Warum lässt man mich nicht in Ruhe? Aber es ist nicht das. Es ist die Art der Verfolgung. Ich würde nichts danach fragen, wenn sie mir das Fleisch in Streifen schnitten, mich auf dem Scheiterhaufen verbrennen würden oder mich kreuzigten. Was ich fürchte, ist nur die Anstalt. Denken Sie! Ich — in eine Irrenanstalt! Es ist empörend! Ich sah einige Fälle in den Sanatorien. Sie waren furchtbar. Das Blut erstarrt mir, wenn ich daran denke. Und für den Rest meines Lebens inmitten von Tobsucht und Wahnsinn eingesperrt zu sein! Nein! Nein! Nur das nicht! Nur das nicht!«
Er war bemitleidenswert. Seine Hände zitterten, sein ganzer Körper bebte zurück vor dem Bild, das er heraufbeschworen hatte. Aber im nächsten Augenblick war er wieder ruhig.
»Verzeihen Sie«, sagte er schlicht. »Ich bin so nervös Und wenn das Werk des Herrn mich dorthin führt, so mag es sein. Wer bin ich, dass ich klagen dürfte.«
Als ich ihn ansah, hätte ich laut rufen mögen: Großer Bischof! Held! Held Gottes!
Im Laufe des Abends erfuhren wir noch mehr über sein Tun.
»Ich habe mein Haus — oder vielmehr meine Häuser — «, sagte er »und meinen ganzen Besitz verkauft. Ich wusste, dass ich es heimlich tun musste, weil man mir sonst alles weggenommen hätte, und das wäre schrecklich gewesen. Ich denke in diesen Tagen oft darüber nach, welch ungeheure Menge Kartoffeln oder Brot, Fleisch, Kohlen oder Holz man für zwei- oder dreihunderttausend Dollar kaufen könnte.«
Er wandte sich an Ernst.
»Sie haben recht, junger Mann. Die Arbeit wird schrecklich bezahlt. Ich habe nie in meinem Leben gearbeitet, außer, dass ich an die Pharisäer in ästhetischem Sinne appellierte — ich dachte, die göttliche Botschaft zu predigen —, und doch hatte ich eine halbe Million Dollar. Ich habe nie gewusst, was eine halbe Million Dollar bedeutete, bis ich ausrechnete, wie viel Kartoffeln, Brot, Butter und Fleisch ich dafür kaufen könnte. Und da machte ich mir noch etwas klar. Ich dachte darüber nach, dass all diese Kartoffeln, all dieses Brot, diese Butter und dieses Fleisch mir gehörten, und dass ich dabei nichts für ihre Erzeugung getan hatte. Es wurde mir klar, dass andere es getan hatten, und dass es ihnen geraubt worden war. Und als ich zu den Armen herabstieg, fand ich die, welche man beraubt hatte, und die dadurch hungrig und elend geworden waren.«
Wir veranlassten ihn, den Faden seiner Erzählung wieder aufzunehmen.
»Das Geld? Ich habe es in vielen verschiedenen Banken unter verschiedenen Namen deponiert. Man kann es mir nie nehmen, denn man findet es nicht. Und Geld ist doch etwas so Gutes. Man kann so viel Nahrung dafür kaufen. Nie habe ich gewusst, wozu Geld gut ist.«
»Ich wünschte, wir hätten etwas davon für unsere Propaganda«, sagte Ernst sinnend.
»Meinen Sie?« sagte der Bischof. »Ich habe nicht viel Vertrauen zur Politik. Ich glaube, dass ich eigentlich nichts von Politik verstehe.«
Ernst war in solchen Dingen sehr zartfühlend. Er wiederholte seine Anspielung nicht, obgleich er die arge Verlegenheit, in der sich die sozialistische Partei durch ihren Geldmangel befand, nur zu gut kannte.
»Ich schlafe in billigen Logierhäusern«, fuhr der Bischof fort. »Aber ich fürchte mich und bleibe nie lange an einer Stelle. Ferner habe ich zwei Zimmer in Arbeiterkasernen in verschiedenen Stadtgegenden gemietet. Das ist eine große Extravaganz, ich weiß, aber es ist notwendig. Ich mache es aber wieder gut dadurch, dass ich selbst koche, nur manchmal esse ich in billigen Restaurants. Und ich habe eine Entdeckung gemacht. Tamales(1) sind ausgezeichnet, wenn die Luft spät abends kühl wird. Nur sind sie so teuer. Aber ich habe ein Lokal ausfindig gemacht, wo ich drei für zehn Cents bekomme; sie sind nicht so gut wie anderswo, aber sie wärmen doch.
Und so habe ich endlich, dank Ihnen, junger Mann, meine Arbeit in der Welt gefunden. Das ist das Werk des Herrn.« Er sah mich an und zwinkerte mit den Augen. »Sie haben mich dabei erwischt, wie ich seine Lämmer weidete. Aber Sie werden mein Geheimnis sicher wohl verwahren.«
Er sprach scheinbar sorglos, aber hinter seinen Worten war doch die Angst zu spüren. Er versprach, uns wieder zu besuchen, aber eine Woche später lasen wir in der Zeitung den traurigen Fall des Bischofs Morehouse, der ins Napa-Asyl eingeliefert worden war, und für den es nur noch eine schwache Hoffnung gab. Vergebens versuchten wir zu ihm zu dringen. Und ebenso vergebens bemühten wir uns durchzusetzen, dass die Sache wieder aufgenommen und nochmals untersucht würde. Wir konnten nichts weiter über ihn erfahren, außer der wiederholten Versicherung, dass noch eine schwache Hoffnung für seine Wiederherstellung vorhanden sei.
»Christus sprach zu dem reichen Jüngling, er solle all seinen Besitz verkaufen«, sagte Ernst bitter. »Der Bischof hat dieser Aufforderung gehorcht und ist in ein Irrenhaus gesperrt worden. Die Zeiten haben sich seit Christus geändert. Ein reicher Mann, der alles, was er hat, den Armen gibt, ist heute verrückt. Darüber ist nicht zu streiten.«
(1) Ein mexikanisches Gericht, das gelegentlich in der Literatur jener Zeit erwähnt wird. Man nimmt an, dass es sich um eine warme, starkgewürzte Speise gehandelt hat. Ein Rezept davon ist uns nicht überliefert.
Natürlich wurde Ernst bei dem großen sozialistischen Rutsch im Herbst 1912 in den Kongress gewählt. Ein Umstand, der sehr zum Anschwellen der sozialistischen Flut beitrug, war die Vernichtung Hearsts(1). Das erschien der Plutokratie leichte Arbeit. Die Herausgabe seiner verschiedenen Zeitungen kostete Hearst jährlich achtzehn Millionen Dollar, und diese Summe und mehr noch zahlte ihm der Mittelstand wieder für Anzeigen zurück. Die Quelle seiner finanziellen Kraft bildete ausschließlich der Mittelstand. Die Trusts inserierten nicht(2). Um Hearst zu vernichten, war es nur notwendig, ihm die Anzeigen zu entziehen. Der Mittelstand war noch nicht ganz ausgerottet. Das feste Skelett war geblieben, aber es hatte keine Kraft. Die kleinen Fabrikanten und Geschäftsleute, die es noch gab, waren ganz auf die Gnade der Plutokratie angewiesen. Sie hatten keinen wirtschaftlichen oder politischen Halt mehr. Als sie von der Plutokratie den Befehl erhielten, entzogen sie der Hearst-Presse ihre Anzeigen.
Hearst kämpfte tapfer. Er gab seine Zeitungen mit einem Verlust von anderthalb Millionen monatlich heraus. Er druckte die Anzeigen kostenlos weiter. Die Plutokratie gab neue Befehle aus, und die kleinen Fabrikanten und Geschäftsleute überschwemmten Hearst mit einer Flut von Briefen, in denen sie die Veröffentlichung ihrer früheren Anzeigen untersagten. Hearst beharrte auf seinem Standpunkt.
Es ergingen gerichtliche Aufforderungen an ihn. Er ließ sich nicht einschüchtern. Er erhielt sechs Monate Gefängnis wegen Missachtung des Gerichts, weil er den an ihn ergangenen Aufforderungen nicht nachgekommen war, und schließlich machte er infolge zahlloser Schadenersatzklagen Bankrott Jede Möglichkeit war ihm abgeschnitten. Die Plutokratie hatte ihr Urteil gefällt. Die Gerichtshöfe waren in ihrer Hand und mussten das Urteil vollstrecken. Und mit Hearst ging auch die demokratische Partei zugrunde, der er neues Leben eingehaucht hatte.
Nach der Vernichtung Hearsts und der demokratischen Partei gab es für deren Anhänger nur zwei Wege: der eine führte zur sozialistischen, der andere zur republikanischen Partei.
So kam es, dass wir Sozialisten die Früchte von Hearsts pseudosozialistischer Lehre ernteten, denn der größte Teil seiner Anhänger ging zu uns über.
Die damals stattgefundene Enteignung der Landwirte würde ebenfalls unsere Stimmenzahl vergrößert haben, hätte man nicht die kurzlebige und unfruchtbare Bauernpartei gegründet. Ernst und die sozialistischen Führer bemühten sich ungeheuer um die Landwirte, aber die Vernichtung der sozialistischen Zeitungen und Verlagsanstalten bildete ein zu großes Hindernis, und in der mündlichen Propaganda war man damals noch nicht erfahren genug. Daher kam es, dass Politiker vom Schlage des Herrn Calvin, selbst längst enteignete Gutsbesitzer, die Bauern für sich gewannen und ihre politische Kraft in einem vergeblichen Wahlkriege verschwendeten .
»Die armen Bauern«, Ernst lachte wild; »sie sind ganz in den Händen der Trusts.«
Und so war es wirklich. Die sieben großen, Hand in Hand arbeitenden Trusts hatten ihre riesigen Überschüsse zusammengelegt und bildeten den Landtrust. Die Eisenbahnen, die die Frachtsätze, und die Bankiers und Börsenjobber, die die Preise kontrollierten, hatten die Bauern längst zu ihren Schuldnern gemacht. Die Banken und sämtliche Trusts hatten den Landwirten längst riesige Summen geliehen. Sie waren im Netz gefangen, man brauchte nur noch das Netz aus dem Wasser zu ziehen. Und das besorgte der Landtrust.
Die schweren Zeiten von 1912 hatten schon einen furchtbaren Preissturz auf dem landwirtschaftlichen Markte zur Folge gehabt. Jetzt wurden die Preise absichtlich bis zum Ruin der Bauern gedrückt, während die Eisenbahnen mit ihrem übermäßigen Tarif dem Bauernkamel das Rückgrat brachen. Die Bauern waren gezwungen, immer mehr Geld aufzunehmen, während es ihnen unmöglich gemacht wurde, alte Schulden zu bezahlen. Die Folge waren große hypothekarische Verschreibungen und weitere Ansammlungen von Schuldscheinen. Schließlich übergaben die Bauern ihren Grundbesitz einfach dem Landtrust. Es blieb ihnen nichts anderes übrig. Und als sie ihren Besitz abgetreten hatten, arbeiteten sie für den Landtrust als Verwalter, Inspektoren, Vorarbeiter und einfache Knechte. Sie arbeiteten für Lohn. Sie wurden Leibeigene, kurz — Sklaven, die sich im Schweiße ihres Angesichts ihr Brot verdienen mussten. Sie konnten ihren Herrn nicht fortlaufen, denn sie waren Mitglieder der Plutokratie. Sie konnten nicht in die Städte gehen, denn auch die hatte die Plutokratie in ihrer Gewalt. Sie hatten nur die Möglichkeit, die heimatliche Scholle zu verlassen, um Landstreicher zu werden und zu hungern. Und auch diese Möglichkeit wurde ihnen genommen, denn es wurden gegen die Landstreicher strenge Gesetze erlassen und unnachgiebig durchgeführt.
Hier und dort gab es natürlich Bauern und ganze Bauerngemeinschaften, die dank außergewöhnlichen Verhältnissen der Enteignung entgangen waren. Aber das waren nur wenige, sie zählten nicht, und auch sie wurden im Laufe des nächsten Jahres irgendwie eingeheimst(3).
So lagen die Dinge im Herbst 1912, und die sozialistischen Führer nahmen, mit Ausnahme von Ernst, an, dass das Ende des Kapitalismus gekommen sei. Durch die Schwere der Zeiten war das Heer der Arbeitslosen ungeheuer angeschwollen, und die Vernichtung der Landwirte und des Mittelstandes sowie die entschiedene Niederlage, die die Arbeiterverbände auf der ganzen Linie erlitten hatten, trugen das Ihre dazu bei. Die Sozialisten glaubten fest an das Ende des Kapitalismus und warfen der Plutokratie den Fehdehandschuh hin.
Ach, wie unterschätzten wir die Macht des Feindes! Überall verkündeten die Sozialisten ihren bevorstehenden Sieg an der Wahlurne und erklärten die Situation mit nicht mißzuverstehenden Worten. Die Plutokratie nahm den Fehdehandschuh auf. Und, prüfend und wägend, besiegte sie uns, indem sie unsere Macht zersplitterte. Durch ihre Geheimagenten ließ sie verbreiten, dass die Sozialisten Gotteslästerer und Atheisten wären. Sie riefen die Kirche, und vor allem die katholische, auf den Plan und jagten uns dadurch einen Teil von Arbeiterstimmen ab. Und, natürlich wieder durch ihre Geheimagenten, ermutigte die Plutokratie die Bauernpartei und zerstreute dann die Bauern in die Städte und in die Reihen des sterbenden Mittelstandes.
Immerhin erfolgte also der sozialistische Rutsch. Aber statt eines durchschlagenden Erfolges, der uns die höchste Vollziehungsgewalt und das Übergewicht in allen gesetzgebenden Körperschaften gesichert hätte, mussten wir sehen, dass wir in der Minderheit waren. Allerdings konnten wir fünfzig Mitglieder in den Kongress schicken. Als sie aber im Frühjahr 1913 ihre Sitze einnahmen, entdeckten sie ihre völlige Machtlosigkeit. Sie waren aber noch glücklicher als die Landwirte, die ein Dutzend Plätze erhalten hatten, sie aber nicht einnehmen konnten. Die früheren Inhaber weigerten sich, sie zu verlassen. Und die Gerichte befanden sich in den Händen der Oligarchie. Aber das greift dem Gang der Ereignisse zu weit vor. Ich muss zuvor noch von den aufregenden Zeiten des Winters 1912 berichten.
Die schweren Zeiten hatten eine ungeheure Absatzstockung verursacht. Die Arbeiter, meistens ohne Arbeit, hatten kein Geld, um zu kaufen. Die Folge war, dass die Plutokratie einen größeren Überschuss als je in Händen hatte. Diesen Überschuss musste sie an das Ausland absetzen, denn zur Ausführung ihrer riesigen Pläne brauchte sie viel Geld. Die Folge der großen Anstrengungen, die sie machte, um diesen Überschuss auf dem Weltmarkt abzustoßen, war, dass die Plutokratie mit Deutschland zusammenstieß . Wirtschaftliche Zusammenstöße pflegen durch Kriege ausgetragen zu werden, und diesmal war es nicht anders. Der mächtige deutsche Kriegsherr rüstete, und dasselbe taten die Vereinigten Staaten.
Die Kriegswolken hingen schwarz und drohend am Himmel. Eine Weltkatastrophe schien vor der Tür zu stehen, denn in der ganzen Welt gab es schwere Zeiten, Arbeiterunruhen, untergehenden Mittelstand und Heere von Arbeitslosen, Zusammenstöße wirtschaftlicher Interessengruppen auf dem Weltmarkte und ein Gemurmel und Raunen von der kommenden sozialistischen Revolution(4).
Die Oligarchie wollte den Krieg mit Deutschland. Und sie wollte ihn aus Dutzenden von Gründen. Im Wirrwarr der Ereignisse, die ein solcher Krieg verursachen musste, in der Neumischung der internationalen Karten sowie in den Abschlüssen neuer Verträge hatte die Oligarchie viel zu gewinnen. Ferner musste der Krieg viele nationale Überschüsse verbrauchen, die Heere der Arbeitslosen, die alle Länder bedrohten, vermindern und der Oligarchie eine Atempause zur Ausführung ihrer weiteren Pläne schenken. Ein solcher Krieg musste tatsächlich der Oligarchie die Herrschaft über den Weltmarkt verschaffen. Er musste auch ein großes stehendes Heer ins Leben rufen, das nicht mehr abgerüstet zu werden brauchte, während die öffentliche Meinung den Ruf »Sozialismus gegen Oligarchie« mit dem »Amerika gegen Deutschland« vertauschen würde.
Und sicher würde der Krieg die Erwartungen der Oligarchie erfüllt haben, wären nicht die Sozialisten gewesen. In unseren vier engen Zimmern in der Pell-Street fand eine geheime Zusammenkunft der westlichen Führer statt. Hier wurde zunächst der Standpunkt erwogen, den die Sozialisten einnehmen sollten.
Es war jedoch nicht das erste Mal, dass wir dem Krieg den Fuß auf den Nacken setzten(5), aber in den Vereinigten Staaten geschah es zum ersten Male. Nach unserer geheimen Zusammenkunft traten wir in Fühlung mit den Organisationen des Landes, und bald gingen unsere Chiffretelegramme über den Atlantischen Ozean zwischen uns und den internationalen Bureaus hin und her.
Die deutschen Sozialisten waren bereit, gemeinsame Sache mit uns zu machen. Es waren über fünf Millionen Mann, darunter viele, die im aktiven Heere dienten und gute Beziehungen zu den Arbeiterorganisationen unterhielten. In beiden Ländern führten die Sozialisten eine kühne Sprache, erhoben Einspruch gegen den Krieg und drohten mit Generalstreik. Und unterdessen trafen sie ihre Vorbereitungen. Außerdem brachte die revolutionäre Partei in allen Ländern den sozialistischen Grundgedanken zum Ausdruck, an dem man für alle Fälle, selbst für den einer Revolte und Revolution in der Heimat, festhalten wollte.
Der Generalstreik war der einzige große Sieg, den wir amerikanischen Sozialisten errangen. Am vierten Dezember wurde der amerikanische Botschafter in Berlin abberufen. In der Nacht machte die deutsche Flotte einen Angriff auf Honolulu, versenkte drei amerikanische Kreuzer sowie einen Zollkutter und bombardierte die Stadt. Am nächsten Tage erklärten Amerika und Deutschland einander de Krieg, und eine Stunde später hatten die Sozialisten beider Länder zum Generalstreik aufgerufen.
Zum ersten Mal wandte sich der deutsche Kriegsherr an den Teil seines Volkes, der seine Macht bildete. Ohne ihn konnte er seine Herrschaft nicht ausüben. Das Neue war dass die Aufrührer untätig blieben. Sie kämpften nicht. Sie taten nichts. Und dadurch banden sie ihrem Kriegsherrn die Hände. Er hätte nichts sehnlicher gewünscht als eine Gelegenheit, seine Kriegshunde auf das rebellische Proletariat loszulassen. Aber er konnte auch seine Armee nicht in Bewegung setzen, um in den Krieg zu ziehen, und ebenso wenig konnte er die widerspenstigen Elemente bestrafen. Nicht ein Rad lief mehr in seinem Reiche. Keine Eisenbahn verkehrte, keine Telegramme liefen über den Draht, denn Telegraphen - und Bahnbeamte hatten gleichzeitig mit der übrigen Bevölkerung die Arbeit niedergelegt.
Und ebenso wie in Deutschland ging es in den Vereinigten Staaten. Die organisierten Arbeiter hatten endlich etwas gelernt. Auf ihrem eigenen Felde, dem der Arbeit, geschlagen, hatten sie sich auf das politische der Sozialisten begeben, denn dieser Generalstreik war ein politischer Kampf. Die Niederlage im Wirtschaftskampfe hatte zur Folge gehabt, dass ihnen jetzt alles gleich war. Aus lauter Verzweiflung traten sie in den Generalstreik ein. Zu Millionen legten sie ihre Werkzeuge nieder und verließen ihre Arbeitsstätten. Besonders taten sich dabei die Maschinenarbeiter hervor. Sie waren blutgierig, und wenn ihre Organisation auch anscheinend vernichtet war, so zeigten sie sich doch jetzt wieder gemeinsam mit ihren Verbündeten aus der Metallindustrie.
Selbst die ungelernten und die nicht organisierten Arbeiter legten die Arbeit nieder. Das Streikfieber hatte alle ergriffen, und keiner konnte arbeiten. Und als die eifrigsten Förderer des Streiks erwiesen sich die Frauen. Sie widersetzten sich dem Kriege. Sie wollten ihre Männer nicht in den Krieg ziehen und sterben lassen. Aber die Idee des Generalstreiks wirkte auch auf das Gemüt des Volkes. Sie erweckte seinen Sinn für Humor. Sie wirkte ansteckend. In allen Schulen streikten die Kinder, und die Lehrer mussten nach Hause gehen, weil keine Schüler da waren. Der Generalstreik nahm die Form einer großen nationalen Landpartie an. Die Idee von der Solidarität der Arbeiter, die so offenkundig geworden war, beschäftigte die Phantasie aller. Und letzten Endes war diese riesige Aktion gefahrlos, denn wenn jeder schuldig war, konnte keiner bestraft werden.
Die Vereinigten Staaten waren gelähmt. Niemand wusste, was vorging. Es gab keine Zeitungen, keine Briefe, keine Telegramme. Jede Gemeinde war so abgesondert, als lägen zehntausend Meilen Urwildnis zwischen ihr und der übrigen Welt. Und dieser Zustand dauerte eine Woche.
In San Franzisko erfuhren wir nichts von dem, was sich jenseits der Bucht in Oakland oder Berkeley ereignete. Der Eindruck war unheimlich, niederdrückend. Es war, als sei ein großes, kosmisches Wesen gestorben. Der Puls des Landes hatte aufgehört zu schlagen. Die Nation war wirklich wie tot. Man hörte kein Wagengerassel auf den Straßen, keine Fabrikpfeife, keine Ausrufe der Zeitungsjungen. Nichts — nichts, außer dass hier und dort Leute, selbst bedrückt durch die Stille und gleichsam wie wesenlos, wie heimliche Geister vorbeihuschten.
In dieser Woche des Schweigens erhielt die Oligarchie ihre Lehre. Und sie lernte gut. Der Generalstreik war eine Warnung. Das durfte nie wieder geschehen. Dafür wollte die Oligarchie sorgen.
Am Ende der Woche kehrten, wie vereinbart, die Telegraphisten auf ihren Posten zurück. Die sozialistischen Führer beider Länder ließen durch sie den Herrschern ihr Ultimatum übermitteln. Die Kriegserklärung sollte zurückgezogen werden, oder der Generalstreik würde weitergeführt. Bald darauf kam es zu einer Verständigung. Die Kriegserklärung wurde widerrufen, und die Bevölkerung beider Länder kehrte an ihre Arbeit zurück.
Die Erneuerung des Friedens brachte das Bündnis zwischen Deutschland und den Vereinigten Staaten. Tatsächlich war es ein Bündnis zwischen Kaiser und Oligarchie, um den gemeinsamen Feind, das revolutionäre Proletariat beider Länder, zu treffen. Und dieses Bündnis sollte die Oligarchie später so schändlich brechen, als die deutschen Sozialisten aufstanden und den obersten Kriegsherrn von seinem Thron vertrieben. Das war es ja, was die Oligarchie gewollt hatte — der Ausschluss ihres großen Rivalen vom Weltmarkt. War der deutsche Kaiser aus dem Wege geräumt und der Sozialismus am Ruder, so konnte Deutschland keine Überschüsse mehr exportierten. Denn bei dem Wesen des sozialistischen Staates musste Deutschland alles verbrauchen, was es erzeugte. Natürlich musste es gewisse seiner Erzeugnisse gegen solche austauschen, die es selbst nicht produzierte; dieser Warenaustausch aber war grundverschieden von der früheren kapitalistischen Wirtschaftsweise .
»Ich wette, die Oligarchie findet schon eine Entschuldigung dafür«, sagte Ernst, als er ihren Verrat am deutschen Kaiser erfuhr. »Wie immer wird die Oligarchie glauben, recht gehandelt zu haben.«
Und wirklich. Die Oligarchie entschuldigte ihre Handlungsweise öffentlich damit, zum Wohle des amerikanischen Volkes gehandelt zu haben, für dessen Interessen sie besorgt gewesen wäre. Sie hatte den verhassten Rivalen vom Weltmarkt verdrängt und Amerika befähigt, seinen Überschuss dorthin zu verkaufen.
»Und das Unsinnige dabei ist, dass wir so hilflos sind und unsere Interessen wirklich durch solche Idioten vertreten lassen müssen«, meinte Ernst. »Sie haben es uns ermöglicht, mehr zu exportieren, und das bedeutet, dass wir gezwungen sind, weniger zu verbrauchen.«
(1) William Randolph Hearst — ein junger kalifornischer Millionär, der der mächtigste Zeitungsbesitzer im Lande wurde. Seine Zeitungen erschienen in allen großen Städten und wandten sich an den aussterbenden Mittelstand sowie an das Proletariat. So groß war sein Gefolge, dass es ihm gelang, sich in der leeren Muschelschale der alten demokratischen Partei einzunisten. Er nahm insofern eine besondere Stellung ein, als er einen entmannten Sozialismus, verbunden mit einer schwer beschreiblichen Art von kleinbürgerlichem Kapitalismus predigte. Das war Öl und Wasser und gänzlich aussichtslos, wenn er auch eine kleine Weile eine Quelle ernster Befürchtungen für die Plutokratie bildete.
(2) Es ist höchst erstaunlich, was in jenen wirren Zeiten für Inserate ausgegeben wurde. Nur die Kleinkapitalisten standen im Konkurrenzkampf und inserierten deshalb. Da die Trusts keine Konkurrenz kannten, hatten sie nicht nötig, zu inserieren.
(3) Die Vernichtung der römischen Bauernschaft vollzog sich mit weit geringerer Schnelligkeit als die der amerikanischen Landwirte und Kleinkapitalisten. Im zwanzigsten Jahrhundert gab es eine Triebkraft, die im alten Rom nicht existiert hatte.
Zahlreiche Landwirte, die sich nicht von ihrer Scholle vertreiben lassen und lieber wie die wilden Tiere leben wollten, versuchten sich der Enteignung zu entziehen, indem sie sich von allen Märkten fern hielten. Sie verkauften nichts und kauften nichts. Ein primitiver Tauschhandel begann unter ihnen; ihre Entbehrungen und ihre Mühsal waren schrecklich, aber sie harrten aus. Es wurde tatsächlich eine Bewegung. Die Art, wie sie schließlich geschlagen wurden, war ebenso eigenartig wie logisch und einfach. Die Plutokratie benutzte ihre Regierungsgewalt, um Steuern zu erheben. Das war der schwache Punkt in der Verteidigung der Bauern. Da sie weder kauften noch verkauften, hatten sie kein Geld, und so wurde ihr Land schließlich verkauft, um die Steuern zu bezahlen.
(4) Lange Zeit hatte man es murmeln und raunen hören. Schon im Jahre 1906 äußerte Lord Avebury, ein Engländer, im Herrenhause folgende Worte: »Die Unruhe in Europa, die Verbreitung des Sozialismus und das verhängnisvolle Anwachsen des Anarchismus sind Warnungen für die Regierungen und die herrschenden Klassen, dass die Lage der arbeitenden Klasse in Europa immer unerträglicher wird, und dass zur Vermeidung einer Revolution Schritte unternommen werden müssen, um die Löhne zu erhöhen, die Zahl der Arbeitsstunden zu reduzieren und die Preise für Lebensmittel und andere Notwendigkeiten herabzusetzen.« Das »Wall Street Journal«, ein Organ der Börse, schrieb als Kommentar zu der Rede Lord Aveburys: »Diese Worte hat ein Aristokrat und Mitglied der konservativsten Körperschaft in Europa geäußert. Das verdoppelt ihre Bedeutung. Sie enthalten mehr gesunde politische und ökonomische Gesichtspunkte, als man sie in den meisten Büchern findet. Sie klingen wie ein Warnruf. Aufgepasst, meine Herren vom Kriegs- und Marineministerium l«
Zur gleichen Zeit schrieb der Amerikaner Sydney Brooks in Harper's Wochenschrift: »Sie hören nichts von den Sozialisten in Washington. Warum sollten Sie auch? Die Politiker sind immer die letzten, die erkennen, was sich in ihrem eigenen Lande unter ihren Augen zuträgt. Sie werden mich auslachen, wenn ich, und zwar mit größter Zuversicht prophezeie, dass die Sozialisten bei den nächsten Präsidentenwahlen mehr als eine Million Stimmen erhalten werden.«
(5) Bei Anbruch des zwanzigsten Jahrhunderts formulierten die Sozialisten endlich ihre lang durchdachte Kriegspolitik. In wenigen Worten lautete ihr Entschluss: »Warum sollten die Arbeiter eines Landes mit denen eines ändern Landes zum Wohl ihrer kapitalistischen Herren kämpfen?«
Am 21. Mai 1905, als ein Krieg zwischen Österreich und Italien drohte, hielten die Sozialisten Italiens und Österreich-Ungarns eine Konferenz in Triest ab und drohten mit einem Generalstreik der Arbeiter beider Länder, falls der Krieg erklärt würde. Dasselbe wiederholte sich, als im folgenden Jahre die Marokko-Affäre Frankreich, Deutschland und England in einen Krieg zu verwickeln drohte.
Schon im Januar 1913 sah Ernst deutlich, welchen Lauf die Dinge nehmen würden, aber es gelang ihm nicht, auch die ändern das Bild, das er von der Eisernen Ferse sah, sehen zu lassen. Sie waren zu vertrauensselig. Die Ereignisse näherten sich mit großer Hast der Entscheidung. Eine Weltkrise war eingetreten. Die amerikanische Oligarchie beherrschte tatsächlich den Weltmarkt und verdrängte zahllose Länder mit unverbrauchten und unverkäuflichen Überschüssen. Diesen Ländern blieb nichts übrig als eine vollkommene Umstellung. Sie konnten nicht fortfahren, Überschüsse, das heißt Exportwaren, zu erzeugen. In diesen Ländern brach das kapitalistische System rettungslos zusammen.
Die Umstellung nahm hier revolutionäre Formen an. Es war eine Zeit der Verwirrung und Gewalt. Überall brachen Staatsordnung und Regierung zusammen. In allen Ländern bis auf zwei oder drei kämpften die bisherigen Kapitalisten erbittert um ihren Besitz. Aber die Herrschaft wurde ihnen vom kämpfenden Proletariat entrissen. Endlich bewahrheitete sich der klassische Ausspruch von Karl Marx: »Die Totenglocke des Privateigentums hat geschlagen. Die Enteigner werden selbst enteignet.« Und ebenso schnell, wie die kapitalistischen Regierungen zusammenbrachen, entstanden an ihrer Stelle genossenschaftliche Gemeinwesen.
»Wo bleiben die Vereinigten Staaten!« »Wacht auf, ihr amerikanischen Revolutionäre!« »Was ist mit Amerika?« — so lauteten die Botschaften, die wir von unseren siegreichen Genossen in anderen Ländern erhielten. Aber wir konnten nicht emporgelangen, die Oligarchie versperrte uns den Weg. Wie ein riesiges Ungeheuer stand sie da.
»Wartet bis zum Frühjahr«, antworteten wir. »Dann sollt ihr sehen.«
Hinter diesen Worten lag unser Geheimnis. Wir hatten die Bauernpartei aufgesogen und mussten dadurch im Frühjahr die Regierungsgewalt in etwa einem Dutzend Staaten erlangen, in denen wir bei den letzten Herbstwahlen gesiegt hatten. Dann wollten wir sofort ein Dutzend genossenschaftlicher Staaten gründen, und das übrige war leicht.
»Wenn aber die Bauern nicht ans Ruder kommen?« fragte Ernst, und seine Genossen schalten ihn einen Schwarzseher.
Aber die Möglichkeit eines Fehlschlages für die Bauern war nicht die größte Gefahr, an die Ernst dachte. Er sah den Abfall der großen Gewerkschaften und das Entstehen von Kasten voraus.
»Ghent hat die Oligarchien gelehrt, wie sie es machen sollen«, sagte Ernst, »ich wette, dass sie sich nach seinem Wohltätigen Feudalismus<(1) richten.«
Nie werde ich den Abend vergessen, an dem Ernst sich nach einer heftigen Auseinandersetzung mit einem halben Dutzend Arbeiterführer zu mir wandte und sagte:
»Das setzt den Schlusspunkt darunter. Die Eiserne Ferse hat gesiegt. Das Ende ist in Sicht.«
Diese kleine Besprechung in unserem Heim war nicht offiziell, aber Ernst und seine Freunde wollten Gewissheit haben, dass die Arbeiterführer beim nächsten Generalstreik ihre Leute auch wirklich aufriefen. Von den anwesenden Führern weigerte sich O'Connor, der Vorsitzende des Maschinenarbeiterverbandes, am hartnäckigsten, diese Zusicherung zu geben.
»Ihr habt gesehen, wie ihr bei eurer alten Streik- und Boykott-Taktik gründlich geschlagen wurdet«, drängte Ernst.
O'Connor und die übrigen nickten.
»Und ihr habt gesehen, was für eine Wirkung ein Generalstreik hat«, fuhr Ernst fort. »Wir haben den Krieg mit Deutschland verhindert. Noch nie hat die Solidarität und Macht der Arbeiter sich so glänzend bewährt. Der Arbeiter kann und wird die Welt beherrschen. Wenn ihr mit uns geht, werden wir der Herrschaft des Kapitals ein Ende machen. Das ist unsere einzige Hoffnung. Und was weiter geschieht, wisst ihr. Es gibt keinen anderen Ausweg. Was ihr auch nach eurer alten Taktik unternehmen mögt, ihr seid zur Niederlage verurteilt, und wenn aus keinem ändern Grunde, so deshalb, weil die Kapitalisten die Gerichtshöfe beherrschen(2).«
»Sie übereilen sich«, antwortete O'Connor. »Sie kennen nicht alle Auswege. Es gibt noch andere. Wir wissen, woran wir sind. Wir sind streikmüde. Die Streiks sind schuld daran, dass man unsere Organisation in Fetzen gerissen hat. Aber ich glaube auch nicht, dass es je nötig sein wird, unsere Leute zum Generalstreik aufzurufen.«
»Und was ist Ihr Ausweg?« fragte Ernst barsch.
O'Connor lachte und schüttelte den Kopf.
»Ich sage Ihnen nur so viel: Wir haben nicht geschlafen. Und auch jetzt träumen wir nicht.«
»Es ist hoffentlich nichts, das man fürchten, oder dessen man sich schämen müsste«, forschte Ernst.
»Ich glaube, wir wissen am besten, was uns frommt«, lautete die Antwort.
»Nach der Art, wie Sie damit hinter dem Berge halten, scheint es nicht ganz sauber zu sein«, sagte Ernst in wachsendem Ärger.
»Wir haben unsere Erfahrungen mit Schweiß und Blut bezahlt. Und wir nehmen, was wir kriegen können«, lautete die Antwort. »Jeder ist sich selbst der Nächste.«
»Wenn ihr Angst habt, mir euren Ausweg zu nennen, so will ich ihn euch sagen.« Ernst wurde zornig. »Ihr tretet für eine Interessengemeinschaft mit dem Kapital ein. Ihr habt mit dem Gegner Verträge geschlossen. Das habt ihr getan. Ihr habt die Sache der Arbeiter, aller Arbeiter verraten. Ihr verlasst wie Feiglinge das Schlachtfeld.«
»Ich sage nichts«, antwortete O'Connor mürrisch. »Aber ich meine doch, dass wir ein wenig besser als Sie wissen müssten, was für uns das Vorteilhafteste ist.«
»Und sie kümmern sich nicht einen Deut darum, was für die anderen Arbeiter am besten ist. Die lassen Sie zum Teufel gehen.«
»Ich sage nichts«, erwiderte O'Connor, »als dass ich der Vorsitzende des Maschinenarbeiterverbandes bin, und dass es meine Pflicht ist, die Interessen derer wahrzunehmen, die ich vertrete. Das ist alles.«
Und dann, als die Arbeiterführer uns verlassen hatten, erklärte Ernst mir ganz ruhig, welchen Gang die Ereignisse nehmen würden.
»Die Sozialisten«, sagte er, »pflegen freudig den Tag vorauszusagen, an dem die organisierten Arbeiter das wirtschaftliche Gebiet, auf dem sie noch jedes Mal besiegt wurden, verlassen und endlich auf das politische übergehen werden. Nun hat die Eiserne Ferse die Gewerkschaften auf wirtschaftlichem Gebiete geschlagen und sie dadurch auf das politische getrieben; aber statt Freude wird es uns nur Sorgen bringen. Die Eiserne Ferse hat gelernt. Während des Generalstreiks haben wir ihr unsere Macht gezeigt, und deshalb hat die Eiserne Ferse Schritte unternommen, um einen zweiten Generalstreik zu verhindern.«
»Wieso?« fragte ich.
»Einfach, indem sie die großen Gewerkschaften subventioniert. Die werden den nächsten Generalstreik nicht mitmachen, und deshalb wird es gar keinen Generalstreik mehr geben.«
»Aber die Eiserne Ferse kann doch nicht ewig ein so kostspieliges Programm durchführen«, warf ich ein.
»Ach, sie subventionieren nicht alle Gewerkschaften. Das ist auch gar nicht nötig. Ich will dir sagen, wie es kommen wird: Man wird die Löhne erhöhen und die Arbeitsstunden kürzen, und zwar für Eisenbahner, Eisen- und Stahlarbeiter, Techniker und Maschinisten.
Diese bevorzugten Verbände werden stets günstigere Bedingungen erhalten, und deshalb wird die Mitgliedschaft in ihnen wie ein Platz im Paradiese sein.«
»Das verstehe ich noch nicht ganz«, warf ich ein. »Was wird dann aus den anderen Verbänden? Die Zahl der auf diese Weise bevorzugten Gewerkschaften ist doch nur klein.«
»Die nicht unterstützten Verbände werden verschwinden — alle. Denn, siehst du, Eisenbahner, Maschinisten und Techniker, Eisen- und Stahlarbeiter verrichten alle für unsere maschinelle Kultur lebenswichtige Arbeit. Wenn die Eiserne Ferse sie hat, kann sie auf die übrigen Arbeiter pfeifen. Eisen, Stahl, Kohle, Maschinen und Transportmittel bilden das Rückgrat der ganzen Industrie.«
»Aber die Kohlen?« fragte ich. »Es gibt doch fast eine Million Arbeiter in den Kohlengruben.«
»Das sind meistens ungelernte Arbeiter. Die zählen nicht. Ihre Löhne werden fallen und ihre Arbeitsstunden zunehmen. Sie werden Sklaven sein wie wir ändern, und sie werden wohl von uns allen zuerst zu reinen Arbeitstieren herabsinken. Sie werden ebenso zur Arbeit gezwungen werden wie die Bauern, die sich jetzt für die Herren abrackern müssen, die ihnen ihr Land abgegaunert haben. Und ebenso wird es allen ändern Verbänden ergehen, die nicht zu den bevorzugten gehören. Du wirst sehen, wie diese Verbände wanken und abbröckeln, wie ihre Mitglieder zu Sklaven werden, die man durch die Hungerpeitsche und die drakonischen Gesetze zur Arbeit treibt.
Weißt du, was aus Farley(3) und seinen Streikbrechern wird? Ich will es dir sagen. Das Streikbrechen als Beruf wird aufhören. Es wird keine Streiks mehr geben. An die Stelle der Streiks werden Sklavenrevolten treten. Farley und seine Bande werden zu Sklaventreibern aufrücken. O nein, man wird das Ding nicht beim rechten Namen nennen; es wird heißen, dass sie dem Gesetz, das die Arbeiter zur Arbeit zwingt, Geltung verschaffen. Durch den Verrat der Gewerkschaften wird der Kampf verlängert werden. Der Himmel weiß, wo und wann die Revolution triumphieren wird.«
»Aber kann man, wenn die Oligarchie und die großen Gewerkschaften einen so mächtigen Bund geschlossen haben, überhaupt noch glauben, dass die Revolution je triumphieren wird?« fragte ich. »Wird dieses Bündnis nicht ewig dauern? «
Er schüttelte den Kopf. »Einer unserer Lehrsätze besagt, dass jedes auf Klassen und Kasten begründete System den Keim seines Zerfalls schon von Anfang an in sich trägt. Kann in einem auf Klassen begründeten System die Bildung von Kasten verhindert werden? Die Eiserne Ferse kann es nicht verhindern, und am Ende werden die Kasten die Eiserner Ferse vernichten. Die Oligarchen haben bereits Kasten unter sich gebildet; aber warte nur, bis die begünstigten Gewerkschaften dasselbe tun. Die Eiserne Ferse wird ihre ganze Macht aufbieten, um es zu verhindern, aber vergebens.
Die begünstigten Gewerkschaften umfassen die Blüte der amerikanischen Arbeiter. Es sind starke, tatkräftige Männer. Jeder tüchtige Arbeiter in den Vereinigten Staaten wird den Ehrgeiz haben, Mitglied dieser Verbände zu werden. Die Oligarchie wird diesen Ehrgeiz und den sich daraus ergebenden Wettbewerb anstacheln. Und die tüchtigen Arbeiter, die sonst vielleicht Revolutionäre geworden wären, werden uns so genommen, und ihre Kraft wird die Oligarchie stützen. Andererseits werden die Arbeiterkasten, die Mitglieder der bevorzugten Gewerkschaften, danach streben, ihre Organisationen zu geschlossenen Körperschaften zu machen. Und das wird ihnen gelingen. Die Mitgliedschaft in den Arbeiterkasten wird erblich werden. Die Söhne werden den Vätern folgen, und es wird keinen Zufluss neuer Kräfte aus dem ewigen Kräftereservoir, dem gemeinen Volk, mehr geben. Das bedeutet, dass die Arbeiterkasten entarten und immer schwächer werden. Gleichzeitig werden sie aber als Gesamtheit für eine Weile übermächtig sein. Sie werden der Palastgarde im alten Rom gleichen. Und es wird Palastrevolutionen geben, in denen die Arbeiterkasten sich der Herrschaft bemächtigen. Und die Oligarchen werden Gegenrevolutionen machen, und bald wird die eine, bald die andere Partei die Oberhand und damit die Herrschaft haben. Und unterdessen wird die unvermeidliche Kastenschwächung weiter fortschreiten, so dass schließlich das gemeine Volk durch den Niedergang der anderen zu seinem Rechte kommen wird.«
Diese Prophezeiung einer langsamen sozialen Entwicklung machte Ernst, als er durch den Abfall der großen Gewerkschaften bedrückt war. Ich habe ihm nie beigestimmt und tue es jetzt, während ich diese Zeilen schreibe, weniger als je, denn gerade jetzt stehen wir, obgleich Ernst tot ist, vor einer Revolution, die alle Oligarchen hinwegfegen wird. Aber ich habe die Prophezeiung Ernsts niedergeschrieben, weil es seine Prophezeiung war. Trotz seines Glaubens an seine Theorie bekämpfte er sie wie ein Riese und hat mehr als irgendein anderer dazu beigetragen, die Revolution, die jetzt gerade auf das Signal zum Ausbruch harrt, zu ermöglichen(4).
»Wenn aber die Oligarchie bestehen bleibt?« fragte ich ihn an diesem Abend. »Was wird dann aus den großen Überschüssen werden, die alljährlich auf ihren Anteil entfallen? «
»Irgendwie müssen sie untergebracht werden«, erwiderte er, »und verlass dich darauf, die Oligarchie wird schon einen Weg finden. Man wird herrliche Straßen bauen. Große wissenschaftliche und künstlerische Werke werden entstehen. Wenn die Oligarchen das Volk vollständig unterjocht haben, werden sie Zeit haben, für andere Dinge zu sparen. Sie werden Verehrer der Schönheit werden. Sie werden Kunstfreunde sein. Und die Künstler werden unter ihrer Herrschaft arbeiten und großmütig belohnt werden. Dann wird eine große Zeit für die Kunst kommen, und die Künstler werden sich nicht mehr vor dem Mittelstand beugen. Es wird eine große Zeit für die Kunst sein, sage ich dir. Und es werden Wunderstädte entstehen, neben denen die Städte der alten Zeit billig und gewöhnlich erscheinen. Und in diesen Städten werden die Oligarchen wohnen und die Schönheit anbeten(5). So wird der Überschuss beständig ausgegeben werden, während die Arbeiter ihre Arbeit verrichten. Die Schöpfung dieser großen Werke und Städte wird Millionen von Arbeitern einen Hungerlohn gewähren, denn die ungeheure Größe des Überschusses wird zu ebenso ungeheuren Ausgaben zwingen, und die Oligarchen werden für tausend, nein, für zehntausend Jahre bauen. Sie werden Bauten aufführen, wie Ägypter und Babylonier sie sich nicht träumen ließen. Und wenn die Oligarchen einst nicht mehr sind, dann werden ihre großen Straßen und Wunderstädte für die Brüderschaft der Arbeiter bleiben, dass diese in ihnen wohnen können(6).
Die Oligarchen werden diese Dinge tun, weil sie nicht anders können. Die großen Werke werden die Form sein, die die Verausgabung des Überschusses annehmen wird, und zwar ebenso, wie vor Jahrtausenden die herrschende Klasse in Ägypten den dem Volke erpressten Überschuss für den Bau von Tempeln und Pyramiden verwendete. Unter den Oligarchen wird kein Priesterstand, wohl aber ein Künstlerstand blühen. Und an die Stelle der bürgerlichen, handeltreibenden Klasse werden die Arbeiterklassen treten. Tief unter ihnen aber wird der Abgrund sein, in dem das gemeine Volk, die große Masse der Bevölkerung, faulen, hungern, verwesen und sich doch immer wieder in sich erneuern wird. Und am Ende, wer weiß wann, wird das gemeine Volk sich aus diesem Abgrund erheben, Arbeiterkasten und Oligarchie werden abbröckeln, und endlich wird nach jahrhundertelanger Arbeit der Tag für den einfachen Mann anbrechen. Ich hatte geglaubt, diesen Tag erleben zu dürfen. Jetzt aber weiß ich, dass ich ihn nie sehen werde.«
Er hielt inne und sah mich an. Dann fügte er hinzu:
»Die soziale Entwicklung geht entsetzlich langsam, nicht wahr, Liebling?«
Ich umarmte ihn; er legte seinen Kopf an meine Brust. »Sing mich in Schlaf«, murmelte er in seltsamem Ton. »Ich habe eine Vision gehabt und möchte sie vergessen.«
(1) Ein unter dem Titel »Wohltätiger Feudalismus« im Jahre 1902 von W. I. Ghent veröffentlichtes Buch. Man hat stets behauptet, dass Ghent den Großkapitalisten die Idee von der Oligarchie eingab. Dieser Glaube beherrschte die Literatur der drei Jahrhunderte der Eisernen Ferse und selbst noch die des ersten Jahrhunderts der Menschenverbrüderung. Heute wissen wir es besser, aber dieses, unser Wissen, schafft die Tatsache nicht aus der Welt, dass kein Mensch in der Geschichte je so unschuldig geschmäht wurde wie Ghent.
(2) Im folgenden ein paar Beispiele für die Art der Entscheidungen der Gerichtshöfe gegen die Arbeiter. Die Beschäftigung der Kinder in den Kohlengruben war allgemein bekannt. Im Jahre 1905 gelang es der Arbeiterschaft in Pennsylvanien ein Gesetz durchzudrücken, welches bestimmte, dass das Alter des Kindes und eine gewisse Schulbildung von den Eltern eidlich bezeugt werden müsste. Diese Bestimmung wurde vom Luzerner Kreisgericht prompt als verfassungswidrig bezeichnet, weil es einen Unterschied zwischen Individuen derselben Klasse, nämlich Kindern über und unter vierzehn Jahren, machte. Das Landgericht bestätigte diese Entscheidung. Das New-Yorker Kammergericht erklärte im Jahre 1905 das Gesetz, das Frauen und Minderjährigen Fabrikarbeit nach neun Uhr abends untersagte, als verfassungswidrig, und zwar unter dem Vorwand, dass es ein Klassengesetz sei. In der damaligen Zeit waren die Bäcker furchtbar überarbeitet. Die gesetzgebende Körperschaft des Staates New York bestimmte, dass die Arbeit in den Bäckereien auf zehn Stunden täglich zu beschränken wäre. Im Jahre 1906 erklärte das Höchstgericht der Vereinigten Staaten dieses Gesetz als verfassungswidrig. In der Entscheidung hieß es: Es liegt kein vernünftiger Grund vor, die Freiheit von Personen und das Recht eines freien Vertrages zu unterbinden, indem man die Arbeitsstunden der Bäcker festsetzt.
(3) James Farley war ein berüchtigter Streikbrecher jener Zeit, ein Mann von mehr Mut als Moral und von unleugbarer Geschicklichkeit. Er stieg unter der Regierung der Eisernen Ferse zu hohen Würden auf und wurde schließlich in die Oligarchie aufgenommen. Im Jahre 1932 wurde er von Sarah Jenkins ermordet, deren Mann dreißig Jahre zuvor von den Streikbrechern Farleys umgebracht worden war.
(4) Diese Prophezeiung Everhards war bemerkenswert. In dem Licht vergangener Ereignisse sah er klar den Abfall der begünstigten Arbeiterverbände, die Erhebung und den langsamen Verfall der Arbeiterkasten, sowie den Kampf um die Herrschaft zwischen ihnen und der in Verfall geratenen Oligarchie.
(5) Wir können die Voraussicht Everhards nur bewundern. Ehe der Gedanke an Wunderstädte wie Ardis und Asgard in den Köpfen der Oligarchen entstand, sah Everhard diese Städte und die unvermeidliche Notwendigkeit ihrer Gründung.
(6) Seit dem Tage dieser Prophezeiung sind drei Jahrhunderte der Herrschaft der Eisernen Ferse und vier Jahrhunderte der Verbrüderung der Menschheit verstrichen, und heute schreiten wir durch die Straßen und wohnen in den Städten, die die Oligarchen schufen. Es ist wahr, gerade jetzt bauen wir noch wunderbarere Wunderstädte, aber die, welche die Oligarchen gebaut haben, stehen noch, und ich schreibe diese Zeilen in Ardis, einer der wunderbarsten von allen.
Gegen Ende Januar 1913 erlangte die Öffentlichkeit Kenntnis von der veränderten Haltung der Oligarchie den bevorzugten Gewerkschaften gegenüber. Die Zeitungen brachten die Nachricht von einer beispiellosen Lohnerhöhung und Arbeitszeitverkürzung für Eisenbahner, Eisen- und Stahlarbeiter, Techniker und Maschinisten. Aber die ganze Wahrheit zu sagen, wagten die Oligarchen noch nicht. Tatsächlich war die Lohnerhöhung noch größer und entsprechend die Vorrechte. Alles das war Geheimnis, aber Geheimnisse wollen ans Tageslicht. Mitglieder der bevorzugten Verbände erzählten es ihren Frauen, und die klatschten es weiter, und bald wusste es die ganze Arbeiterschaft.
Es war nur die logische Entwicklung dessen, was in seinen Anfängen schon im neunzehnten Jahrhundert bekannt gewesen. Im Wirtschaftskampf jener Zeit hatte man den Versuch mit der Gewinnbeteiligung gemacht, dass heißt, die Kapitalisten hatten versucht, die Arbeiter dadurch zu fesseln, dass sie sie an ihren Unternehmungen beteiligten. Aber Gewinnbeteiligung als System war lächerlich und unmöglich, So konnten nur die vereinzelten Fälle im System der freien Konkurrenz Erfolg haben, denn wenn Arbeit und Kapital die Gewinne teilten, so mussten Verhältnisse eintreten, als wenn es gar keine Gewinnbeteiligung gab.
So entstand denn aus dem unpraktischen Gedanken der Gewinnbeteiligung der praktische der Raubbeteiligung. »Gebt uns mehr Lohn und wälzt die Lasten auf das Publikum ab«, lautete der Kriegsruf der starken Verbände. Und diese selbstsüchtige Politik wirkte hier und dort erfolgreich.
Durch das Abwälzen auf das Publikum wurde die große Masse der nicht oder schwach organisierten Arbeiter getroffen. Sie bezahlten in Wirklichkeit die erhöhten Löhne ihrer stärkeren Brüder, der Mitglieder der bevorzugten Verbände(1), die in gewissem Sinne Arbeitermonopole waren
Sobald das Geheimnis vom Abfall der bevorzugten Verbände offenbar wurde, machte sich in der Arbeiterwelt eine starke Verstimmung bemerkbar. Zunächst zogen sich die bevorzugten Verbände von den internationalen Vereinigungen zurück und brachen alle Beziehungen mit ihnen ab Es kam zu Unruhen und Gewalttätigkeiten. Die Mitglieder der bevorzugten Verbände wurden als Verräter gebrandmarkt und in Wirtschaften und öffentlichen Häusern, auf der Straße und bei der Arbeit, überall, von den Genossen, die so schmählich von ihnen im Stich gelassen waren, tätlich angegriffen .
Zahllose Führer wurden misshandelt und getötet. Kein Mitglied der bevorzugten Verbände war seines Lebens sicher. Sie gingen nur truppweise zur Arbeit und blieben stets mitten auf dem Fahrdamm. Auf dem Bürgersteig liefen sie Gefahr, dass ihre Köpfe von Ziegeln und Kieselsteinen, die aus den Fenstern und von den Dächern geworfen wurden, zerschmettert wurden. Sie hatten die Erlaubnis, Waffen zu tragen, und die Obrigkeit stand ihnen in jeder Beziehung zur Seite. Ihre Verfolger wurden zu Gefängnisstrafen verurteilt und übel behandelt. Und keinem, der nicht Mitglied der bevorzugten Verbände war, wurde das Tragen von Waffen erlaubt. Übertretungen dieses Gesetzes wurden als grobes Verbrechen angesehen und entsprechend bestraft.
Gewalttätige Arbeiter fuhren fort, Rache an den Verfolgern zu nehmen. Von selbst entstanden Kastengegensätze. Die Kinder der Verräter wurden von den Kindern der betrogenen Arbeiter verfolgt, bis sie nicht mehr auf der Straße spielen und die Schule besuchen konnten. Die Frauen und Familien der Verräter wurden aufs schmählichste behandelt und die Kaufleute, die ihnen Waren verkauften, von den ändern Arbeitern boykottiert. Die Folge war, dass die Verräter und ihre Familien, von allen Seiten in die Enge getrieben, eigene Siedlungen gründeten. Es war ihnen nicht möglich, unter dem betrogenen Proletariat zu wohnen, und deshalb zogen sie in andere Gegenden, die dann nur von ihnen bewohnt wurden. Hierbei wurden sie von den Oligarchen unterstützt. Gute, moderne und gesunde, von weiten Höfen umgebene und hier und dort durch Parks und Spielplätze getrennte Häuser wurden erbaut. Die Kinder besuchten eigens für sie errichtete Schulen, in denen Handfertigkeiten und besondere wissenschaftliche Fächer gelehrt wurden. Aus dieser Absonderung musste das typische Kastenwesen entstehen. Die Mitglieder der bevorzugten Verbände wurden die Aristokratie der Arbeiterschaft. Sie standen abseits von den übrigen Arbeitern. Sie wohnten besser, kleideten sich besser, aßen besser und wurden besser behandelt. Sie rächten sich durch die Gewinnbeteiligung.
Unterdessen ging es den übrigen Arbeitern immer elender. Viele kleine Vergünstigungen wurden ihnen genommen, und ihr Lohn und ihre Lebenshaltung sanken beständig. Dazu kam, dass die Schulen sich verschlechterten und der Schulzwang allmählich aufhörte. Die Zahl der Arbeiter, die nicht lesen und schreiben konnten, wuchs erschreckend.
Die Eroberung des Weltmarktes durch die Vereinigten Staaten hatte die übrigen Länder der Welt auseinander gerissen. Überall brachen Institutionen und Regierungen zusammen oder wurden geändert. Deutschland, Frankreich, Italien, Australien und Neuseeland bildeten schnell kooperative Gemeinwesen. Das Britische Reich fiel auseinander England hatte alle Hände voll zu tun, in Indien war die Revolution in vollem Gange. In ganz Asien rief man: »Asien den Asiaten!« Und dahinter stand Japan und hetzte und unterstützte fortgesetzt die gelbe und die braune Rasse gegen die weiße. Und während Japan vom kontinentalen Weltmarkt träumte und bestrebt war, diesen Traum zu verwirklichen, unterdrückte es sein eigenes, revolutionäres Proletariat. Es war ein einfacher Kastenkrieg. Kuli gegen Samurai, und die sozialistischen Kulis wurden zu Zehntausenden hingerichtet. Vierzigtausend wurden in den Straßenkämpfen in Tokio und bei dem nutzlosen Angriff auf den Palast des Mikados getötet. Kobe war ein Schlachthaus. Das Massaker der Baumwollarbeiter durch Maschinengewehre hat die traurigste Berühmtheit von all den schrecklichen hinrichtungen erlangt, die je durch moderne Maschinengewehre vollzogen wurden. Die japanische Oligarchie war die brutalste von allen. Japan beherrschte den Osten und riss den ganzen asiatischen Teil des Weltmarktes, mit Ausnahme des indischen, an sich.
England bemühte sich, seine eigene proletarische Revolution zu ersticken und Indien festzuhalten, obwohl es an der Grenze der Erschöpfung angelangt war. Ohnmächtig musste es zusehen, wie seine großen Kolonien ihm entglitten. So kam es, dass es den Sozialisten gelang, Australien und Neuseeland zu kooperativen Gemeinwesen zu machen. Ebenso ging Kanada den Engländern verloren. Aber Kanada unterdrückte mit Unterstützung der Eisernen Ferse die sozialistische Revolution. Und ebenso half die Eiserne Ferse Mexiko und Kuba, die Revolution niederzuschlagen. So stand die Eiserne Ferse in der Neuen Welt fest dam sie hatte ganz Nordamerika vom Panamkanal bis zum Eismeer zu einer Einheit zusammengeschweißt.
Als England seine großen Kolonien preisgeben muste, war es ihm gelungen, Indien zu behalten. Aber auch das nur vorübergehend. Der Kampf mit Japan und dem übrigen Asien Indiens wegen wurde nur hinausgezögert. England war zum baldigen Verlust Indiens verurteilt, und hinter diesem Ereignis lauerte der Kampf zwieschen dem geeinten Asien und der übrigen Welt.
»Dreimal verwünschte Verwirrung!« rief Ernst. »Wie können wir bei all diesen tollen Wünschen und Konflikten auf Solidarität hoffen?«
Wirklich unheimliche formen nahm die religiöse Wiedergeburt an. Das Volk, erschlafft und allen irdischen Dingen enttäuscht, brauchte einen Himmel, in den nicht mehr industrielle Tyrannen eingingen als Kamele in ein Nadelöhr. Wildblicken Wanderprediger durchschwärmten das Land; und trotz dem Verbot durch die bürgerliche oligarchie und trotz der Verfolgung wegen Widersetzlichkeit wurden die Flammen des religösen Wahns durch zahllose Versammlungen auf freiem Felde entfacht.
»Die letzten Tage sind gekommen«, schrien sie. »Der Anfang vom Ende der Welt ist da. Die vier Winde sind losgelassen. Gott hat die Völker zum Streit aufgehetzt.« - Es war eine Zeit der Missionen und Wunder, und die Zahl der Seher und Propheten war Legion. Das Volk ließ zu Tausenden die Arbeit im Stich und floh in die Berge, um dort das nahe bevorstehende Erscheinen Gottes und die Himmelfahrt der Hundertvierundvierzigtausend zu erwarten. Aber Gott erschein nicht, und sie verhungerten massenhaft. In ihrer Verzweiflung plünderten sie die Bauernhöfe, und die darauf folgende Erregung und Anarchie vermehrte nur noch die Leiden der armen, ihres Besitzes beraubten Bauern.
Aber die geplünderten Bauernhöfe und Geschäfte waren Eigentum der Eisernen Ferse. Ganze Armeen wurden in die Berge gesandt und die Fanatiker mit Hilfe von Bajonetten an ihre Arbeit in die Städte zurückgetrieben. Hier verübten sie immer wieder Ausschreitungen. Ihre Führer wurden wegen Aufruhrs hingerichtet oder in Irrenhäuser gesteckt. Wer hingerichtet wurde, ging mit der Freude des Märtyrers in den Tod. Es war eine Zeit des Wahnsinns. Die Unruhe wuchs. In den Sümpfen, Wüsten und Einöden von Florida und Alaska tanzten die kleinen Überbleibsel der Indianerstämme Geistertänze und erwarteten die Ankunft ihres eigenen Messias.
Und während alledem wuchs mit erschreckender Sicherheit und Ruhe das Ungeheuer des Zeitalters, die Oligarchie. Mit eiserner Faust und eiserner Ferse knechtete sie die leidenden Millionen, brachte Ordnung in die Verwirrung und errichtete in dem Chaos ihr eigenes Fundament und Bollwerk.
»Wartet nur, bis wir am Ruder sind«, sagten die Bauernbündler – Calvin erzählte es uns in unserer Wohnung in der Pell-Street. »Seht die Städte, die wir erobert haben. Mit euch Sozialisten im Rücken werden wir ihnen, wenn wir ans Ruder kommen, ein anderes Lied beibringen.«
»Die Millionen von Unzufriedenen und Verarmten gehören uns«, sagten die Sozialisten. »Die Bauern, der Mittelstand und die Arbeiter sind zu uns übergangen. Das kapitalistische System wird zertrümmert werden. Nächsten Monat schicken wir fünfzig Mann in den Kongreß. Zei Jahre später werden wir alle Ämter vom Präsidenten bis zum Gemeindehundefänger in Händen haben.«
Ernst aber schüttelte zu allem den Kopf und sagte: »Wie viele Gewehre habt ihr? Wisst ihr, wo ihr Blei genug bekommen könnt? Wenn es los geht, dann sind chemische Mixturen besser als bloße Fäuste, das sage ich euch.«
(1)Dieser Verbindung mit der Oligarchie traten alle Eisenbahnerverbände bei, und es ist beachtenswert, dass die Politik des Gewinnraubes zum ersten Male praktisch im neunzehnten Jahrhundert durch einen Eisenbahnerverband zur Anwendung kam, nämlich durch den Lokomitivführerverband. P.M. Arthur war zwanzig Jahre lang Vorsitzender des Verbandes. Nach dem Streik der Pennsylvanischen Eisenbahn im Jahre 1877 entwarf er einen strategischen Plan für die Lokomitivführer, demzufolge sie getrennt von den übrigen Arbeiterverbänden marschieren sollten. Dieser Entwurf hatte großen Erfolg und war ebenso erfolgreich wie selbstsüchtig, und damals wurde das Wort Arthurisation zur Bezeichnung von Gewinnbeteiligung der Arbeiterverbände geprägt. Dieses Wort Arthurisation hat lange die Etymologen verwirrt, aber sein Ursprung ist jetzt, wie ich hoffe, klargestellt.
Als es für Ernst und mich Zeit wurde, nach Washington zu gehen, begleitete Vater uns nicht. Er hatte das Leben des Proletariers lieb gewonnen. Er betrachtete unsere schmutzige Nachbarschaft als ein großes, soziologisches Laboratorium und war in einer anscheinend endlosen Schwelgerei von Forschungen gelandet. Er hielt gute Kameradschaft mit den Arbeitern und war in vielen Familien der Vertraute. Er übernahm auch allerlei Gelegenheitsarbeit, die für ihn ebenso wohl Zeitvertreib wie Studium bedeutete; sie machte ihm Freude, und er pflegte sprudelnd von unzähligen Berichten über seine neuesten Abenteuer nach Hause zu kommen. Er war der vollendete Gelehrte.
Seine Arbeit war durchaus keine Notwendigkeit, denn Ernst verdiente mit seinen Übersetzungen so viel, dass wir alle drei zu leben hatten. Aber Vater bestand darauf, seinem Lieblingsphantom nachzugehen, und nach den Arbeiten, die er verrichtete, zu urteilen, war es ein sehr abwechslungsreiches Phantom. Nie werde ich den Abend vergessen, an dem er seine Hausiererwaren, die aus Schuhbändern und Hosenträgern bestanden, heimbrachte, und ebenso wenig die Zeit, wenn ich zum Einkaufen in den kleinen Krämerladen an der Ecke ging und er auf mich wartete. Hiernach war ich nicht überrascht, als er eine Woche lang in der Wirtschaft gegenüber als Kellner fungierte. Er arbeitete als Nachtwächter, bot auf der Straße Kartoffeln an, klebte in einer Konservenfabrik Etiketten, war Bote in einer Pappschachtelfabrik, Wasserträger für eine Bauabteilung der Straßenbahn und hatte sich gerade der Aufwäschergewerkschaft angeschlossen, als sie sich gleich darauf auflöste.
In Bezug auf seine Kleidung schien ihn das Beispiel des Bischofs angesteckt zu haben, denn er trug ein billiges baumwollenes Arbeiterhemd und Überziehhosen mit einem schmalen Riemen um die Hüften. Eine Gewohnheit aus seinem früheren Leben aber behielt er bei: Er erschien stets gut gekleidet zum Abendessen.
Ich hätte überall mit Ernst glücklich sein können; dass aber Vater sich in unseren jetzigen Verhältnissen glücklich fühlte, musste mein eigenes Glück vollkommen machen.
»Als Knabe war ich sehr wissbegierig«, sagte Vater. »Ich wollte den Ursprung der Dinge kennen, deshalb wurde ich Physiker. Heute noch bin ich ebenso wissbegierig wie in meiner Jugend, und dieser Wissensdrang ist es, der mir das Leben lebenswert macht.«
Zuweilen versuchte er sein Glück nördlich der Market-Street, in der Geschäfts- und Theatergegend, wo er Zeitungen verkaufte, Botengänge verrichtete und Droschkenschläge öffnete. Dort traf er eines Tages, als er einen Wagenschlag schloss, Wickson. Ausgelassen schilderte Vater das Ereignis dieses Abends.
»Als ich die Tür hinter ihm zuschlug, sah Wickson mich scharf an und murmelte: >Ich will gehängt werden.< Das waren seine Worte. Sein Gesicht wurde rot, und er war so verwirrt, dass er vergaß, mir ein Trinkgeld zu geben. Aber er muss sich schnell beherrscht haben, denn die Droschke war noch keine zwanzig Meter fort, als sie kehrtmachte und wiederkam. Wickson lehnte sich aus der Tür. >Hören Sie, Professor, sagte er, >das ist zuviel. Was kann ich für Sie tun?< >Ich habe die Tür für Sie zugemacht<, antwortete ich, >dafür gibt man gewöhnlich einen Zehner.< >Donnerwetter!< schnaubte er. >Ich meine etwas Wirkliches.< Es war ihm sicherlich Ernst, und etwas wie Gewissensbisse mochte sich in ihm regen; und so überlegte ich einen Augenblick. >Geben Sie mir mein Haus wieder, sagte ich, >und meine Spinnereiaktien.<« Vater hielt inne.
»Und was sagte er?« fragte ich eifrig.
»Was konnte er sagen? Nichts. Aber ich sagte: >Ich hoffe, dass Sie glücklich sind.< Er sah mich mit einem seltsamen Blick an. >Sagen Sie mir, ob Sie glücklich sind?« fragte ich.
Er befahl dem Kutscher, fortzufahren, und verschwand mit einem schrecklichen Fluch. Aber er gab mir keinen Zehner und noch weniger mein Haus und mein Vermögen. Du siehst also, mein Kind, dass dein Vater auch in seiner Laufbahn als Gelegenheitsarbeiter manche Enttäuschung erlebt.«
Und so blieb Vater denn in der Pell-Street, während Ernst und ich nach Washington fuhren. Die Vernichtung des Bestehenden stand vor dem Abschluss, und dieser Abschluss war näher, als ich mir träumen ließ. Wider alle Erwartung machte man keine Anstalten, die sozialistischen Abgeordneten zu hindern, ihre Sitze einzunehmen. Alles verlief glatt, und ich lachte über Ernst, der das als eine schlechte Vorbedeutung ansah.
Unsere sozialistischen Freunde waren vertrauensselig und optimistisch bezüglich ihrer Stärke und ihres Vorhabens. Einige in den Kongress gewählte Bauernbündler verstärkten unsere Macht, und gemeinsam wurde ein sorgfältig durchdachter Arbeitsplan aufgestellt. Ernst stimmte allem treulich und nachdrücklich bei, konnte es aber nicht unterlassen, hin und wieder, ohne es näher zu bezeichnen, zu sagen: »Wenn es zum Klappen kommt, denkt an mich: Chemische Mixturen sind besser als bloße Fäuste.«
Die Unruhe begann in den Staaten, die die Bauernbündler bei der letzten Wahl erobert hatten. Es waren ein Dutzend Staaten, aber die Gewählten durften ihre Sitze nicht einnehmen. Die alten Inhaber weigerten sich, zu gehen. Es war ganz einfach. Sie behaupteten nur, es wäre bei den Wahlen ungesetzlich zugegangen, und verschanzten sich hinter undurchdringlichem Bürokratismus. Die Bauern waren machtlos. Ihre letzte Zuflucht waren die Gerichte, und die befanden sich in den Händen ihrer Gegner. Das war das Gefährliche. Wenn die betrogenen Bauern gewalttätig wurden, war alles verloren. Wie wir Sozialisten arbeiteten, um sie zurückzuhalten! Tage und Nächte schloss Ernst kein Auge. Die großen Bauernführer sahen die Gefahr und standen fest zu uns. Aber das nützte alles nichts. Die Oligarchie wünschte Gewalttätigkeiten und ließ darum ihre Agents provocateurs los. Es ist kein Wort darüber zu verlieren, dass nur sie es waren, die die Bauernrevolte verursachten.
In einem Dutzend Staaten flackerte die Revolte auf. Die enteigneten Bauern bemächtigten sich gewaltsam der Regierung. Es war allerdings verfassungswidrig, und natürlich schickten die Vereinigten Staaten ihre Soldaten ins Feld. Überall hetzten die Agents provocateurs die Bevölkerung auf. Diese Spitzel der Eisernen Ferse maskierten sich als Handwerker, Bauern und Landarbeiter. In Sacramento, der Hauptstadt von Kalifornien, war es den Bauernführern gelungen, die Ordnung aufrechtzuerhalten. Da wurden eilig Tausende von Geheimagenten in die ruhige Stadt geschickt. Pöbelhaufen, die sie selbst bildeten, verbrannten und plünderten Häuser und Fabriken. Sie hetzten das Volk auf, bis es schließlich an den Plünderungen teilnahm. Um die Masse noch mehr zu erregen, wurde Schnaps in großen Mengen unter dem Pöbel verteilt. Und als alles bereit war, erschienen die Soldaten der Vereinigten Staaten, die in Wahrheit die Soldaten der Eisernen Ferse waren. Elftausend Männer, Frauen und Kinder wurden in den Straßen von Sacramento niedergeschossen oder in ihren Häusern ermordet. Washington hatte über Sacramento gesiegt, und für Kalifornien war alles vorbei. Und wie in Kalifornien, so auch anderswo. Jeder Bauernstaat wurde verwüstet und in Blut gebadet. Zuerst wurde durch Geheimagenten und die Schwarzen Hundertschaften die Ordnung über den Haufen geworfen, und dann kamen die Soldaten. Aufruhr und Pöbelherrschaft tobten in den ländlichen Distrikten. Tag und Nacht stieg der Rauch von brennenden Bauernhöfen, Warenhäusern, Dörfern und Städten empor. Dynamit wirkte. Eisenbahnbrücken und Tunnels wurden gesprengt und Eisenbahnzüge zerstört. Die armen Bauern wurden massenhaft erschossen und aufgehängt. Die Rache war bitter, und mancher Offizier der Plutokratie und der Armee wurde ermordet. Die Männer hatten Blut und Rache im Herzen. Die regulären Truppen kämpften so wild mit den Bauern, als wären sie Indianer gewesen. Und sie hatten Grund dazu: zweitausendachthundert waren in einer Reihe furchtbarer Dynamitexplosionen in Oregon getötet worden, und ebenso hatte man eine Anzahl Eisenbahnladungen an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten vernichtet. So kam es, dass sowohl die regulären Truppen wie die Bauern um ihr Leben kämpften.
Das Milizgesetz vom Jahre 1903 trat in Kraft, und die Arbeiter eines Staates wurden unter Androhung von Todesstrafe gezwungen, ihre Arbeitskameraden in anderen Staaten niederzuschießen. Natürlich ging das nicht so ohne weiteres. Viele Milizsoldaten wurden ermordet, und viele Soldaten wurden standrechtlich erschossen.
Die Prophezeiung, die Ernst Kowalt und Asmunsen gegenüber ausgesprochen hatte, ging überraschend in Erfüllung. Beide waren milizpflichtig und wurden für die Strafexpedition ausgehoben, die von Kalifornien gegen die Bauern in Missouri ausgesandt wurde. Kowalt und Asmunsen verweigerten den Dienst. Man machte kurzen Prozess mit ihnen. Sie wurden vor das Kriegsgericht gestellt und hingerichtet. Den Rücken gegen die feuernde Abteilung, fielen sie.
Viele junge Leute flohen in die Berge, um dem Milizdienst zu entgehen. Dort wurden sie Banditen, und noch ehe die Zeiten ruhiger geworden, war ihr Schicksal besiegelt. Es war drastisch. Die Regierung erließ eine Aufforderung an alle gesetzestreuen Bürger, binnen drei Monaten die Berge zu verlassen und heimzukehren. Nach Ablauf dieser Frist wurde eine halbe Million Soldaten in die Berge geschickt; es gab weder Untersuchung noch Gericht: Wo immer ein Mann sich sehen ließ, wurde er auf der Stelle niedergeknallt. Die Truppen operierten so, dass kein Mann, kein Bandit in den Bergen bleiben konnte. Einige Banden, die feste Stellungen hatten, kämpften tapfer, zuletzt aber fand jeder Deserteur der Miliz den Tod.
Noch kräftiger war die Lehre, die der Bevölkerung durch die Bestrafung der Miliz von Kansas erteilt wurde. Die großen Meutereien in Kansas erfolgten zu Beginn der militärischen Operationen gegen die Bauern. Sechstausend Milizleute meuterten. Sie waren schon wochenlang unruhig und trotzig gewesen und daher im Lager festgehalten worden. Ihre offene Meuterei jedoch wurde zweifellos von den Agents provocateurs hervorgerufen.
In der Nacht des 22. April erhoben sie sich und ermordeten ihre Offiziere, von denen nur wenige entkamen. Das ging über den Plan der Eisernen Ferse hinaus; die Agents provocateurs hatten zu gute Arbeit getan. Aber alles schlug für die Eiserne Ferse zum Vorteil aus. Sie hatte den Aufstand vorbereitet, und jetzt gab ihr die Ermordung so vieler Offiziere die Berechtigung zu dem, was folgte. Wie herbeigezaubert erschienen vierzigtausend Soldaten der regulären Armee und umzingelten die Widerspenstigen. Es war eine Falle. Die unglückliche Miliz merkte, dass ihre Maschinengewehre unbrauchbar gemacht waren, und dass die Patronen aus den erbeuteten Magazinen nicht in ihre Gewehre passten. Sie hissten die weiße Flagge, aber das wurde nicht beachtet. Keiner blieb am Leben. Granaten und Schrapnells wurden von weitem auf sie gefeuert, und als sie in ihrer Verzweiflung gegen die Umzinglungslinien anstürmten, wurden sie von den Maschinengewehren niedergemäht. Ich sprach mit einem Augenzeugen darüber, und er sagte, dass kein Milizmann näher als hundertfünfzig Meter an die Maschinengewehre herangekommen sei. Die Erde war mit Toten bedeckt und zum Schluss stampfte ein Kavallerieangriff mit dem Trampeln der Pferdehufe, mit Revolver und Säbel die Verwundeten zu Boden. Um dieselbe Zeit wie die Vernichtung der Bauern erfolgte der Aufstand der Kohlenbergleute. Das war der Todeskampf der organisierten Arbeiter. Dreiviertel Million Bergleute traten in den Streik. Aber sie waren zu weit über das Land verstreut, um ihre Stärke ausnutzen zu können. Sie wurden distriktweise abgesondert und zur Unterwerfung gebracht. Das war das erste große Sklaventreiben. Pocock(1) verdiente sich dabei seine Sporen als Sklaventreiber und den tödlichen Hass des Proletariats. Zahllose Mordversuche auf ihn wurden gemacht, aber er schien gefeit. Er war es, der für die Einführung des russischen Passierscheinsystems unter den Bergleuten verantwortlich war und ferner dafür, dass ihnen das Recht der Freizügigkeit genommen war.
Die Sozialisten blieben fest. Während die Bauern in Flammen und Blut untergingen und die organisierten Arbeiter getrennt wurden, hielten die Sozialisten Frieden und festigten ihre geheime Organisation.
Die Eiserne Ferse, die anfangs gezögert hatte, mit dem ganzen Proletariat auf einmal abzurechnen, fand die Arbeit leichter als erwartet und hätte nichts lieber gesehen als einen Aufstand unsererseits. Wir wichen aber aus, trotz der Tatsache, dass es von Agents provocateurs unter uns wimmelte. Damals waren die Agenten der Eisernen Ferse noch ein wenig schwerfällig. Sie mussten noch viel lernen, unterdessen aber wurden sie von unserer Kampfgruppe ausgerottet. Es war eine bittere, blutige Arbeit, aber wir kämpften für das Leben und die Revolution, und wir mussten den Gegner mit seinen eigenen Waffen schlagen. Aber wir kämpften anständig. Kein Agent der Eisernen Ferse wurde ohne Verhör hingerichtet. Wir mögen Fehler begangen haben in dieser Beziehung, aber sehr wenige. Die mutigsten, kampflustigsten und opferwilligsten Genossen traten in die Kampftruppen ein. Zehn Jahre später hat Ernst einmal an Hand der Zahlen, die ihm die Führer der Kampftruppen gaben, eine Berechnung aufgestellt und ist zu dem Schluss gekommen, dass die durchschnittliche Lebensdauer eines Mannes oder einer Frau nach ihrem Eintritt in die Gruppe noch fünf Jahre betrug. Die Kameraden der Kampftruppe waren alle Helden, und das eigentümliche ist, dass sie Gegner des Tötens waren. Sie handelten gegen ihre Natur, aber sie liebten die Freiheit und kannten kein Opfer, das zu groß für sie war(2). Die Aufgabe, die wir uns stellten, war eine dreifache: erstens die Ausrottung der Spitzel der Oligarchie, zweitens die Organisation der Kampftruppen und daneben die allgemeine geheime Organisation der Revolution, drittens die Anstellung unseres eigenen Geheimagenten in jedem Zweig der Oligarchie - in den Arbeiterverbänden und besonders unter den Telegraphisten, Sekretären und Schreibern, im Heer, unter den Agents provocateurs und den Sklaventreibern. Es war eine langsame, gefährliche Arbeit, und oft wurden unsere Anstrengungen durch kostspielige Fehlschläge zunichte gemacht.
Im offenen Kampfe hatte die Eiserne Ferse triumphiert, aber in dem neuen Kampfe, den wir begannen, hielt unsere Organisation stand, und dieser unsichtbare Krieg wurde seltsam und schrecklich. Nichts war sichtbar, vieles nicht einmal zu erraten; der Blinde kämpfte mit dem Blinden, und doch waren alle Pläne zielbewusst und durchdacht. Wir durchdrangen die ganze Organisation der Eisernen Ferse mit unseren Spitzeln, während unsere eigene Organisation von den Spitzeln der Eisernen Ferse durchdrungen wurde. Es war ein finsterer und labyrinthischer Krieg, voller Intrige und Verschwörung. Komplott und Gegenkomplott. Und hinter alledem lauerte stets drohend der gewaltsame, schreckliche Tod. Männer und Frauen, unsere nächsten und besten Genossen, verschwanden. Heute sahen wir sie noch, morgen waren sie verschwunden. Wir sahen sie nie wieder und wussten, dass sie tot waren.
Es gab weder Zuversicht noch Vertrauen mehr. Der Mann, der neben uns kämpfte, war vielleicht, obgleich wir ihn alle kannten, ein Spitzel der Eisernen Ferse. Und trotzdem Vertrauen und Zuversicht fehlten, waren wir genötigt, unsere ganze Arbeit darauf aufzubauen. Oft sahen wir uns betrogen. Es gab schwache Menschen. Die Eiserne Ferse bot Geld, Bequemlichkeit und die Freuden und Herrlichkeiten, die in der Ruhe der Wunderstädte winkten. Uns blieb nur die Genugtuung, einem edlen Ideal treu zu sein. Und schließlich war der Lohn für die, die treu blieben, doch nichts als Gefahr, Folter und Tod. Es gab schwache Menschen, sagte ich, und diese Schwachen zwangen uns, die einzig mögliche Vergeltung zu üben, die in unserer Macht lag. Und das war die Vergeltung mit dem Tode. Die Notwendigkeit zwang uns, die Verräter zu bestrafen. Jedem, der uns verriet, wurden bis zu einem Dutzend zuverlässiger Rächer auf die Fersen geschickt. Wir mögen bei der Vollstreckung der Urteile an unseren Feinden, wie zum Beispiel den Pococks, versagt haben; in einem aber gab es kein Versagen, und das war die Bestrafung unserer eigenen Verräter. Genossen wurden unter der Vorspiegelung, Verräter zu sein, in die Wunderstädte geschickt, um dort unser Urteil an den wirklichen Verrätern zu vollstrecken. Wir wurden ein solcher Schrecken, dass es gefährlicher war, uns zu verraten, als uns treu zu bleiben.
Die Revolution nahm fast den Charakter von Religion an. Wir beteten sie an als das Heiligtum der Freiheit. In uns ruhte das göttliche Feuer, Männer und Frauen weihten ihr Leben der Sache, und neugeborene Kinder wurden ihr geweiht, wie sie früher dem Dienst Gottes geweiht worden waren. Wir liebten die Menschheit.
(1) Albert Pocock, ein anderer berüchtigter Streikbrecher jener Zeit, der bis zu seinem Todestage dafür sorgte, dass die Leute in den Kohlengruben an ihrer Arbeit blieben. Ihm folgte sein Sohn Lewis Pocock, und fünf Generationen hindurch beherrschte dieses bemerkenswerte Geschlecht von Sklaventreibern die Kohlengruben. Der älteste Pocock, Pocock J. genannt, wird folgendermaßen beschrieben: »Ein langer, magerer Kopf, von graumeliertem braunen Haar umkränzt, mit starken Backenknochen, glanzlose graue Augen, eine metallische Stimme und nachlässiges Benehmen.« Er war das Kind einfacher Eltern und begann seine Laufbahn als Kellner. Dann wurde er Privatdetektiv bei einer Straßenbahngesellschaft und entwickelte sich allmählich zum professionellen Streikbrecher. Pocock V., der letzte der Dynastie, wurde bei einer geringfügigen Revolte von Minenarbeitern im Indianer-Territorium mit einer Bombe in die Luft gesprengt. Das geschah im Jahre 2073.
(2) Diese Kampforganisationen waren ein wenig denen der russischen Revolution nachgebildet, und sie konnten sich trotz unaufhörlicher Anstrengung der Eisernen Ferse drei Jahrhunderte halten. Aus Männern und Frauen bestehend, die durch erhabene Vorsätze angespornt wurden und keine Todesfurcht kannten, übten die Kampftruppen einen starken Einfluss aus und milderten die wilde Brutalität der Herrschenden. Die Geheimagenten der Oligarchie zwangen sie zu unsichtbarer Kriegführung, aber die Oligarchie selbst war gezwungen, die Anweisungen der Gruppen zu befolgen, und oft, wenn sie es nicht tat, wurden ihre Mitglieder mit dem Tode bestraft — ebenso wie die Untergebenen der Oligarchie, die Offiziere der Armee und die Führer der Arbeiterklasse.
Strenge Justiz wurde von diesen organisierten Rächern geübt, am bemerkenswertesten aber waren ihre leidenschaftslosen gerichtlichen Prozeduren. Es gab keine übereilten Urteile. Sobald jemand festgenommen war, wurde ihm unparteiische Untersuchung und jede Gelegenheit zu seiner Verteidigung zugebilligt. Die Notwendigkeit ergab, dass viele Menschen in absentia abgeurteilt wurden, wie z. B. General Lampton. Das geschah im Jahre 2138. Vielleicht der blutdürstigste und bösartigste aller Söldner, die je der Eisernen Ferse dienten, wurde er von den Kampfgruppen benachrichtigt, dass sie Gericht über ihn gehalten, ihn für schuldig befunden und zum Tode verurteilt hätten — und das, nachdem er dreimal gewarnt worden war, seine rohe Behandlung des Proletariats einzustellen. Nach seiner Verurteilung sicherte er sich durch unzählige Schutzmaßnahmen. Jahre vergingen, ohne dass die Kampfgruppe ihr Urteil vollstrecken konnte. Genosse auf Genosse, Männer und Frauen waren erfolglos bei ihren Attentatsversuchen und wurden grausam von der Oligarchie hingerichtet. Der Fall des Generals Lampton gab die Veranlassung zur Wiedereinführung der Kreuzigung als gesetzliches Hinrichtungsmittel. Schließlich aber fand der Verurteilte doch seinen Henker in Gestalt eines siebzehnjährigen Mädchens, Madeline Provence, die, um ihren Plan auszuführen, zwei Jahre lang als Näherin in seinem Palast diente. Sie starb nach langer, furchtbarer Folter im Kerker, heute aber steht sie in Bronze im Pantheon der Brüderschaft in der Wunderstadt Serles. Wir, die wir aus persönlicher Erfahrung kein Blutvergießen kennen, dürfen die Helden der Kampfgruppen nicht zu hart verurteilen. Sie gaben ihr Leben für die Menschheit, kein Opfer war ihnen zu groß, und die unerbittliche Notwendigkeit des blutigen Zeitalters zwang sie zu blutigem Vorgehen. Die Kampfgruppe bildete den einzigen Stachel, den die Eiserne Ferse nie zu entfernen vermochte. Everhard war der Schöpfer dieser merkwürdigen Armee, und ihre Vervollkommnung wie ihr erfolgreiches Fortbestehen während dreier Jahrhunderte legte Zeugnis ab für seine organisatorischen Fähigkeiten und für die feste Grundlage, die er schuf, und auf der die folgende Generation weiter baute. In gewisser Beziehung muss, trotz seiner großen ökonomischen und soziologischen Taten und seiner Leistungen als Führer der Revolution, die Organisation der Kampfgruppen als sein größtes Verdienst angesehen werden.
Mit der Zerstörung der Bauernstaaten verschwanden deren Abgeordnete aus dem Kongress. Sie wurden wegen Hochverrats angeklagt und ihre Sitze von Kreaturen der Eisernen Ferse eingenommen. Die Sozialisten befanden sich in einer kläglichen Minderheit, und sie wussten, dass ihr Ende nahe war. Kongress und Senat waren leere Vorwände und Farcen. Gemeinnützige Fragen wurden feierlich debattiert und nach den alten Regeln verabschiedet, während in Wirklichkeit alles, was geschah, nur darauf hinauslief, den Befehlen der Oligarchie den Stempel verfassungsmäßigen Verfahrens aufzuprägen.
Ernst befand sich im dichtesten Kampfgewühl, als das Ende kam. Es war in der Debatte über das Gesetz zur Unterstützung Arbeitsloser. Die schweren Zeiten des vergangenen Jahres hatten große Massen des Proletariats gänzlich verelenden lassen, und die fortdauernde, sich immer mehr ausbreitende Verwirrung ließ sie noch tiefer sinken. Millionen hungerten, während die Oligarchen und ihr Anhang übersättigt waren(1). Wir nannten diese verelendeten Massen das »Volk des Abgrunds«(2), und zur Linderung dieser schrecklichen Qualen hatten die Sozialisten ein Gesetz beantragt, das die Unterstützung der Arbeitslosen betraf. Doch das war nicht nach dem Sinn der Eisernen Ferse. Die traf zwar auf ihre Weise Vorbereitungen, diesen Millionen Arbeit zu geben, aber ihr Weg war nicht der unsere, und deshalb hatten sie Befehl erteilt, unseren Antrag niederzustimmen. Ernst und seine Genossen wussten, dass ihre Anstrengungen zwecklos waren, aber sie waren des Hinausschiebens müde. Sie wollten, dass etwas geschehen sollte. Sie wussten, dass sie nichts erreichen konnten, aber sie hofften wenigstens, dieser gesetzlichen Posse, bei der sie unfreiwillig mitspielen mussten, ein Ende zu machen. Wie das Ende sein würde, wussten sie nicht, aber ein schlimmeres als das, welches wirklich kam, hatten sie sicher nicht erwartet.
Ich saß an diesem Tage auf der Galerie. Wir wussten alle, dass etwas Furchtbares drohte. Es lag in der Luft und wurde durch bewaffnete Soldaten, die in Gliedern in den Gängen, und durch Offiziere, die gruppenweise an den Eingängen des Kongressgebäudes standen, unterstrichen. Die Oligarchie streikte. Ernst sprach. Er schilderte die Leiden der Arbeitslosen in der Absicht, irgendwie die Herzen und das Gewissen der Mitglieder des Hauses aufzurütteln. Aber die Demokraten und Republikaner grinsten und verhöhnten ihn, und es gab Lärm und Durcheinander. Ernst schlug plötzlich einen anderen Ton an.
»Ich weiß, dass keines meiner Worte Sie rührt«, sagte er. »Sie haben keine Herzen, die sich rühren lassen. Sie sind rückgratlose, schlaffe Geschöpfe. Sie nennen sich hochtrabend Republikaner und Demokraten. Es gibt keine republikanische Partei. Es gibt keine demokratische Partei. Es gibt keinen Republikaner oder Demokraten in diesem Hause. Sie sind Speichellecker und Schmeichler, Kreaturen der Plutokratie. Sie schwatzen in den Redewendungen einer vergangenen Zeit von Ihrer Freiheitsliebe und tragen dabei die scharlachrote Livree der Eisernen Ferse.«
Jetzt übertönten wildes Geschrei und die Rufe »Ordnung! Ordnung!« Ernsts Stimme, aber er blieb mit geringschätzigem Ausdruck stehen, bis der Lärm sich einigermaßen gelegt hatte. Er machte eine Handbewegung, als wolle er sie alle umfassen, wandte sich dann zu seinen Genossen und sagte:
»Hört das Bellen der gemästeten Bestien!«
Ein Höllenlärm brach los. Der Präsident rief zur Ordnung und warf einen erwartungsvollen Blick auf die Offiziere in den Türeingängen. Man hörte den Ruf »Empörung«, und ein großer, kugelrunder New-Yorker Abgeordneter brüllte Ernst das Wort »Anarchist« zu. Aber Ernst achtete nicht darauf. Er bebte vor Kampfeseifer, und sein Gesicht war wie das eines kämpfenden Tieres, aber er blieb kühl und gefasst.
»Vergessen Sie nicht«, sagte er so laut, dass er den Lärm übertönte, »dass das Proletariat, wenn Sie jetzt Mitleid mit ihm haben, eines Tages auch Mitleid mit Ihnen haben wird.«
Die Rufe »Empörer« und »Anarchist« verdoppelten sich.
»Ich weiß, dass Sie nicht für die Vorlage stimmen werden«, fuhr Ernst fort. »Sie haben von Ihren Herren den Befehl bekommen, dagegen zu stimmen. Und mich nennen Sie einen Anarchisten! Sie, die Sie die Volksregierung vernichtet haben und mit Ihrer scharlachroten Schmach schamlos auf öffentlichen Plätzen prunken, nennen mich einen Anarchisten. Ich glaube nicht an Feuer und Schwefel der Hölle, aber in einem Augenblick wie dem jetzigen tut es mir leid, dass ich ungläubig bin. Nein, in einem Augenblick wie dem jetzigen bin ich gläubig. Es muss eine Hölle geben, denn nirgends sonst könnte es möglich sein, Strafen, die Ihren Verbrechen angemessen wären, an Ihnen zu vollziehen. Solange Sie und Ihresgleichen leben, braucht das Weltall ein Höllenfeuer.«
In den Türeingängen gab es Bewegung. Ernst, der Präsident und alle Abgeordneten blickten dorthin.
»Warum rufen Sie nicht Ihre Soldaten herein und befehlen ihnen, ihre Arbeit zu tun?« fragte Ernst. »Sie würden Ihre Pläne schnell zur Ausführung bringen.«
»Es sind andere Pläne«, lautete die Antwort, »weswegen die Soldaten hier sind.«
»Unsere Pläne vermutlich«, höhnte Ernst. »Meuchelmord oder dergleichen.«
Aber bei dem Worte »Meuchelmord« brach der Lärm von neuem los. Ernst konnte sich kein Gehör verschaffen, blieb aber ruhig auf seinem Platz und wartete, dass Ruhe einträte.
Und da geschah es. Ich konnte von meinem Platz auf der Galerie nichts sehen als das Aufblitzen der Explosion. Der Donner erfüllte meine Ohren, und ich sah, wie Ernst in einer dichten Rauchwolke schwankte und fiel, und wie die Soldaten hereinstürzten. Seine Genossen sprangen auf, rasend vor Zorn und zu jeder Gewalttat bereit. Aber Ernst richtete sich einen Augenblick auf und hob die Arme, um Ruhe zu gebieten.
»Es ist ein Komplott«, warnte er seine Genossen. »Tut nichts, sonst seid ihr verloren.«
Dann sank er langsam nieder, und die Soldaten waren bei ihm. Im nächsten Augenblick wurden die Galerien geräumt, und ich sah nichts mehr.
Obwohl er mein Gatte war, wurde ich nicht zu ihm gelassen. Als ich meinen Namen nannte, wurde ich sofort festgenommen. Und gleichzeitig wurden alle in Washington anwesenden sozialistischen Abgeordneten verhaftet, selbst der unglückliche Simpson, der in seinem Hotel an Typhus erkrankt daniederlag.
Das gerichtliche Verfahren war kurz und bündig. Die Leute wurden verurteilt. Es war ein Wunder, dass Ernst nicht hingerichtet wurde. Seitens der Oligarchie war dies ein schwerer Fehler und ein kostspieliger dazu. Aber die Oligarchie war in jenen Tagen zuversichtlich. Sie war trunken von Erfolg und ließ sich nicht träumen, dass diese kleine Handvoll Helden die Kraft in sich hatte, die Grundfesten der Oligarchie zum Wanken zu bringen. Morgen, wenn die große Revolution ausbricht und die ganze Welt widerhallt von dem Tritt der Millionen, wird die Oligarchie, aber zu spät, erfahren, wie mächtig diese Heldenschar angewachsen ist(3).
Selbst Revolutionärin, und zwar eine, die in alle Hoffnungen, Sorgen und geheimen Pläne der Revolutionäre eingeweiht war, bin ich wie wenige in der Lage, die Anschuldigung zurückzuweisen, dass wir, die Sozialisten, die Schuld an der Bombenexplosion im Kongress tragen. Und ich kann rundweg, ohne Einschränkung und ohne einen Zweifel, erklären, dass die Sozialisten weder im Kongress noch außerhalb ihre Hand im Spiel hatten. Wer die Bombe warf, wissen wir nicht, nur das wissen wir sicher, dass wir es nicht taten.
Andererseits ist es klar, dass die Eiserne Ferse für die Tat verantwortlich zu machen ist. Wir können es allerdings nicht beweisen. Unsere Annahme beruht nur auf Mutmaßungen. Aber das wissen wir: Durch Geheimagenten der Regierung war dem Präsidenten mitgeteilt worden, dass die sozialistischen Abgeordneten ihre Zuflucht zum Terrorismus nehmen wollten, und dass sie den Tag" bereits festgesetzt hätten, an dem sie damit beginnen würden. Und dieser Tag war eben der, an dem die Explosion stattfand. Deshalb hatte man schon im voraus Truppen im Kapitol zusammengezogen. Da wir nichts von der Bombe wussten, da sie wirklich explodierte, und da sich die Behörden schon im voraus darauf vorbereitet hatten, ist die Annahme, dass die Eiserne Ferse davon wusste, nur zu berechtigt. Wir behaupten ferner, dass die Eiserne Ferse schuld an den Ausschreitungen trug, dass sie sie vorbereitet und begangen hat mit der Absicht, die Schuld auf uns zu wälzen, um uns zu vernichten.
Der Präsident gab allen Anwesenden im Hause, die die scharlachrote Livree trugen, den nötigen Wink. Sie wussten, dass der Gewaltakt geschehen würde, während Ernst sprach. Und um ihnen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, müssen wir sagen, dass sie aufrichtig glaubten, die Sozialisten hätten diesen Gewaltakt ausgeführt. Bei der Verhandlung sagten mehrere, ebenfalls in ehrlicher Überzeugung, aus, dass Ernst sich angeschickt hätte, die Bombe zu werfen, dass sie jedoch zu früh explodiert sei! Natürlich hatten sie gar nichts dergleichen gesehen, aber in ihrer fieberhaften Angst bildeten sie sich ein, es gesehen zu haben. Das ist alles.
Es war, wie Ernst beim Verhör sagte: »Kann ein vernünftiger Mensch glauben, dass ich, wenn ich eine Bombe werfen wollte, dazu einen harmlosen kleinen Kanonenschlag verwenden würde? Er enthielt nicht genügend Pulver. Er machte eine Menge Rauch, verwundete aber keinen außer mir. Er explodierte gerade vor meinen Füßen, tötete mich aber nicht. Glauben Sie mir: Wenn ich Bomben werfe, dann gibt es Schaden. In meinen Petarden wird etwas anderes sein als Rauch.«
Von der Anklage wurde dagegen gefolgert, dass die Kraftlosigkeit der Bombe auf ein Versehen der Sozialisten zurückzuführen sei, ebenso wie ihre vorzeitige Explosion, die dadurch verursacht worden sei, dass Ernst seine Nerven verlor und die Bombe fallen ließ. Und zur Bekräftigung dieses Arguments bezeugten mehrere Abgeordnete, gesehen zu haben, dass Ernst mit der Bombe spielte und sie fallen ließ.
Von uns weiß keiner, wie die Bombe geworfen wurde. Ernst sagte mir, dass er sie den Bruchteil einer Sekunde, ehe sie explodierte, vor seine Füße habe fliegen sehen. Er erklärte das vor Gericht, aber man schenkte ihm keinen Glauben. Die Eiserne Ferse hatte beschlossen, uns zu vernichten, und jeder Widerstand war nutzlos.
Man sagt, dass die Wahrheit stets an den Tag komme. Ich zweifle heute daran. Neunzehn Jahre sind vergangen, und trotz unserer unermüdlichen Anstrengungen haben wir nie herausbekommen, wer die Bombe geworfen hat. Zweifellos war es ein Spitzel der Eisernen Ferse, aber er ist der Entdeckung entgangen. Wir haben nie den leisesten Anhaltspunkt zu seiner Feststellung finden können. Und jetzt, nach so langer Zeit, bleibt nichts übrig, als die ganze Angelegenheit unter die Geheimnisse der Weltgeschichte zu reihen(4).
(1) Dieselben Zustände herrschten im neunzehnten Jahrhundert unter der britischen Herrschaft in Indien. Die Eingeborenen verhungerten zu Millionen, während ihre Herren ihnen die Frucht ihrer Arbeit raubten und einen ungeheuren Aufwand trieben sowie sich den ärgsten Ausschweifungen hingaben. In unserm erleuchteten Zeitalter müssen wir über viele Taten unserer Vorfahren erörtern, unser einziger Trost ist die Philosophie. Wir müssen das kapitalistische Stadium in der sozialistischen Entwicklung etwa mit dem frühen Affenstadium vergleichen. Die Menschheit musste bei ihrem Aufstieg aus dem Schlamm und Schleim des tief erstehenden organischen Lebens über diese Stufe hinweg. Es war unvermeidlich, dass viel Schlamm und Schleim haften blieb und nicht leicht abzuschütteln war.
(2) »Das Volk des Abgrunds« — ein Ausdruck, der von dem genialen H.G. Wells gegen Ende des 19. Jahrhunderts geprägt wurde. Wells war ein soziologischer Prophet von ebensoviel Vernunft wie Menschenliebe. Viele Bruchstücke seiner Werke sind uns überkommen, und zwei seiner größten Werke, »Vorahnungen« und »Menschheit im Werden«, sogar unversehrt. Schon vor den Oligarchen und Everhard dachte Wells an den Bau von Wunderstädten, wenn er sie auch in seinen Schriften nur als »Städte der Freuden« bezeichnete.
(3) Avis Everhard hielt es für ausgemacht, dass ihre Erzählung in ihrer eigenen Zeit gelesen werden würde, und unterließ es daher, den Ausgang des Gerichtsverfahrens wegen Hochverrats zu erwähnen. In dem Manuskript machen sich überhaupt viele ähnliche störende Auslassungen bemerkbar. Zweiundfünfzig sozialistische Abgeordnete wurden vor Gericht gestellt und alle schuldig befunden. Es ist merkwürdig, dass kein einziger zum Tode verurteilt wurde. Everhard und elf andere, unter ihnen Theodore Donneisen und Matthew Kent, erhielten lebenslängliches Zuchthaus. Die übrigen vierzig wurden zu Zuchthausstrafen zwischen dreißig und fünfundvierzig Jahren verurteilt, während Arthur Simpson, der in dem Manuskript zu diesem Zeitpunkt als typhuskrank erwähnt wird, mit fünfzehn Jahren davonkam. Der Überlieferung nach soll er in der Einzelhaft verhungert sein, und diese harte Behandlung wurde durch seinen unnachgiebigen Trotz und seinen stolzen Hass gegen alle Diener des Despotismus erklärt. Er starb in Cabanas auf Cuba, wo drei seiner Genossen ebenfalls eingesperrt waren. Die zweiundfünfzig sozialistischen Abgeordneten wurden in militärischen Festungen, über die ganzen Vereinigten Staaten verstreut, eingesperrt. Thus, Du Bois und Woods wurden in Porto Rico eingekerkert, während Everhard und Merryweather in Alcatraz, einer Insel in der Bucht von San Franzisko.in einem Gebäude untergebracht wurden, das schon seit vielen Jahren als Militärgefängnis diente.
(4) Avis Everhard hätte viele Generationen leben müssen, um die Aufklärung dieses eigenartigen Mysteriums zu erfahren. Erst vor kaum hundert Jahren, also mehr als sechs Jahrhunderte nach ihrem Tode, wurde das Geständnis Pervaises in den Geheimarchiven des Vatikans entdeckt. Es ist vielleicht angebracht, ein wenig von diesem Geheimdokument zu erzählen, wenn es auch in der Hauptsache nur für den Historiker Interesse hat.
Pervaise war ein Amerikaner französischer Abstammung, der im Jahre 1913, wegen Mordes angeklagt, im New-Yorker Gefängnis lag und auf die Verhandlung wartete. Aus einer Beichte erfahren wir, dass er kein Verbrecher war. Er war heißblütig, leidenschaftlich, weichherzig, leicht zu rühren. In einem krankhaften Anfall von Eifersucht tötete er seine Frau — in damaliger Zeit etwas ganz Alltägliches. Pervaise war, wie er des langen und breiten in seiner Beichte erzählt, von Todesfurcht gepackt. Um dem Tode zu entgehen, würde er jede Tat begangen haben, und die politischen Agenten präparierten ihn, indem sie ihm versicherten, dass er bei der Gerichtsverhandlung seiner Verurteilung wegen vorsätzlichen Mordes kaum entgehen würde. Vorsätzlicher Mord war damals ein Kapitalverbrechen. Der oder die Schuldige wurde in einen eigens dazu konstruierten Todesstuhl gesetzt und unter Aufsicht von Ärzten durch den elektrischen Strom hingerichtet. Man nannte das Hinrichtung mittels Elektrizität, und sie war damals sehr volkstümlich. Anästhesie beim Zwangstod wurde erst später eingeführt.
Dieser gutmütige, aber gänzlich unbeherrschte Mann wurde, im Gefängnis schmachtend und nichts als den Tod erwartend, von den Spitzeln der Eisernen Ferse überredet, die Bombe im Kongress zu werfen. In seiner Beichte betonte er, dass man ihm gesagt hätte, die Bombe sei schwach und nicht lebensgefährlich. Das deckt sich mit der Tatsache, dass sie offenbar nur eine leichte Pulverladung enthielt, und dass sie zu Everhards Füßen explodierte, ohne ihn zu töten.
Pervaise wurde unter dem Vorwand, Reparaturen auszuführen, in eine der Galerien eingeschmuggelt. Der Zeitpunkt für das Werfen der Bombe wurde ihm überlassen, und er gesteht offen, dass er bei seinem Interesse für die Rede Everhards und bei der dadurch entstandenen allgemeinen Erregung seine Aufgabe fast vergessen hätte.
Zum Lohn für seine Tat entließ man ihn nicht nur aus dem Gefängnis, sondern bewilligte ihm sogar eine lebenslängliche Rente. Er sollte sie jedoch nicht lange genießen. Im September 1914 erkrankte er an Herzrheumatismus und starb nach drei Tagen. Vorher verlangte er noch nach dem katholischen Priester, Vater Peter Durban und beichtete ihm. Diese Beichte erschien dem Priester so wichtig, dass er sie zu Protokoll nahm und beschwören ließ. Was dann geschah, können wir nur vermuten. Das Dokument war sicher wichtig genug, um seinen Weg nach Rom zu finden, aber mächtige Einflüsse müssen sich geltend gemacht haben, so dass es unterdrückt wurde. Erst vor etwa hundert Jahren fand es Lorbia, der ausgezeichnete italienische Gelehrte, ganz zufällig bei seiner Durchforschung des Vatikans.
Heute besteht kein Zweifel mehr, dass die Eiserne Ferse verantwortlich war für die Bombe, die im Jahre 1913 im Kongress explodierte. Wenn die Beichte Pervaises auch nicht ans Licht kam, so konnte doch kein vernünftiger Mensch hieran zweifeln, denn die Tat, die zweiundfünfzig Abgeordnete ins Gefängnis! brachte, glich ganz den ändern Taten, die die Oligarchien und vor ihnen die Kapitalisten begingen.
So haben wir das klassische Beispiel von dem grausamen und leichtfertigen Justizmord an den unschuldigen so genannten Haymarket-Anarchisten in den achtziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts in Chikago. Eine Kategorie für sich bildet das wohlerwogene Niederbrennen und Zerstören kapitalistischen Eigentums durch die Kapitalisten selbst (siehe Fußnote l auf Seite 157). Für solche Zerstörungen wurden oft Unschuldige bestraft.
In den Arbeiterunruhen des ersten Jahrzehnts des zwanzigsten Jahrhunderts — die Grubenarbeiter in den westlichen Distrikten erhoben sich gegen die Kapitalisten— wurde eine ähnliche, nur blutigere Taktik angewandt. Kapitalistische Spitzel sprengten den Bahnhof von Independance in die Luft. Dreizehn Menschen wurden dabei getötet — eine weit größere Anzahl verwundet. Und dann bezichtigten die Kapitalisten, die die gesetzgebende und gerichtliche Maschinerie des Staates Kolorado beherrschten, die Grubenarbeiter des Verbrechens und hätten sie fast überführt.
Romaines, wie Pervaise ein Werkzeug der Oligarchie, lag im Gefängnis eines ändern Staates, Kansas, und wartete auf seine Aburteilung, als die Agenten der Kapitalisten an ihn herantraten. Aber anders als im Fall Pervaise, wurde das Geständnis Romaines noch zu seinen Lebzeiten bekannt.
Zur selben Zeit ereigneten sich die Fälle Moyer und Haywood, zwei starker, furchtloser Arbeiterführer. Der eine war Vorsitzender, der andere Sekretär des westlichen Grubenarbeiterverbandes. Der Exgouverneur von Idaho war auf mysteriöse Art und Weise ermordet worden. Sozialisten und Grubenarbeiter legten das Verbrechen offen den Grubenbesitzern zur Last. Nichtsdestoweniger wurden, mit Verletzung der verfassungsmäßigen Rechte und durch Verabredung der Gouverneure von Idaho und Kolorado, Moyer und Haywood ins Gefängnis geworfen und des Mordes bezichtigt. Diese Angelegenheit war es, die Eugene V. Debs, dem damaligen Führer der amerikanischen Sozialisten, folgende Worte entriss: »Die Arbeiterführer, die nicht zu bestechen oder einzuschüchtern sind, müssen in den Hinterhalt gelockt und ermordet werden. Das einzige Verbrechen Moyers und Haywoods war, dass sie unerschütterlich treu zur Arbeiterklasse hielten. Die Kapitalisten haben unser Land gestohlen, unsere Politik verdorben, unsere Rechtsprechung besudelt und uns mit ihren scharf beschlagenen Pferden überritten; jetzt wollen sie die morden, die sich verwerflicherweise ihrer brutalen Herrschaft nicht fügen wollen. Die Gouverneure von Kolorado und Idaho führen nur die Befehle ihrer Herren aus. Es heißt: Arbeit gegen Plutokratie! Führen sie den ersten Schlag, so werden wir den letzten austeilen.«
Von mir ist in dieser Zeit nicht viel zu berichten. Ich wurde sechs Monate in Haft gehalten, obgleich man mich keines Vergehens beschuldigte. Ich war verdächtig — ein beängstigendes Wort, das bald alle Revolutionäre kennen lernen sollten. Aber unser eigener Geheimdienst begann zu wirken. Gegen Ende des zweiten Monats meiner Gefängniszeit gab sich mir einer der Gefängniswärter als ein mit der Organisation in Fühlung stehender Revolutionär zu erkennen. Einige Wochen später zeigte sich, dass Joseph Parkhurst, der erst kürzlich angestellte Gefängnisarzt, Mitglied einer der Kampfgruppen war.
So umspann unsere Organisation ungehindert die der Oligarchie. Dadurch blieb ich in Berührung mit der Außenwelt. Und ebenso stand jeder unserer verhafteten Führer in Verbindung mit den tapferen Genossen, die sich in die Livree der Eisernen Ferse vermummt hatten. Zwar war Ernst dreitausend Meilen entfernt an der Pazifischen Küste eingesperrt, aber doch stand ich in ununterbrochener Verbindung mit ihm, und unsere Briefe gingen regelmäßig hin und her. Die Führer waren im Gefängnis wie draußen imstande, den Feldzug zu beraten und zu leiten. Mehrere Monate wäre es einigen von ihnen möglich gewesen, zu fliehen. Da die Einsperrung aber kein Hindernis für unsere Tätigkeit bildete, wurde beschlossen, jede Übereilung zu vermeiden. Zweiundfünfzig Kongressmitglieder waren im Gefängnis und dazu noch volle dreihundert unserer Führer. Man plante, sie alle gleichzeitig zu befreien. Entfloh nur ein kleiner Teil, so musste die Wachsamkeit der Oligarchie rege und die Flucht der ändern vereitelt werden. Andererseits war man der Ansicht, dass eine allgemeine Befreiung der Gefangenen im ganzen Lande einen außerordentlich starken psychologischen Eindruck auf das Proletariat ausüben musste. Unsere Stärke musste dadurch offenbar werden und Vertrauen erwecken.
Es wurde verabredet, dass ich nach meiner Entlassung verschwinden und ein sicheres Versteck für Ernst ausfindig machen sollte. Das Verschwinden war an sich gar nicht so einfach. Sobald ich in Freiheit gesetzt wurde, hetzte die Eiserne Ferse ihre Spione auf meine Fährte. Es war notwendig, sie von meiner Spur abzulenken und nach Kalifornien zu gelangen. Wie dies geschah, ist lustig.
Das dem russischen nachgebildete Passsystem war bereits in der Entwicklung begriffen. Ich konnte es nicht wagen, den Kontinent in meiner wahren Gestalt zu durchreisen. Wollte ich Ernst je wieder sehen, so musste ich zunächst gänzlich verloren gegangen sein, denn wenn sie mich nach seiner Flucht aufstöberten, fingen sie auch Ernst wieder. Ferner durfte ich nicht als Mitglied des Proletariats verkleidet reisen. Es blieb mir nur übrig, die Maske eines Mitglieds der Oligarchie anzulegen. An Hauptoligarchen gab es nur eine Handvoll, dagegen unzählige geringere, sagen wir, vom Schlage des Herrn Wickson — Leute, die einige Millionen schwer und Anhängsel der Oligarchie waren. An Frauen und Töchtern dieser Männer gab es sehr viele, und so wurde beschlossen, dass ich als eine von ihnen reisen sollte. Einige Jahre später wäre das unmöglich gewesen, denn da war das Passsystem so ausgebildet, dass jeder Mann, jede Frau und jedes Kind im ganzen Lande eingetragen war.
Als es so weit war, wurden die Spione von meiner Fährte abgelenkt. Eine Stunde später gab es keine Avis Everhard mehr; eine Felice van Verdighan stieg, von zwei Kammerjungfern und einem Schoßhündchen nebst dessen Wärterin(1) begleitet, in den Salonwagen, um einige Minuten später gen Westen zu sausen.
Die drei jungen Mädchen, die mich begleiteten, waren Revolutionärinnen. Zwei von ihnen waren Mitglieder der Kampfgruppen, und die dritte, Grace Holbrock, trat im folgenden Jahre in eine solche Gruppe ein, wurde aber schon sechs Monate später durch die Eiserne Ferse hingerichtet. Es war das Mädchen, das als Wärterin des Schoßhündchens mitfuhr. Von den anderen beiden verschwand Bertha Stole zwölf Jahre später, während Anna Roylston(2) noch heute lebt und eine immer größere Rolle in der Revolution spielt.
Wir fuhren ohne Abenteuer quer durch die Vereinigten Staaten bis nach Kalifornien. In Oakland stiegen wir aus, und dann verschwand Felice van Verdighan mit ihren beiden Jungfern, ihrem Schoßhündchen und dessen Wärterin für immer. Die Mädchen wurden von vertrauenswürdigen Genossen fortgebracht, und andere Genossen nahmen sich meiner an. Eine halbe Stunde nach Verlassen des Zuges befand ich mich in einem kleinen Fischerboot auf der Bucht von San Franzisko. Der Wind war veränderlich, und wir trieben den größten Teil der Nacht ziellos umher. Aber ich sah die Lichter von Alcatraz, wo sich Ernst befand, und fand Trost in dem Gedanken, ihm nahe zu sein. Bei Tagesanbruch erreichten wir unter Zuhilfenahme der Riemen die Marin-Inseln. Hier hielten wir uns den ganzen Tag versteckt, und in der folgenden Nacht fuhren wir, von der Flut und einer frischen Brise getrieben, in zwei Stunden über die Bucht von San Pablo und landeten in Petaluma.
Hier warteten wieder Genossen mit Pferden auf uns, und ohne Verweilen ging es fort durch die Sternennacht. Im Norden sah ich die Umrisse des Sonomagebirges, auf das wir zuritten. Wir ließen das alte Sonoma rechts liegen und ritten durch eine Schlucht, die sich zwischen den Ausläufern des Gebirges hinzog. Die Fahrstraße wurde zu einem Holzweg, dieser zu einem Viehsteig, und der verlor sich wieder in den hochgelegenen Triften. Wir ritten direkt über das Sonoma-gebirge. Das war der sicherste Weg. Niemand bemerkte uns.
In der Dämmerung erreichten wir den Nordrand und stiegen in dem grauen Licht durch das Gestrüpp in tiefe, vom Hauch des scheidenden Sommers erwärmte Schluchten hinab. Für mich war es eine altbekannte Gegend, und bald übernahm ich die Führung. Es war mein Versteck. Ich hatte es entdeckt. Wir ließen den Pferden die Zügel und ritten über eine hochgelegene Matte. Dann ging es über einen niedrigen, mit Eichen bewachsenen Bergrücken, und bei einer kleinen Matte stiegen wir ab. Dann erklommen wir wieder einen Berg, wobei wir unter rotgeränderten Madronos und Manzanitas von tiefem Rot ritten. Beim Aufstieg fielen uns die ersten Sonnenstrahlen auf den Rücken. Ein Volk Wachteln strich durch das Dickicht ab. Ein großer Hase kreuzte unseren Pfad; er lief leicht und geräuschlos wie ein Reh. Und dann sprang ein Hirsch, ein vielgabeliger Bock, dessen Rücken und Schultern in der Sonne rotgolden glänzten, über den Hügelkamm vor uns und verschwand.
Wir folgten eine Weile seiner Fährte, stiegen dann aber einen Zickzackpfad, den er verschmäht hatte, hinab, bis zu einer Gruppe von Edeltannen um einen Teich, der trübe von den Erzen seines Felsgrundes war. Ich kannte jeden Zoll des Weges. Ein mir befreundeter Schriftsteller war einmal Besitzer dieser Viehweide gewesen. Aber er war auch Revolutionär geworden und hatte weniger Glück als ich gehabt, denn er war schon tot und dahin, und niemand wusste, wie und wann. Er allein hatte außer mir das Versteck gekannt, das ich jetzt aufsuchte. Er hatte die Weide ihrer Schönheit wegen gekauft und, zum großen Missfallen der ansässigen Bauern, ein gutes Stück Geld dafür bezahlt. Er erzählte gern mit großem Vergnügen, wie sie die Köpfe über den Preis geschüttelt, ihre schwerfällige Kopfrechnung gemacht und dann gesagt hatten: »Aber Sie können keine sechs Prozent damit machen.«
Jetzt war er tot, und die Viehweide war nicht an seine Kinder übergegangen. Sie war jetzt Eigentum Wicksons, der die ganzen Ost- und Nordhänge des Sonoma-Gebirges von dem Besitz Spreckels bis zum Rand des Bennettals sein eigen nannte. Er hatte einen herrlichen Wildpark daraus gemacht, in dem das Wild Tausende von Morgen weit durch liebliche Abhänge, Lichtungen und Schluchten, fast wie durch eine Urwildnis schweifte. Die früheren Besitzer waren vertrieben worden. Ferner hatte Wickson eine staatliche Anstalt für Schwachsinnige abgerissen, um Raum für das Wild zu schaffen. Das beste war, dass Wicksons Jagdhaus nur eine Viertelmeile von meinem Versteck entfernt lag. Statt dass dieser Umstand gefahrbringend gewesen wäre, bot er uns im Gegenteil Sicherheit, denn so standen wir im Schütze eines der kleineren Oligarchen. Wie die Dinge lagen, war jeder Verdacht ausgeschlossen, und das letzte Fleckchen Erde, auf das die Spione der Eisernen Ferse auch nur im Traum gekommen wären, um mich und Ernst zu suchen, war Wicksons Wildpark.
Wir banden unsere Pferde an die Bäume am Teich. Aus einem Versteck in einem hohlen, morschen Baumstumpf holte mein Gefährte eine Menge Sachen hervor — einen Sack mit fünfzig Pfund Mehl, alle möglichen Arten Dosenkonserven, Küchengeräte, Decken, eine wasserdichte Zeltbahn, Bücher und Schreibgerät, ein großes Bündel Briefe, ferner eine Kanne mit fünf Gallonen Petroleum, einen Petroleumkocher und endlich, was besonders wichtig war, eine große Rolle starken Seiles. Der Vorrat war so groß, dass das Hinschaffen zu meinem Versteck sehr viele Gänge nötig machte.
Aber das Versteck war ganz in der Nähe. Ich nahm das Seil und schritt voraus auf dem Wege, der durch eine mit wildem Wein und Gestrüpp bewachsene Lichtung zwischen zwei bewaldeten Hügeln hindurchführte. Die Lichtung endete plötzlich an einem steilen Flussufer. Es war ein kleiner Fluss, der von Quellen gespeist wurde und selbst im heißesten Sommer nicht austrocknete. Zu beiden Seiten erhoben sich bewaldete Hügel, die aussahen, als hätte eine Titanenfaust sie sorglos hingeschleudert. Sie erhoben sich Hunderte von Fuß und bestanden aus roter vulkanischer Erde, dem berühmten Rebenboden von Sonoma. Durch sie hindurch hatte der Fluss sich sein tiefes, abschüssiges Bett gegraben.
Auf Händen und Füßen kletterten wir mühsam zum Fluss hinunter und schritten dann etwa dreißig Meter flussabwärts. Und dann gelangten wir zu der großen Höhle. Nichts verriet, dass hier eine Höhle war, und es war auch keine Höhle im landläufigen Sinne. Man kroch durch undurchdringliches Dornengestrüpp und Zweige hindurch und befand sich dann am Ende der etwa fünfzig Fuß langen und breiten Höhle. Vielleicht durch das Gegeneinanderschleudern der Hügel entstanden, sicher aber mit Hilfe einer seltsamen Erosion, war die Höhle im Laufe der Jahrhunderte durch das Wasser tief ausgewaschen. Nirgends sah man die bloße Erde. Sie war vollkommen von Pflanzen überwuchert, von zartem Frauenhaar und goldschimmernden Farnen bis zu den mächtigen Tannen und Douglasfichten. Diese hohen Bäume wuchsen direkt aus den Wänden der Höhle hervor. Einige lehnten sich in einem Winkel von fünfundvierzig Grad über, die meisten aber strebten aus den weichen, fast senkrechten Erdwänden geradeswegs in die Höhe.
Es war ein vollendetes Versteck. Niemand kam dorthin, nicht einmal die Dorfjugend von Glen Ellen. Hätte sich die Höhle auf dem Grunde einer Schlucht befunden, und wäre sie eine oder mehrere Meilen lang gewesen, so hätte man sie wohl gekannt. Aber dies war keine Schlucht. Die ganze Länge des Flussbettes betrug nicht mehr als achthundert Meter, und zweihundert Meter oberhalb der Höhle entsprang der Fluss aus Quellen am Fuß einer flachen Matte. Und hundert Meter weiter erreichte er schon die offene Landschaft, vereinigte sich mit dem Hauptstrom und floss durch grasbewachsenes Land.
Mein Gefährte schlang das eine Ende des Seils um einen Baum und ließ sich mit mir am anderen Ende hinab. Ich gelangte auf den Boden, und in kürzester Zeit hatte er alle Gegenstände aus dem Versteck herbeigeschafft und zu mir heruntergelassen. Er wickelte das Seil wieder auf, verbarg es und rief mir im Fortgehen ein frohes Abschiedswort zu.
Ehe ich fortfahre, möchte ich ein Wort über diesen Genossen John Carlson sagen, der eine bescheidene Gestalt der Revolution, einer der zahllosen Aufrechten in unseren Reihen war. Er arbeitete in Wicksons Ställen in der Nähe des Jagdhauses. Tatsächlich waren es auch Wicksons Pferde, auf denen wir durch die Sonoma-Berge geritten waren. Seit etwa zwanzig Jahren ist Carlson der Hüter der Höhle, und ich bin überzeugt, dass ihm in dieser ganzen Zeit nie auch nur der leiseste Gedanke an eine Untreue gekommen ist. Ein Vertrauensbruch wäre für ihn undenkbar gewesen. Er war phlegmatisch und so beschränkt, dass man sich wundern muss, wie er überhaupt auf den Gedanken gekommen war, sich mit der Revolution zu befassen. Aber doch glimmte die Liebe zur Freiheit dunkel und stetig in seiner schwerfälligen Seele. In mancher Beziehung war es wirklich ganz gut, dass er nicht erfinderisch und phantastisch war; er verlor nie den Kopf. Er konnte Befehlen gehorchen und war weder neugierig noch geschwätzig. Ich fragte ihn einmal, weshalb er Revolutionär sei.
»Als junger Mann war ich Soldat«, erwiderte er, »in Deutschland. Dort müssen alle jungen Leute im Heer dienen. Mit mir zusammen diente ein junger Mann, dessen Vater war, was man einen Agitator nennt. Der Vater saß im Gefängnis wegen Majestätsbeleidigung — so heißt es, wenn man die Wahrheit über den Kaiser sagt. Und der junge Mann, der Sohn, sprach viel mit mir über das Volk und die Arbeit und die Aussaugung des Volkes durch die Kapitalisten. Er zeigte mir die Dinge in einem neuen Licht, und so wurde ich Revolutionär. Seine Worte waren echt und gut, und ich habe sie nie vergessen. Als ich nach den Vereinigten Staaten kam, suchte ich die Sozialisten auf. Ich wurde Mitglied einer Sektion — das war zur Zeit der S.L.P. Als später die Trennung kam, schloss ich mich der S.P. an. Ich arbeitete in einem Tattersall in San Franzisko. Das war vor dem Erdbeben. Zweiundzwanzig Jahre lang habe ich meine Beiträge bezahlt. Ich bin heute noch Mitglied und bezahle meine Beiträge, wenn es jetzt auch ganz geheim gehalten werden muss. Ich werde meine Beiträge stets zahlen, und wenn das kooperative Gemeinwesen kommt, werde ich glücklich sein.«
Mir selbst überlassen, machte ich mich daran, auf dem Petroleumkocher mein Frühstück zu bereiten und mein Heim einzurichten. Frühmorgens oder abends, nach Eintritt der Dunkelheit, stahl Carlson sich oft in mein Versteck und arbeitete ein paar Stunden. Zuerst wickelte ich mich nur in die Zeltbahn, später wurde ein kleines Zelt aufgeschlagen. Und noch später, als wir uns von der Sicherheit des Ortes völlig überzeugt hatten, wurde ein kleines Haus erbaut. Dieses Haus war neugierigen Blicken, die etwa vom Ende der Höhle hereinschauen konnten, vollkommen verborgen. Die üppige Vegetation dieses geschützten Platzes bildete einen natürlichen Schirm. Das Haus lehnte sich gegen die senkrechte Wand, und in die Wand selbst, die durch starke Baumstämme gestützt, gut entwässert und mit Luftlöchern versehen wurde, gruben wir zwei kleine Stuben. Oh, glaubt mir, wir hatten manche Bequemlichkeit. Als Biedenbach, der deutsche Terrorist, später mit uns hier wohnte, erdachte er eine sinnreiche Vorrichtung, die den Rauch verzehrte und es uns ermöglichte, an Winterabenden bei knisterndem Holzfeuer zu sitzen.
Und hier muss ich ein Wort einlegen für den edelsinnigen Terroristen; schrecklicher als er ist wohl kein Genösse in der Revolution missverstanden worden. Genosse Biedenbach hat keinen Verrat an der Sache geübt. Er ist auch nicht, wie man gewöhnlich glaubt, von den Genossen hingerichtet worden. Diese Lüge haben die Kreaturen der Oligarchen in Umlauf gesetzt. Genösse Biedenbach war zerstreut und vergesslich.
Er wurde von einer unserer Wachen beim Höhlenversteck am Carmel erschossen, weil er sich der geheimen Parole nicht sofort erinnerte. Es war ein trauriger Irrtum. Und dass er seine Kampfgruppe verraten hätte, ist Lüge. Nie hat ein Mann treuer und ehrlicher zu der Sache gestanden als er(3). Neunzehn Jahre lang ist das Versteck, das ich ausgesucht hatte, fast ununterbrochen bewohnt gewesen und in dieser ganzen Zeit, mit Ausnahme eines einzigen Falles, nie von einem Außenstehenden entdeckt worden. Und doch lag es nur eine Viertelmeile von Wicksons Jagdhaus und eine knappe Meile von Glen Ellen entfernt. Ich konnte stets die Morgen- und Abendzüge ankommen und abfahren hören, und ich pflegte meine Uhr nach der Dampfpfeife der Ziegelei zu stellen(4).
(1) Dieses lächerliche Bild illustriert das herzlose Benehmen der herrschenden Klasse. Während das Volk hungerte, wurden Schoßhündchen von Dienerinnen betreut. Es war dies eine ernsthafte Maskerade von Avis Everhard. Es ging um Leben und Tod, und daher muss man das Bild für echt halten. Es liefert einen schlagenden Kommentar zu den Sitten jener Zeit.
(2) Trotz fortgesetzter und beinahe unfassbarer Wagnisse erreichte Anna Roylston das königliche Alter von einundneunzig Jahren. Wie die Pococks den Henkern der Kampfgruppen, so bot sie den Henkern der Eisernen Ferse Trotz. Sie lebte ein Leben voller Zauber und Glück inmitten von Gefahren und Kampf. Sie selbst war unter den Kampfgruppen als die »Rote Jungfrau« bekannt und wurde eine der berühmtesten Gestalten der Revolution. Als alte Frau von ungefähr neunundsechzig Jahren schoss sie den »blutigen« Halcliffe inmitten seiner bewaffneten Eskorte nieder und entkam unbehelligt. Endlich starb sie an einem geheimen Zufluchtsort der Revolutionäre in den Ozark-Bergen.
(3) Soviel wir auch das Material jener Zeit, soweit es uns erhalten ist, durchforschen, können wir doch nichts über den hier erwähnten Biedenbach finden. Außer in dem vorliegenden Manuskript der Avis Everhard ist er nirgends erwähnt.
(4) Wenn der wissbegierige Reisende von Glen Ellen aus den Weg nach Süden einschlägt, wird er sich auf einem Boulevard befinden, der identisch mit der alten Landstraße ist, die sich vor sieben Jahrhunderten dort befand. Nach Überschreitung der zweiten Brücke wird er, eine Viertelmeile von Glen Ellen, zur Rechten eine Barranca bemerken, die wie eine Schramme durch das hügelige Land bis zu einer Gruppe bewaldeter Hügel läuft. Die Barranca ist der Sitz des alten Wegerechts, das im Zeitalter des Privatbesitzes dem Pachtgute eines gewissen Chauvet zustand, eines französischen Pioniers in Kalifornien, der in den Märchentagen des Goldes sein Heimatland verlassen hatte. Die bewaldeten Hügel sind dieselben, von denen Avis Everhard spricht.
Das große Erdbeben von 2368 zerriss einen dieser Hügel und verschüttete die Höhle, in der die Everhards ihre Zuflucht genommen hatten. Seit Auffinden des Manuskriptes hat man Ausgrabungen vorgenommen und das Haus, das die beiden Flüchtlinge so lange bewohnt haben, sowie allen aufgehäuften Kehricht ans Licht gebracht. Viele wertvolle Überreste wurden gefunden, darunter merkwürdigerweise die rauchverzehrende Einrichtung Biedenbachs, von der in der Erzählung die Rede ist. Wer sich für solche Dinge interessiert, sollte die Broschüre Arnolds Benthams lesen, deren Veröffentlichung bevorsteht.
Eine Meile nordwestlich von den bewaldeten Höhen erreicht man bei Wake Robin Lodge die Vereinigung des Wildwassers und des Sonoma-Baches. Man beachte nebenbei, dass das Wildwasser ursprünglich Graham-Bach hieß und auf den früheren Landkarten so bezeichnet wurde. Aber der spätere Name ist geblieben. In Wake Robin Lodge lebte Avis Everhard später hin und wieder, um, als Agent provocateur der Eisernen Ferse verkleidet, ungefährdet ihre Pläne verfolgen zu können. Die offizielle Erlaubnis zum Bewohnen von Wake Robin Lodge findet sich noch bei den erhaltenen Berichten, und sie ist von keinem Geringeren unterzeichnet als von Wickson, dem in dem Manuskript erwähnten kleineren Oligarchen.
»Du musst dich gänzlich umgestalten«, schrieb Ernst mir. »Du musst aufhören, zu sein. Du musst eine andere Frau werden — und zwar nicht nur in deiner Kleidung, sondern in deiner Haut unter den Kleidern. Du musst dich so umgestalten, dass selbst ich dich nicht wieder erkennen würde — deine Stimme, deine Gesten, deine Gewohnheiten, deine Haltung, deinen Gang, alles.«
Ich gehorchte diesem Befehl. Stundenlang übte ich mich täglich, die alte Avis Everhard unter der Haut einer anderen Frau, die ich mein anderes Ich nennen möchte, zu begraben. Erst nach langer Übung konnte ich einen Erfolg verzeichnen. Meine Stimme übte ich fast ununterbrochen, bis sie die feste Tonhöhe meines neuen Ichs erhielt. Die automatische Anpassung an meine Rolle war unbedingt notwendig. Man musste sich hineinleben, als gelte es, sich selbst zu täuschen. Es war, als ob man eine neue Sprache, sagen wir Französisch, lernt. Zunächst ist das Französischsprechen lediglich etwas Bewusstes, ein Willensakt. Der Studierende denkt englisch, übersetzt dann ins Französische, oder er liest französisch und übersetzt es, um es verstehen zu können, ins Englische. Wenn der Schüler aber erst eine feste Grundlage hat, liest, schreibt und denkt er französisch, ohne seine Zuflucht zum Englischen nehmen zu müssen.
Und ebenso ging es mit unseren Verstellungen. Wir mussten so lange üben, bis uns die angenommenen Rollen in Fleisch und Blut übergingen und eine wachsame, strenge Willensübung erforderlich gewesen wäre, um das ursprüngliche Ich wieder anzunehmen. Natürlich war vieles zuerst nur ein ungeschickter Versuch. Wir schufen eine neue Kunst, und da mussten wir vieles entdecken. Aber wir machten doch Fortschritte; wir entwickelten uns zu Meistern in dieser Kunst und sammelten einen Schatz von Kniffen und guten Hilfsmitteln. Dieser Schatz wurde eine Art Lehrbuch, das in der Schule der Revolution Verwendung fand(1).
In dieser Zeit verschwand mein Vater. Seine Briefe, die ich bisher regelmäßig erhalten hatte, blieben aus. Er erschien nicht mehr in unserer Wohnung in der Pellstreet. Unsere Genossen suchten ihn überall. Durch unseren Geheimdienst ließen wir alle Gefängnisse des Landes durchforschen. Aber er war so vollkommen verschwunden, als hätte ihn die Erde verschlungen, und bis auf den heutigen Tag haben wir nichts entdeckt, was Aufschluss über sein Ende geben könnte(2).
Sechs einsame Monate verbrachte ich an meinem Zufluchtsort, aber wir waren nicht müßig. Unsere Organisation machte sichtlich Fortschritte, und es gab immer Berge von Arbeit, die erledigt werden musste. Ernst und die anderen Führer gaben von den Gefängnissen aus Anweisungen, was geschehen sollte, und wir draußen hatten für die Ausführung zu sorgen. Es handelte sich dabei um die Organisation der mündlichen Propaganda, die Organisation des Spionagesystems mit all seinen Verzweigungen, die Einrichtung unserer geheimen Druckereien, ferner den Ausbau unserer unterirdischen Verbindungen; letzteres bedeutete das Zusammenfügen unserer unzähligen Zufluchtsplätze und die Bildung neuer Zufluchtsorte, wo in der Kette, die das ganze Land umschloss, Glieder fehlten.
Allerdings wurde die Arbeit nie zu Ende geführt. Nach Ablauf von sechs Monaten wurde meine Einsamkeit durch die Ankunft zweier Kameradinnen unterbrochen. Es waren mutige, von leidenschaftlicher Freiheitsliebe beseelte junge Mädchen: Lora Peterson, die im Jahre 1922 verschwand, und Kate Bierce, die später Du Bois(3) heiratete und heute noch zu uns gehört, und die ihre Augen zu der Sonne von morgen erhebt, welche die neue Zeit verkündet.
Die beiden jungen Mädchen trafen ein in einem Wirrwarr von Aufregung, Gefahr und Schrecken. In der Gesellschaft auf dem Fischerboot, das sie über die San-Pablo-Bucht brachte, befand sich ein Spion, ein Spitzel der Eisernen Ferse, der mit Erfolg die Maske eines Revolutionärs angelegt hatte und tief in die Geheimnisse unserer Organisation eingedrungen war. Zweifellos war er mir auf der Spur, denn wir wussten seit langem, dass mein Verschwinden dem Geheimdienst der Oligarchie schwere Sorge machte. Glücklicherweise hatte er seine Entdeckungen, wie sich herausstellte, keinem enthüllt. Er hatte offenbar seine Meldung verzögert, weil er lieber warten wollte, bis er alles zu einem erfolgreichen Ende gebracht hatte, und zwar durch Auffindung meines Verstecks und meine Festnahme. Sein Wissen starb mit ihm. Als die jungen Mädchen am Petaluma landeten und zu Pferde gestiegen waren, verschwand er vom Boote.
Auf dem Wege nach den Sonoma-Bergen übergab Carlson den jungen Mädchen sein Pferd, ließ sie allein weiterreiten und ging selbst zu Fuß zurück. Sein Argwohn war erregt worden. Er fing den Spion und gab uns über das, was weiter geschah, aufrichtigen Bescheid.
»Ich habe ihn erledigt«, lautete Carlsons kaltblütige Schilderung. »Ich habe ihn erledigt«, wiederholte er, wobei sich seine mächtigen, arbeitsharten Hände beredt öffneten und schlössen. »Er machte gar keinen Lärm. Ich erschlug ihn, und heute abend gehe ich zurück und scharre ihn ein.«
In dieser Zeit musste ich oft staunend über meine Veränderung nachdenken. Manchmal erschien es mir unmöglich, dass ich, die ich einst ein ruhiges, friedliches Leben in einer Universitätsstadt geführt hatte, nun eine Revolutionärin geworden war, der Gewalt und Tod kein Schrecken mehr boten. Eines oder das andere war unmöglich. Das eine war Wirklichkeit, das andere Traum; aber welches? War das jetzige Leben im Höhlenversteck ein schwerer Alp? Oder war ich eine Revolutionärin, die irgendwie, irgendwo geträumt hatte, in einem früheren Dasein in Berkeley gelebt und nie ein Leben gekannt zu haben, das stärkere Reize bot als Tee und Tanz, gesellschaftliche Unterhaltung und Lesezirkel? Aber dann denke ich wieder, dass so alle fühlen mussten, die sich unter dem Banner der menschlichen Brüderlichkeit gesammelt hatten.
Oft dachte ich an Gestalten aus jenem anderen Leben, und merkwürdigerweise kamen und gingen sie hin und wieder auch in meinem neuen Leben. Bischof Morehouse zum Beispiel. Nachdem unsere geheime Organisation sich entwickelt hatte, hatten wir vergebens nach ihm geforscht. Er war von einer Anstalt in die andere verschleppt worden. Wir verfolgten seine Spur von der staatlichen Irrenanstalt in Napa bis zu der in Stockton, und von hier nach Agnews im Santa-Clara-Tal, dort aber verlor sie sich. Eine Urkunde über seinen Tod war nicht zu finden. Er musste irgendwie entkommen sein. Ich ahnte nicht, unter welch traurigen Verhältnissen ich ihn noch einmal wieder sehen sollte — ganz flüchtig in dem wilden Gemetzel der Chicagoer Kommune.
Jackson, der seinen Arm in den Sierra-Spinnereien verloren hatte, und der die Ursache gewesen war, dass ich Revolutionärin wurde, habe ich nie wieder gesehen. Aber wir alle wussten, was er tat, ehe er starb. Er schloss sich nie den Revolutionären an. Erbittert durch sein Schicksal, über das ihm zugefügte Unrecht brütend, wurde er Anarchist — kein philosophischer, sondern ein rein tierischer, von Hass und Rachgier toller Anarchist. Und er hat fruchtbare Rache geübt. Nachts, als alles schlief, schlich er sich trotz der Wächter in den Palast Pertonwaithes und sprengte ihn in Atome. Niemand entkam. Nicht einmal die Wächter. Und im Gefängnis, wo er sein Urteil erwartete, erstickte er sich unter seinen Decken.
Ganz anders als das Schicksal Jacksons war das von Doktor Hammerfield und Doktor Bailingford. Sie wandelten weiter ihre alten Bahnen und wurden entsprechend mit kirchlichen Palästen belohnt, in denen sie heute noch in Frieden mit der Welt wohnen. Beide sind Verteidiger der Oligarchie, beide sind sehr dick geworden. »Doktor Hammerfield«, sagte Ernst einmal, »hat seine Metaphysik mit Erfolg so gedreht, als ob Gott die Eiserne Ferse gutheiße; er betet auch die Schönheit an und verwandelt das von Haeckel beschriebene, gestaltlose Wirbeltier in ein unsichtbares Gespenst. Der Unterschied zwischen ihm und Doktor Ballingford ist, dass der letzten Endes den Gott der Oligarchen noch etwas gestaltloser gemacht und mit weniger Rückenwirbeln versehen hat.«
Eine große Überraschung bereitete uns allen Peter Donnelly, der elende Werkmeister der Sierra-Spinnereien, den ich aus Anlass meiner Untersuchung des Falles Jackson kennen lernte. Im Jahre 1918 wohnte ich einer Versammlung der »Frisko-Roten« bei. Von allen unseren Kampfgruppen war dies die furchtbarste, wildeste und erbarmungsloseste. Eigentlich war sie kein Zweig unserer Organisation. Ihre Mitglieder waren Fanatiker, Wahnsinnige. Solchen Geist wagten wir nicht zu ermutigen. Wenn sie aber auch nicht zu uns gehörten, so unterhielten wir doch freundschaftliche Beziehungen zu ihnen. Es war eine Angelegenheit von Leben und Tod, die mich damals zu ihnen führte. Unter den vielen Männern war ich allein nicht maskiert. Nachdem die Angelegenheit, die mich hingeführt hatte, erledigt war, wurde ich von einem der Mitglieder fortbegleitet. In einem dunklen Gange zündete er ein Streichholz an, hielt es sich vor das Gesicht und schob seine Maske zurück. Ich sah einen Augenblick in die von Leidenschaft verzerrten Züge Peter Donnellys. Dann erlosch das Streichholz.
»Ich wollte nur, dass Sie mich erkennen sollten«, sagte er in der Dunkelheit. »Erinnern Sie sich noch an Dollas, den Generaldirektor? «
Ich nickte. Ich erinnerte mich noch gut an den fuchsäugigen Leiter der Sierra-Spinnereien.
»Den hab' ich zuerst gekillt«, sagte Donnelly stolz, »gleich nach meinem Eintritt bei den Roten.«
»Wie kommt es, dass Sie hier sind?« fragte ich. »Ihre Frau und Kinder?«
»Tot«, antwortete er. »Das ist der Grund. Nein«, fuhr er hastig fort, »es ist nicht Rache für sie. Sie starben ruhig in ihren Betten — Krankheit, wissen Sie, eines nach dem andern. Solange sie lebten, banden sie mir die Hände. Aber jetzt, da sie dahin sind, suche ich Rache für meine verdorrte Manneskraft. Einst war ich Peter Donnelly, der elende Werkmeister. Heute nacht aber bin ich Nummer siebenundzwanzig von den >Frisko-Roten<. Kommen Sie, ich will Sie jetzt hinausführen.«
Später sollte ich mehr von ihm hören. Er hatte auf seine Art die Wahrheit gesprochen, als er sagte, dass alle tot seien. Aber einer lebte, Timotheus, und er war für den Vater tot, weil er im Söldnerheer der Eisernen Ferse diente(4) Jedes Mitglied der »Frisko-Roten« war verpflichtet, zwölf Todesurteile jährlich zu vollziehen. Auf Misslingen stand Todesstrafe Ein Mitglied, das die Zahl nicht erreichte, beging Selbstmord. Die Vollstreckungen erfolgten nicht zufällig. Diese Gruppe Wahnsinniger kam häufig zusammen und fällte dann in Bausch und Bogen Urteile über missliebige Mitglieder und Diener der Oligarchie. Die Vollstreckung wurde durch das Los zugeteilt. Tatsächlich war der Grund, dass ich in jener Nacht hinging, dass ich einem solchen Gericht beiwohnen wollte. Einer unserer Genossen, der sich jahrelang im örtlichen Geheimdienst der Eisernen Ferse bewährt hatte, war dem Bann der »Frisko-Roten« verfallen und verurteilt worden. Natürlich war er nicht anwesend, und natürlich wussten seine Richter nicht, dass er einer der Unseren war. Meine Aufgabe war es, seine Identität und Treue zu bezeugen. Man wundert sich vielleicht, dass wir überhaupt von der ganzen Angelegenheit Kenntnis erhielten. Die Erklärung ist einfach. Einer unserer Geheimagenten war Mitglied der »Frisko-Roten«. Wir waren genötigt, Freund wie Feind im Auge zu behalten. Und diese Gruppe Wahnsinniger war uns bedeutend genug, um sie zu überwachen.
Aber zurück zu Peter Donnelly und seinem Sohn. Alles ging gut, bis Donnelly im folgenden Jahre auf der Liste der ihm zugeteilten Hinrichtungen den Namen Timotheus Donnelly fand. Da machte der Familiensinn, den er in so hohem Maße besaß, seine Rechte geltend. Um seinen Sohn zu retten, verriet er seine Genossen. Das gelang ihm nur zum Teil, aber ein Dutzend von den »Frisko-Roten« wurde hingerichtet und die Gruppe fast vernichtet. Zur Vergeltung verurteilten die Überlebenden Donnelly zum Tode, den er durch seinen Verrat verdient hatte.
Auch Thimotheus Donnelly lebte nicht mehr lange. Die »Frisko-Roten« verpflichteten sich, ihn hinzurichten. Die Oligarchie strengte alles an, um ihn zu retten. Er wurde von einem Teil des Landes in den anderen gebracht. Drei »Frisko-Rote« büßten bei dem fruchtlosen Versuch, ihn zu erwischen, ihr Leben ein. Die Gruppe bestand nur aus Männern. Schließlich nahmen sie ihre Zuflucht zu einer Frau, einer unserer Genossinnen, und zwar keiner anderen als Anna Roylston. Wir versagten ihr allerdings die Erlaubnis, aber sie hatte immer ihren eigenen Willen und hielt keine Disziplin. Sie war ein Genie und ein liebenswürdiges Wesen, aber Disziplin konnten wir ihr nie beibringen. Sie bildete eine Klasse für sich und kann nicht mit den Durchschnittsrevolutionären verglichen werden.
Trotz unserm Verbot nahm sie die Tat in Angriff. Anna Roylston war ein bestrickendes Weib. Sie brauchte einem Mann nur zu winken. Sie brach unzähligen unserer jungen Männer das Herz, und unzählige andere Männer bezauberte sie und führte sie auf diese Weise unserer Organisation zu. Aber sie weigerte sich standhaft, zu heiraten. Sie liebte Kinder zärtlich, meinte aber, dass ein eigenes Kind sie der Sache, der sie ihr Leben geweiht, entziehen würde.
Für Anna Roylston war es ein kleines, Timotheus Donnelly zu gewinnen. Ihr Gewissen bedrängte sie nicht, denn gerade damals fand das Massaker in Nashville statt, bei dem die Söldner unter dem Befehl Donnellys buchstäblich achthundert Weber jener Stadt ermordeten. Aber sie tötete Donnelly nicht. Sie übergab ihn als Gefangenen den »Frisko-Roten«. Das geschah erst vor einem Jahr, und jetzt hat man ihr einen neuen Namen gegeben. Überall nennen die Revolutionäre sie die »Rote Jungfrau«(5).
Zwei bekannte Persönlichkeiten, mit denen ich später zusammentraf, waren Oberst Ingram und Oberst Van Gilbert. Oberst Ingram stieg in der Oligarchie zu hohen Ehren und Würden auf. Er wurde Botschafter in Deutschland. Das Proletariat beider Länder hasste ihn aufrichtig. Ich traf ihn in Berlin, wo ich als beglaubigte internationale Spionin der Eisernen Ferse von ihm empfangen wurde und ihm manche Hilfe leistete. Nebenbei erwähne ich, dass ich in meiner Doppelrolle der Revolution einige wichtige Dienste leistete.
Oberst Van Gilbert wurde unter dem Namen der »Knurrer« bekannt. Am meisten trat er hervor, als er nach der Chicagoer Kommune das neue Gesetzbuch zusammenstellte. Schon vorher war wegen seiner teuflischen Bosheit als Untersuchungsrichter das Urteil über ihn gesprochen worden. Ich gehörte zu denen, die ihn verhörten und das Urteil fällten. Anna Roylston vollstreckte es.
Und noch eine Gestalt aus alten Zeiten steigt aus dem Dunkel hervor - der Verteidiger Jacksons. Am allerletzten hätte ich gedacht, dass ich diesen Mann, Joseph Hurd, je wieder sehen würde. Es war eine seltsame Begegnung. Zwei Jahre nach der Chicagoer Kommune kamen Ernst und ich eines Nachts spät an unserem Zufluchtsort in Benton Harbor an. Der lag in Michigan, über dem See von Chikago. Als wir eintrafen, war gerade das Verhör eines Mannes abgeschlossen. Das Todesurteil war gefällt, und der Spion sollte abgeführt werden. In diesem Augenblick kamen wir dazu. Da riss sich der Unglückliche von seinen Häschern los und stürzte sich mir zu Füßen. Seine Arme umpressten meine Knie wie ein Schraubstock, und er schrie rasend um Erbarmen . Als er mir das von Angst verzerrte Gesicht zuwandte, erkannte ich Joseph Hurd. Keiner von allen Schrecken, die ich je erlebt, hat so furchtbar auf mich gewirkt wie das Flehen dieses schreienden Geschöpfes um sein Leben. Er war toll. Es war zum Jammern. Er ließ mich nicht los, obgleich ein Dutzend Genossen an ihm zerrten. Als er schließlich schreiend fortgeschleppt wurde, sank ich ohnmächtig nieder. Es ist viel leichter, einen tapferen Mann sterben zu sehen, als einen Feigling um sein Leben winseln zu hören(6).
(1) Verkleidung wurde in dieser Zeit zu einer wirklichen Kunst. Die Revolutionäre unterhielten in all ihren Zufluchtsorten Schauspielschulen. Sie verachteten alles Zubehör wie Perücken und Barte, falsche Augenbrauen und ähnliche Hilfsmittel der Bühnendarsteller. Das Spiel der Revolutionäre war ein Spiel auf Leben und Tod, und derartige Hilfsmittel wären Fallen gewesen. Die Verkleidung musste grundlegend, innerlich, ein wesentlicher Bestandteil des eigenen Wesens sein, zur zweiten Natur werden. Von der Roten Jungfrau wird berichtet, dass sie eine der Geschicktesten in dieser Kunst gewesen sei. Diesem Umstand muss man ihre lange, erfolgreiche Laufbahn zuschreiben.
(2) Das Verschwinden von Menschen war einer der Schrecken jener Zeit. In Liedern und Erzählungen finden wir es immer wieder. Es war eine unvermeidliche Begleiterscheinung des unterirdischen Kampfes, der in diesen drei Jahrhunderten wütete, und kam beinahe ebenso häufig in der Oligarchie und den Arbeiterverbänden, wie in den Reihen der Revolutionäre vor. Ohne Warnung, spurlos verschwanden Männer, Frauen, ja selbst Kinder und wurden nicht mehr gesehen. Ihr Ende blieb in ein ewiges Dunkel gehüllt.
(3) Du Bois, der jetzige Bibliothekar von Ardis, stammt in gerader Linie von diesem revolutionären Paare ab.
(4) Außer den Arbeiterkasten entstand noch eine Kaste, die militärische. Ein stehendes Heer von Berufssoldaten wurde gegründet und von Mitgliedern der Oligarchie befehligt. Es trat an die Stelle der Miliz, die sich unter dem neuen Regime als unverwendbar erwiesen hatte. Außer dem regulären Geheimdienst der Eisernen Ferse wurde ein Geheimdienst der Söldner eingerichtet, die ein Bindeglied zwischen Polizei und Militär bildeten.
(5) Erst nach Unterdrückung der zweiten Revolution blühten die »Frisko-Roten« wieder auf. Zwei Generationen bestand die Gruppe. Dann gelang es einem Spitzel der Eisernen Ferse, sich bei ihr einzuschleichen, all ihre Geheimnisse kennen zu lernen und ihre völlige Vernichtung zu bewerkstelligen. Das geschah im Jahre 2002. Die Mitglieder wurden einzeln in Zwischenräumen von je drei Wochen hingerichtet und ihre Leichen in den Arbeitervierteln in San Franzisko ausgestellt.
(6) Der Zufluchtsort in Benton Harbor war eine Katakombe, deren Eingang durch eine Quelle bezeichnet wurde. Er ist heute noch gut erhalten, und der wissbegierige Besucher gelangt durch ein Labyrinth von Gängen in die Versammlungshalle, wo sich zweifellos die von Avis Everhard beschriebene Szene abspielte. Dahinter befinden sich die Gefängniszellen, in denen die Gefangenen eingesperrt wurden, und das kleine Zimmer, in dem die Hinrichtungen stattfanden. Weiter abwärts liegt ein Kirchhof — lange, gewundene, in den festen Fels gehauene Galerien mit Nischen zu beiden Seiten, in denen, Reihe an Reihe, Revolutionäre liegen, wie sie vor langen Jahren von ihren Genossen gebettet wurden.
Aber bei der Erinnerung an mein altes Leben bin ich meiner Erzählung in das neue Leben vorausgeeilt. Die allgemeine Flucht aus den Gefängnissen erfolgte erst im Laufe des Jahres 1915. Es war ein schwieriges Unternehmen, gelang aber ohne Hindernis und ermutigte uns als eine beachtenswerte Leistung in unserer Arbeit. Aus unzähligen Gefängnissen , militärischen Strafanstalten und Festungen von Kuba bis Kalifornien befreiten wir in einer einzig Nacht einundfünfzig oder zweiundfünfzig Abgeordnete und über dreihundert andere Führer. Und in keinem Fall hatten wir einen Misserfolg zu verzeichnen. Die Befreiten entkamen nicht nur, sondern erreichten auch alle die für sie bestimmten Zufluchtsstätten. Der einzige Abgeordnete, den wir nicht bekamen, war Arthur Simpson, der bereits in Cabanas nach grausamer Folter gestorben war.
Die folgenden achtzehn Monate waren vielleicht die glücklichsten, die ich mit Ernst verlebte. In dieser Zeit waren wir stets zusammen. Später, als wir wieder in die Welt zurückkehrten, mussten wir uns oft trennen. Nicht glühender habe ich je auf die Flamme der kommenden Revolution gewartet, als in jener Nacht auf Ernst. Ich hatte ihn so lange nicht gesehen, und der Gedanke an ein mögliches Hindernis oder eine falsche Berechnung in unseren Plänen, wodurch er in seinem Gefängnis zurückgehalten werden konnte, brachte mich fast von Sinnen. Die Stunden schlichen wie Jahrhunderte. Ich war ganz allein. Biedenbach und drei junge Leute, die in unserem Versteck gewohnt hatten, waren, schwer bewaffnet und auf alles vorbereitet, über die Berge gezogen. In dieser Nacht waren, glaube ich, keine Genossen in irgendeiner Zufluchtsstätte des ganzen Landes.
Als der erste blasse Morgenschimmer am Himmel erschien, hörte ich das Signal von oben und gab die Antwort. In der Dunkelheit hätte ich fast Biedenbach, der zuerst herunterkam, umarmt; im nächsten Augenblick aber lag ich in Ernsts Armen. Meine Verwandlung war so vollkommen, dass ich, wie ich in diesem Augenblick merkte, all meine Willenskraft aufbieten musste, um die alte Avis Everhard mit ihrem alten Benehmen, ihrem alten Lächeln, ihrer alten Redeweise und Stimme zu sein. Nur mit größter Anstrengung konnte ich meine frühere Identität wieder herstellen und ich konnte nicht einen Augenblick darin verharren, so unwillkürlich und gebieterisch war die neue, von mir geschaffene Persönlichkeit geworden. In der kleinen Hütte sah ich Ernsts Gesicht bei Licht. Mit Ausnahme der Gefängnisblässe war keine Veränderung an ihm wahrzunehmen - wenigstens keine bedeutende. Er war derselbe liebende Gatte und Held. Und doch zeigte sein Gesicht gewiss asketische Linien. Aber das stand ihm gut, denn es schier dem aufrührerischen Übermaß von Leben, das seine Züge stets geprägt hatte, eine gewisse geläuterte Feinheit zu verleihen. Er war ein wenig ernster als früher, aber das Lächeln spielte immer noch in seinen Augen. Er wog zwanzig Pfund weniger, befand sich aber in glänzender körperlicher Verfassung. Während dieser ganzen Zeit seiner Gefangenschaft hatte er seine körperlichen Übungen fortgesetzt, und seine Muskeln waren wie Eisen. Er war tatsächlich besser in Form als zu der Zeit, da er ins Gefängnis kam. Es vergingen Stunden, ehe er sich niederlegte. Ich aber fand keinen Schlaf. Ich war zu glücklich und hatte auch nicht die Anstrengungen der Flucht aus dem Gefängnis und des Rittes hinter mir.
Während Ernst schlief, zog ich mich um, ordnete mein Haar anders und wurde wieder mein neues, unwillkürliches Ich. Als Biedenbach und die anderen Genossen dann aufwachten, ersann ich mit ihrer Hilfe eine kleine Verschwörung. Alles war in Ordnung, und wir befanden uns in dem Teil der Höhle, der gleichzeitig als Küche und Speisezimmer diente, als Ernst die Tür öffnete und eintrat. In diesem Augenblick redete Biedenbach mich mit Mary an, und ich drehte mich um und antwortete ihm. Dann blickte ich mit neugieriger Teilnahme Ernst an, wie sie etwa ein junger Genosse zeigen mag, wenn er zum ersten Mal einen anerkannten Helden der Revolution sieht. Aber Ernsts Blick überging mich und glitt forschend durch den Raum. Im nächsten Augenblick wurde ich ihm als Mary Holmes vorgestellt.
Um die Täuschung vollkommen zu machen, war ein Teller zuviel auf den Tisch gestellt, und als wir uns niedersetzten, blieb ein Stuhl leer. Ich hätte vor Freude aufschreien können, als ich Ernsts wachsende Unruhe und Ungeduld bemerkte. Schließlich hielt er nicht mehr an sich.
»Wo ist meine Frau?« fragte er barsch.
»Sie schläft noch«, antwortete ich.
Dies war der kritische Augenblick. Aber meine Stimme war eine fremde geworden, und er erkannte sie nicht. Wir begannen zu essen. Ich sprach viel und mit Begeisterung, wie der Verehrer eines Helden sprechen mag, und ein Held war er unverkennbar. Ich stieg bis zum höchsten Gipfel der Begeisterung und Verehrung und schlang, ehe er meine Absicht erraten konnte, meine Arme um seinen Hals und küsste ihn auf den Mund. Er hielt mich auf Armeslänge von sich ab und blickte sich ärgerlich und verlegen um. Die vier Männer brachen in ein schallendes Gelächter aus, und dann wurden Erklärungen gegeben. Zuerst war er ungläubig. Er forschte mich scharf aus und war halb überzeugt, dann wieder schüttelte er den Kopf und wollte nicht glauben. Und erst, als ich die alte Avis Everhard wurde und ihm Dinge ins Ohr flüsterte, die nur wir beide wissen konnten, nahm er mich als seine wirkliche, wahre Frau hin.
Später am Tage schloss er mich in die Arme, zeigte große Verlegenheit und sprach von polygamen Gefühlen.
»Du bist meine Avis«, sagte er. »Und doch bist du eine andere. Du verkörperst zwei Frauen und deshalb bist du mein Harem. Nun, wir sind jedenfalls sicher, dass es mir, wenn die Vereinigten Staaten uns zu heiß werden, nicht schwer fallen wird, das Bürgerrecht in der Türkei(1) zu erwerben .«
Das Leben in unserem Zufluchtsort wurde für mich sehr glücklich. Gewiss, wir arbeiteten schwer und lange, aber wir arbeiteten gemeinsam. Wir hatten einander achtzehn köstliche Monate, und wir waren nicht allein, denn stets gab es ein Kommen und Gehen von Führern und Genossen -fremde Stimmen aus der Unterwelt der Intrigen und der Revolution, die uns Neuigkeiten von den Plänen und Kämpfen auf der ganzen Schlachtlinie erzählten. Und es gab viel Scherz und Freude. Wir waren nicht allein glühende Verschwörer. Wir arbeiteten schwer und erduldeten viel, aber bei aller Arbeit und bei Spiel und Gegenspiel von Leben und Tod fanden wir Zeit zu Lachen und Liebe. Es waren Künstler, Gelehrte, Studenten, Musiker und Dichter unter uns; und in dieser Höhle herrschte eine feinere und höhere Kultur als in den Palästen und Wunderstädten der Oligarchen. Tatsächlich halfen ja viele unsere Genossen bei der Ausschmückung eben dieser Wunderstädte(2).
Auch waren wir nicht auf das Versteck selbst angewiesen. Nachts ritten wir oft zur Übung über die Berge. Und zwar auf Wicksons Pferden. Wenn er gewusst hätte, wie viele Revolutionäre seine Pferde schon getragen hatten! Wir machten sogar Ausflüge nach entlegenen, uns bekannten Orten, wo wir den ganzen Tag blieben, brachen vor Tag auf und kehrten abends nach Einbruch der Dunkelheit zurück. Wickson lieferte uns Sahne und Butter(3); und Ernst schoss obendrein Wicksons Wachteln und Hasen und gelegentlich seine jungen Böcke.
Wirklich, es war ein sicherer Zufluchtsort. Ich habe gesagt, dass er nur ein einziges Mal entdeckt wurde, und das zwingt mich, das Geheimnis vom Verschwinden des jungen Wickson aufzuklären. Jetzt, da er tot ist, kann ich frei darüber sprechen. In eine von oben verborgene Ecke der Höhle schien einige Stunden lang die Sonne herein. Hierhin hatten wir viele Ladungen Sand aus dem Flussbett getragen, so dass es, trocken und warm, ein angenehmes, sonniges Plätzchen war. Eines Nachmittags saß ich hier schlaftrunken, halb eingenickt über einem Buch von Mendenhall(4). Ich fühlte mich so behaglich und ruhig, dass nicht einmal seine flammenden Verse mich erregten.
Ich wurde aufgeschreckt durch einen Klumpen Erde, der mir vor die Füße fiel. Dann hörte ich ein Geräusch von oben, und im nächsten Augenblick stand ein junger Mann vor mir, der von der Wand herabgesprungen war. Es war Philipp Wickson, den ich freilich damals noch nicht kannte. Er sah mich kühl und überrascht an.
»Nanu«, sagte er; im nächsten Augenblick aber nahm er die Mütze ab und sagte: »Ich bitte um Verzeihung. Ich hatte nicht gedacht, jemand hier zu finden.«
Ich war nicht so kühl. Ich kannte noch nicht die Kunst, mich in verzweifelten Augenblicken der Situation anzupassen. Später, als ich internationale Spionin war, hätte ich mich bei ähnlicher Gelegenheit weniger ungeschickt benommen, dessen bin ich sicher. Wie dem auch war, ich sprang hastig auf und stieß den Gefahrruf aus. »Warum tun Sie das?« fragte er, indem er mich scharf ansah. Er hatte ganz bestimmt niemand in der Höhle vermutet, als er herabstieg. Das stellte ich zu meiner Erleichterung fest.
»Zu welchem Zweck meinen Sie wohl?« fragte ich meinerseits. Ich war damals wirklich ungeschickt.
»Ich weiß es nicht«, antwortete er, den Kopf schüttelnd. »Es sei denn, dass Sie Freunde in der Nähe hätten. Aber wie dem auch sei, so müssen Sie mir schon einige Erklärungen geben. Die Geschichte hier gefällt mir nicht. Sie haben widerrechtlich fremdes Eigentum betreten. Dieser Grund und Boden gehört meinem Vater, und — «
Aber in diesem Augenblick sagte Biedenbach, der stets höflich und liebenswürdig war, leise hinter ihm:
»Hände hoch, junger Herr!«
Der junge Wickson hob die Hände und drehte sich zu Biedenbach um, der ein Repetiergewehr im Arme hielt. Wickson ließ sich nicht aus der Fassung bringen. »Oho«, sagte er, »ein Nest von Revolutionären — und ein ganzes Hornissennest, wie mir scheint. Nun, das wird nicht lange dauern, das kann ich Ihnen sagen.«
»Vielleicht bleiben Sie lange genug hier, um sich diese Behauptung noch einmal zu überlegen«, sagte Biedenbach ruhig. »Inzwischen muss ich Sie bitten, einzutreten.«
»Einzutreten?« Der junge Mann war wirklich erstaunt. »Haben Sie eine Katakombe hier? Ich habe von solchen Dingen gehört.«
»Kommen Sie«, erwiderte Biedenbach mit seiner prachtvollen Betonung.
»Aber das ist gesetzwidrig«, protestierte der andere. »Ja, nach Ihren Gesetzen«, erwiderte der Terrorist mit Nachdruck. »Aber glauben Sie mir: Nach unserem Gesetz ist es erlaubt. Sie müssen sich schon an die Tatsache gewöhnen, dass Sie sich hier in einer anderen Welt befinden als in der von Unterdrückung und Brutalität, in der Sie bisher gelebt haben.«
»Aber dort hat man Gelegenheit, die Sache zu erörtern«, murmelte Wickson.
»Dann bleiben Sie bei uns und erörtern Sie sie.«
Der junge Mann lachte und folgte seinem Überwinder ins Haus. Er wurde in den inneren Höhlenraum geführt, wir ließen einen der jungen Genossen als Wächter zurück, während wir m der Küche die Angelegenheit besprachen.
Biedenbach war mit Tränen in den Augen dafür, dass Wickson sterben müsse, und er seufzte erleichtert auf als wir ihn und seinen schrecklichen Vorschlag überstimmten Andererseits aber durften wir nicht daran denken den jungen Oligarchen entwischen zu lassen. »Ich will euch sagen, was wir tun«, sagte Ernst. »Wir behalten ihn hier und erziehen ihn uns.«
»Dann beanspruche ich für mich das Vorrecht, ihn in die Rechtswissenschaft einzuführen«, rief Biedenbach. Und so wurde lachend die Entscheidung getroffen. Wir wollten Philipp Wickson als Gefangenen behalten und ihn zu unserer Ethik und Soziologie erziehen. Zunächst aber gab es andere Arbeit. Alle Spuren des jungen Oligarchen mussten verwischt werden. Die Aufgabe, die Fährte, die Wickson beim Herabklettern an der bröckelnden Wand hinterlassen hatte, auszulöschen, fiel Biedenbach zu. An einem Seil hängend, arbeitete er den ganzen Tag, bis nichts mehr zu entdecken war. Vom Rande der Höhle bis zur Schlucht wurden ebenfalls alle Spuren verwischt. Und in der Dämmerung kam Carlson und verlangte Wicksons Schuhe.
Der junge Mann hatte keine Lust, sie herzugeben, und schickte sich sogar an, für sie zu kämpfen, bis er die Kraft des Hufschmiedes in Ernsts Händen spürte. Carlson erzählte uns später von verschiedenen Blasen und schmerzhaften Hautverlusten, weil die Schuhe ihm zu eng gewesen waren, aber er verrichtete gute Arbeit in ihnen. Am Ende der Höhle, wo die Fußspuren aufhörten, zog Charson die Schuhe an und ging in ihnen nach links weiter. Er marschierte meilenweit um Hügel herum, über Bergrücken und durch Schluchten und ließ die Spur endlich im fließenden Wasser eines Flussbettes enden. Hier zog er die Schuhe aus, und nachdem er, um seine eigene Fährte zu verbergen, eine Strecke weit durch das Wasser gegangen war, zog er schließlich seine eigenen Schuhe wieder an. Eine Woche später bekam Wickson seine Schuhe wieder.
In dieser Nacht waren die Hunde los, und in unserem Versteck gab es wenig Schlaf. Am nächsten Tage kamen hin und wieder die bellenden Hunde in die Schlucht herab, nahmen aber die Fährte auf, die Carlson für sie gemacht hatte, und verloren sich in den anderen Schluchten, oben in den Bergen. Die ganze Zeit hindurch warteten unsere Leute im Versteck mit Waffen in den Händen — Repetierrevolvern und Gewehren, nicht zu reden von dem halben Dutzend Höllenmaschinen, die Biedenbach angefertigt hatte. Wäre eine Rettungsabteilung in unser Versteck gekommen, so hätte eine mächtige Überraschung ihrer gewartet.
Ich habe hier den wahren Bericht über das Verschwinden Philipp Wicksons, des einstigen Oligarchen und späteren Revolutionärs, gegeben. Wir haben ihn schließlich bekehrt. Sein Geist war frisch und bildsam, und von Natur war er moralisch. Mehrere Monate später ritten wir mit ihm auf den Pferden seines Vaters über die Sonoma-Berge nach Petaluma und brachten ihn auf eine kleine Fischerbarkasse. Und in bequemen Etappen schmuggelten wir ihn auf unseren geheimen Verbindungswegen nach dem Carmelversteck.
Dort blieb er acht Monate, und dann wollte er uns nicht mehr verlassen, und zwar aus zwei Gründen: der eine war, dass er sich in Anna Roylston verliebt hatte, der andere, dass er wirklich einer der Unseren geworden war. Erst als er sich von der Hoffnungslosigkeit seiner Liebe überzeugt hatte, willigte er in unsern Wunsch ein, zu seinem Vater zurückzukehren. Nach außen hin bis zu seinem Tode Oligarch, war er in Wirklichkeit einer unserer wertvollsten Agenten. Immer wieder misslang der Eisernen Ferse die Ausführung ihrer Pläne und Operationen gegen uns. Hätten sie nur die Anzahl ihrer Mitglieder, die unsere Agenten waren, gekannt, so würden sie alles verstanden haben. Der junge Wickson schwankte nie in seiner Treue zur Sache. Und schließlich starb er aus Pflichtgefühl. In dem großen Sturm des Jahres 1927 zog er sich in einer Versammlung unserer Führer eine Lungenentzündung zu, an der er starb(5).
(1) Damals gab es in der Türkei noch Vielweiberei.
(2) Dies ist keine Prahlerei von Avis Everhard. Die Blüte der künstlerischen und intellektuellen Welt bestand aus Revolutionären. Mit Ausnahme einiger weniger Musiker und Sänger und einiger weniger Oligarchen waren alle großen Erfinder dieser Zeit, soweit ihr Name auf uns überkommen ist, Revolutionäre.
(3) Noch zu jener Zeit wurden Sahne und Butter in roher Weise aus Kuhmilch hergestellt. Die chemische Herstellung der Nahrungsmittel hatte noch nicht begonnen.
(4) In aller erhaltenen Literatur dieser Zeit werden immer die Gedichte Rudolph Mendenhalls erwähnt. Von seinen Genossen wurde er die »Ramme« genannt. Unzweifelhaft war er ein großes Genie; aber außer gelegentlich auftauchenden Fragmenten seiner Verse, die in den Schriften anderer Autoren zitiert werden, ist nichts von ihm erhalten. Er wurde im Jahre 1928 von der Eisernen Ferse hingerichtet.
(5) Der Fall dieses jungen Mannes war nicht ungewöhnlich. Viele junge Leute der Oligarchie, von eigenem Rechtssinn getrieben oder von dem Feuer der Revolution entflammt, widmeten dieser ihr Leben. Ähnlich machten es die Söhne des russischen Adels in der früheren Revolution ihres Landes.
Während der langen Zeit unseres Aufenthalts in der Höhle blieben wir in enger Fühlung mit allem, was in der Welt draußen vorging, und lernten die Stärke der Oligarchie, mit der wir im Kriege lagen, gründlich kennen. Nach den ersten Schwankungen hatten sich die neuen Einrichtungen gefestigt und wiesen jetzt alle Anzeichen der Dauerhaftigkeit auf. Der Oligarchie war es gelungen, eine Regierungsmaschine zu ersinnen, die, so verwickelt und vielseitig sie auch war, pünktlich und gut arbeitete trotz all unsern Bemühungen, sie zu hemmen oder in Unordnung zu bringen.
Das überraschte viele Revolutionäre. Sie hatten es nicht für möglich gehalten. Nichtsdestoweniger nahm die Arbeit im Lande ihren Fortgang. Die Männer arbeiteten in den Bergwerken und auf den Feldern - vollkommen wie Sklaven. In den lebensnotwendigen Industrien ging alles gut. Die Mitglieder der großen Arbeiterkasten waren zufrieden und arbeiteten freudig. Zum ersten Mal in ihrem Leben hatten sie Arbeitsfrieden kennen gelernt. Sie wurden nicht mehr durch schlechte Zeiten, Streik und Aussperrung beunruhigt. Sie wohnten in behaglichen Häusern und in herrlichen eigenen Städten - herrlich im Vergleich mit den Gassen und schmutzigen Vierteln, die sie früher bewohnt hatten. Sie hatten besseres Essen, kürzere Arbeitszeit, mehr Erholungstage und verschiedenartigere Interessen und Vergnügungen. Aber um ihre weniger glücklichen Brüder und Schwestern, die nicht begünstigten Arbeiter, das gepeitschte Volk des Abgrunds, machten sie sich keine Sorgen. Ein Zeitalter der Selbstsucht begann für die Menschheit. Und doch ist dies nicht ganz richtig. Die Arbeiterkasten wurden von unseren Agenten durchlöchert — von Männern, deren Augen jenseits der Not die strahlende Gestalt der Freiheit und Brüderlichkeit erblickten.
Eine andere große Institution, die feste Form angenommen hatte und glatt arbeitete, war die der Söldner. Dieser Truppenkörper, der sich aus der regulären Armee entwickelte, besaß eine Stärke von einer Million Mann, ohne die Kolonialstreitkräfte. Die Söldner bildeten eine besondere Kaste. Sie wohnten in eigenen Städten, die unter geschickter Selbstverwaltung standen, und genossen mancherlei Vorteile. Von ihnen wurde ein großer Teil des verbleibenden Überschusses verbraucht. Sie verloren jede Berührung und Sympathie mit dem übrigen Volke und entwickelten in Wirklichkeit eine eigene Klassenmoral und ein eigenes Klassenbewusstsein. Dennoch waren Tausende unserer Agenten unter ihnen tätig(1).
Die Oligarchen selbst machten eine bemerkenswerte und, wie man gestehen muss, unerwartete Entwicklung durch. Als Klasse waren sie gut diszipliniert. Jedes Mitglied hatte seine Aufgabe in der Welt und war gezwungen, diese Aufgabe durchzuführen. Es gab keine Müßiggänger mehr unter den jungen Leuten. Man brauchte ihre Kraft zur Stärkung der Oligarchie. Sie dienten als Truppenführer, als Leutnants und Hauptleute der Industrie. Sie wählten sich wissenschaftliche Berufe, und viele von ihnen wurden bedeutende Ingenieure. Sie traten in unzählige Verwaltungszweige ein, taten Dienst in den Kolonien, und zehn von tausend wandten sich den verschiedenen Geheimdiensten zu. Sie waren, möchte ich sagen, beim Unterrichtswesen, bei der Kirche, der Kunst, der Wissenschaft, der Literatur in die Lehre gegangen, und auf diesen Gebieten dienten sie der wichtigen Aufgabe, das Denken der Nation in die Richtung der ewigen Dauer der Oligarchie zu lenken.
Man lehrte sie, und später lehrten sie es wieder, dass das, was sie taten, recht sei. Dieser aristokratische Gedanke wurde ihnen von Kindheit an so eingehämmert, dass er ihnen in Fleisch und Blut überging. Sie betrachteten sich als Bändiger wilder Tiere, als Beherrscher von Bestien. Unter ihren Füßen grollte der unterirdische Donner der Revolution. Gewaltsamer Tod schlich ständig unter ihnen einher; Bomben, Messer und Kugeln bedrohten sie als die Krallen der brüllenden Bestie des Abgrunds, die sie bändigen mussten, wenn die Menschheit weiter bestehen sollte. Sie waren die Retter der Menschheit und betrachteten sich selbst als die, welche heldenhaft und opferfreudig für das höchste Gut arbeiteten.
Sie, als Klasse, glaubten allein die Zivilisation aufrechtzuerhalten. Ihr Glaube war, dass, wenn sie je schwach werden sollten, die große Bestie sie und alles Schöne und Herrliche, alle Freude und alles Gute in ihrem geifernden Rachen verschlingen würde. Ohne sie würde Anarchie herrschen und die Menschheit in die dunkle Nacht sinken, aus der sie sich so mühsam erhoben hatte. Fortwährend wurde das Schreckensbild der Anarchie den Kindern vor Augen gehalten, und sie wiederum zeigten, von der in ihnen gepflegten Angst besessen, ihren Kindern nun ebenfalls das Schreckensbild der Anarchie. Das war die Bestie, die zerstampft werden musste, und die höchste Pflicht der Aristokratie war, sie zu zerstampfen. Kurz, sie glaubten, allein in ununterbrochener Arbeit und Opferfreudigkeit zwischen der schwachen Menschheit und der alles verschlingenden Bestie zu stehen; und sie glaubten es fest.
Ich kann nicht Gewicht genug auf diese hohe moralische Rechtlichkeit der ganzen oligarchischen Klasse legen. Sie war die Kraft der Eisernen Ferse, und zu viele Genossen waren zu schwerfällig oder zu unwillig, als dass sie den richtigen Schluss daraus gezogen hätten. Viele von ihnen schrieben die Kraft der Eisernen Ferse ihrem System von Lohn und Strafe zu. Das ist falsch. Himmel und Hölle mögen die Grundfaktoren für den Eifer eines Religionsfanatikers sein; für die große Mehrheit der Gläubigen aber sind Himmel und Hölle unlösbar mit Recht und Unrecht verbunden. Die Liebe zum Recht, das Verlangen nach Recht, die Unglückseligkeit über alles, was nicht Recht ist - kurz, das moralische Leben ist der Grundfaktor der Religion. Und das war es auch bei der Oligarchie. Gefängnis, Verbannung und Erniedrigung, Ehren, Paläste und Wunderstädte, das alles sind Zufälligkeiten. Die große treibende Kraft der Oligarchie ist der Glaube, dass sie das Rechte tue; ungeachtet der Ausnahmen und ungeachtet der Unterdrückung und Ungerechtigkeit, die die Eiserne Ferse ausübte. Alles ist erlaubt, und der springende Punkt ist, dass die Kraft der Oligarchie heute in ihrer Überzeugung von ihrem eigenen Recht liegt(2).
Im übrigen hat die Kraft der Revolution in diesen zwanzig furchtbaren Jahren ebenfalls nur im Gefühl ihrer eigenen Rechtlichkeit gelegen. Anders lassen sich unsere Opfer und unser Märtyrertum nicht erklären. Aus keinem anderen Grunde hauchte Rudolf Mendenhall seine Seele für die Sache aus und sang in der Nacht vor seinem Tode seinen wilden Schwanengesang. Aus keinem anderen Grunde starb Huribert unter Foltern, weil er sich weigerte, seine Genossen zu verraten. Aus keinem anderen Grunde verzichtete Anna Roylston auf glückliche Mutterschaft. Aus keinem anderen Grunde war John Carlson der treue, unbelohnte Wächter unserer Zufluchtsstätte in Glen Ellen. Einerlei, ob jung oder alt, Mann oder Weib, hoch oder niedrig, Genie oder Dummkopf, man gehe, wohin man will unter den Genossen der Revolution, stets wird man ein tiefes, immerwährendes Rechtsverlangen als treibende Kraft finden!
Aber ich bin meiner Erzählung vorangeeilt. Ernst und ich verstanden, noch ehe wir unser Versteck verlassen hatten, sehr wohl, wie die Stärke der Eisernen Ferse sich entwickelte. Die Arbeiterkasten, die Söldner und das große Heer der Spitzel und verschiedenartigen Polizeigewalten waren der Oligarchie verpflichtet. Wenn sie den Verlust ihrer Freiheit übersahen, waren sie besser daran als früher. Andererseits sank die große hilflose Masse der Bevölkerung, das Volk des Abgrunds, in eine tierische Ergebung und Gleichgültigkeit mit ihrem Elend. Wenn starke Proletarier inmitten der Masse ihre Kraft geltend machten, wurden sie der Masse durch die Oligarchie entzogen, indem sie Mitglieder der Arbeiterkaste oder der Söldnerheere wurden. So lullte man die Unzufriedenheit ein und beraubte das Proletariat seiner natürlichen Führer.
Das Volk des Abgrunds befand sich in einer bejammernswerten Lage. Es gab keine öffentlichen Schulen mehr für die Menschen. Sie lebten wie Vieh in großen, schmutzigen Arbeitervierteln, wo sie in Elend und Entwürdigung verkamen. Alle ihre alten Freiheiten waren dahin. Die Wahl der Arbeit war ihnen versagt. Ebenso war ihnen das Recht der Freizügigkeit und das des Waffentragens genommen. Sie waren nicht Landsklaven wie die Bauern, sondern Maschinen- und Arbeitssklaven. Wenn es ungewöhnliche Arbeiten gab, wie den Bau von größeren Landstraßen und Hochbahnen, Kanälen, Tunnels, Unterführungen und Befestigungen, so wurden in den Arbeitervierteln Aushebungen vorgenommen und die Sklaven zu Zehntausenden nach dem Arbeitsfeld transportiert. Große Heere von ihnen arbeiten jetzt gerade an dem Bau von Ardis, wo sie in elenden Baracken hausen, in denen kein Familienleben gedeihen kann, und wo Anständigkeit durch dumpfe Bestialität ersetzt wird. Wahrlich, dort in den Arbeitervierteln wohnt die brüllende Bestie des Abgrunds, der Schrecken der Oligarchie - aber ihr eigenes Produkt. Sie will die Affen und Tiger in ihr nicht sterben lassen.
Und eben jetzt heißt es, dass Aushebungen in Sicht seien für den Bau von Asgard, der geplanten Wunderstadt, die nach ihrer Vollendung Ardis noch weit in den Schatten stellen wird(3). Wir Revolutionäre werden das große Werk fortsetzen; aber es wird nicht durch elende Sklaven getan werden. Die Mauern, Türme und Schächte jener herrlichen Stadt werden unter Gesang entstehen, und in ihre Schönheit und Wunder werden nich(3). Wir Revolutionäre werden das große Werk fortsetzen; aber es wird nicht durch elende Sklaven getan werden. Die Mauern, Türme und Schächte jener herrlichen Stadt werden unter Gesang entstehen, und in ihre Schönheit und Wunder werden nicht Seufzer und Schmerz, sondern Musik und Lachen gewoben werden.
Ernst war krank vor Ungeduld, in die Welt hinauszukommen, und die Arbeit für unsere erste Revolution, die in der Chicagoer Kommune so elend fehlschlagen sollte, reifte schnell. Aber er zwang sich zur Geduld. Und in dieser Zeit seiner Folter, als Hadly, der eigens dazu aus Illinois gekommen war, ihn in einen ganz anderen Menschen verwandelte(4), entwarf er große Pläne für die Organisation des gebildeten Proletariats sowie für die erzieherischen Anfangsgründe im Volk des Abgrunds — alles natürlich für den Fall eines Fehlschlages der ersten Revolution.
Erst im Januar 1917 verließen wir unseren Zufluchtsort. Alles war vorbereitet. Gleichzeitig nahmen wir alle unsere Stellen als Agents provocateurs im System der Eisernen Ferse ein. Ich sollte als Ernsts Schwester gelten. Oligarchen und Genossen, die hohe Stellungen im Innendienst bekleideten, hatten Platz für uns geschaffen, wir waren im Besitz aller notwendigen Dokumente, und unsere Vergangenheit war hinreichend erklärt. Mit Hilfe der erwähnten Leute war das leicht zu bewerkstelligen, denn in dieser Schattenwelt des Geheimdienstes war die Identität unklar. Die Agenten kamen und gingen wie Geister, gehorchten Befehlen, kamen ihren Pflichten nach, verfolgten Spuren und erstatteten ihre Berichte häufig Vorgesetzten, die sie nie sahen, oder arbeiteten mit Agenten zusammen, die sie nie zuvor gesehen hatten und auch nie wieder sehen sollten.
(1) Die Söldner spielten in den letzten Tagen der Eisernen Ferse eine wichtige Rolle. Sie stellten den Machtpendel in dem Kampfe zwischen den Arbeiterkasten und der Oligarchie dar, der, je nach dem Spiel der Intrige und Verschwörung, bald nach der einen, bald nach der anderen Seite schwang.
(2) Aus der moralischen Zusammenhanglosigkeit und Inkonsequenz des Kapitals schufen die Oligarchen eine neue, zusammenhängende und stahlscharfe Ethik, die abgeschmackteste und unwissenschaftlichste, dabei aber die mächtigste, die eine Tyrannenklasse je besessen. Die Oligarchen glaubten an ihre Moralität trotz der Tatsache, dass Biologie und Entwicklung sie Lügen straften, und nur dieser Glaube setzte sie drei Jahrhunderte lang instand, die mächtige Flut des menschlichen Fortschritts zurückzudämmen — ein tiefes, gewaltiges, verwirrendes Schauspiel für die metaphysischen Moralisten, und eines, das dem Materialisten viele Zweifel und Nachprüfungen verursacht hat.
(3) Ardis wurde im Jahre 1942 vollendet. Asgard hingegen erst 1984. Zweiundfünfzig Jahre wurde an der Stadt gebaut und dabei eine ständige Armee von einer halben Million Sklaven beschäftigt. Zeitweise schwoll diese Ziffer auf mehr als eine Million an — ohne die Hunderttausende zu rechnen, die den Arbeiterkasten und der Künstlerschaft angehörten.
(4) Unter den Revolutionären gab es viele Chirurgen, die in der Vivisektion eine erstaunliche Fähigkeit erzielten. Nach den Worten Avis Everhards konnten sie einen Menschen buchstäblich umarbeiten. Das Ausmerzen von Narben und Entstellungen war etwas ganz Alltägliches für sie. Sie verwandelten die Züge mit einer solchen mikroskopischen Sorgfalt, dass keine Spur ihrer Arbeit zurückblieb. Ein beliebtes Organ für ihre Arbeit war die Nase. Haut- und Haartransplantationen waren einer ihrer gewöhnlichen Kunstgriffe. Die Veränderungen, die sie im Ausdruck hervorriefen, grenzten an Hexerei. Augen und Augenbrauen, Lippen, Mund und Ohren wurden von Grund auf verändert. Durch fein durchdachte Operationen der Zunge, der Kehle, des Kehlkopfes und der Nasenhöhlen konnte die Aussprache und Sprechweise eines Menschen völlig verändert werden. Verzweifelte Zeiten machten verzweifelte Hilfsmittel notwendig, und die Ärzte der Revolution zeigten sich dieser Notwendigkeit gewachsen. Unter anderem vermochten sie die Gestalt eines Erwachsenen um vier bis fünf Zoll zu vergrößern oder um ein bis zwei Zoll zu verkleinern. Die Kunst, die sie ausübten, ist heute verloren gegangen, wir brauchen sie nicht mehr.
Als Agents provocateurs waren wir nicht nur in der Lage, viel zu reisen, unser eigenes Werk brachte uns auch in stete Berührung mit dem Proletariat, mit unseren Genossen, den Revolutionären. So standen wir gleichzeitig in beiden Lagern, scheinbar im Dienst der Eisernen Ferse, heimlich aber mit aller Macht an der Arbeit für unsere Sache. Viele der Unseren waren in den verschiedenen Abteilungen des Geheimdienstes der Oligarchie tätig, und trotz aller Siebungen und Neuorganisationen, denen der Geheimdienst ständig unterlag, war es nie möglich, uns gänzlich auszurotten. Ernst hatte die erste Revolution in allen Einzelheiten durchdacht und als Zeitpunkt den Anfang des Frühlings 1918 festgesetzt. Im Herbst 1917 waren wir noch nicht bereit. Es blieb noch viel zu tun, und wenn die Revolution überstürzt wurde, war sie natürlich von vornherein zum Misslingen verurteilt. Die Verschwörung war unendlich kompliziert, und jede Übereilung musste sie bestimmt vernichten Das sah die Eiserne Ferse voraus und machte dementsprechend ihre Pläne. Wir gedachten unseren ersten Stoß gegen das Nervensystem der Oligarchie zu richten. In der Erinnerung an den großen Generalstreik hatte die Oligarchie sich durch Errichtung drahtloser Stationen, die unter der Aufsicht der Söldner standen, gegen den Abfall der Telegraphisten gesichert. Aber wir hatten diese Maßnahmen in Rechnung gezogen. Auf das vereinbarte Signal sollten ergebene Genossen aus allen Verstecken des ganzen Landes, Städten, Dörfern und Baracken, ausziehen und die drahtlosen Stationen in die Luft sprengen. Dann war die Eiserne Faust beim ersten Stoß zur Strecke gebracht und lag tatsächlich zerschmettert da.
Im selben Augenblick sollten andere Genossen Brücken und Tunnels in die Luft sprengen und das ganze Eisenbahnnetz zerstören. Wieder andere Gruppen von Genossen sollten auf das vereinbarte Signal die Offiziere der Söldner und der Polizei sowie alle Oligarchen von ungewöhnlichen Fähigkeiten oder in hervorragenden Stellungen festnehmen. Dadurch wurden die gegnerischen Führer von den örtlichen Schlachten ferngehalten, die unweigerlich im ganzen Lande ausgefochten wurden.
Auf das gegebene Signal sollte vieles gleichzeitig geschehen. Die kanadischen und mexikanischen Patrioten, die viel stärker waren, als die Eiserne Ferse sich träumen ließ, sollten dieselbe Taktik wie wir befolgen. Andere Genossen wieder (in diesem Falle Frauen, denn die Männer hatten andere Arbeit zu tun) sollten für schnelle Verbreitung der in unseren geheimen Druckereien hergestellten Kundgebungen sorgen. Wer von uns im höheren Dienst der Eisernen Ferse stand, sollte sofort versuchen, in allen Bezirken Verwirrung und Anarchie hervorzurufen. Unter den Söldnern waren Tausende von Genossen. Ihre Aufgabe bestand darin, die Magazine in die Luft zu sprengen und das feine Getriebe des Kriegsmechanismus zu zerstören. In den Städten der Söldner und Arbeiterkasten sollten die gleichen Zerstörungspläne zur Ausführung gebracht werden.
Kurz, es sollte ein mächtiger, plötzlicher, betäubender Stoß geführt werden. Ehe die gelähmte Oligarchie sich erheben konnte, war ihr Ende gekommen. Es musste schreckliche Zeiten und große Verluste an Menschenleben geben, aber an derlei stößt sich kein Revolutionär. Deshalb waren wir in vieler Beziehung auf das nicht organisierte Volk des Abgrunds angewiesen. Das sollte auf die Paläste und Städte seiner Unterdrücker losgelassen werden, ungeachtet der Zerstörung von Leben und Eigentum. Mochte die Bestie des Abgrunds brüllen und Polizei und Söldner erschlagen. Die Bestie des Abgrunds brüllte ja doch, und Polizei und Söldner würden ja doch töten. Für uns wurde die Gefahr ja nur geringer, wenn sie sich gegenseitig vernichteten. Unterdessen konnten wir viel ungehinderter unser Werk fortsetzen und die Kontrolle über den ganzen Mechanismus des Staates an uns reißen.
Das war unser Plan. Jede Einzelheit musste heimlich ausgearbeitet und mit dem Näher kommen des Zeitpunktes immer mehr Genossen mitgeteilt werden. Das war der gefährliche Punkt: die Ausbreitung der Verschwörung. Aber so weit kam es gar nicht. Durch ihr Spionagesystem hatte die Eiserne Ferse Wind von der Revolution bekommen und ging daran, uns wieder eine ihrer blutigen Lehren zu erteilen. Chikago war die Stadt, die für diese Lehre ausgewählt wurde, und die Lektion, die wir dort erhielten, war gut. Chikago(1) war von allen Städten am reifsten dafür — Chikago, das von alters her die Stadt des Blutes war, und das sich seinen Namen nun aufs neue verdienen sollte. Es herrschte dort ein starker, revolutionärer Geist. In den Tagen des Kapitalismus waren zu viele Arbeiterstreiks niedergeschlagen worden, als dass der Arbeiter hätte vergessen und vergeben können. Sogar die Arbeiterkasten dieser Stadt waren für den Revolutionsgedanken empfänglich. Zu viele Schädel waren in den früheren Streiks eingeschlagen worden. Trotz ihrer veränderten und begünstigten Lebensverhältnisse war der Hass der Arbeiter gegen ihre Herren nicht erloschen. Dieser Geist hatte sogar die Söldner ergriffen, von denen drei Regimenter bereit waren, geschlossen zu uns überzutreten.
Chikago war stets das Sturmzentrum des Konflikts zwischen Arbeiterschaft und Kapital gewesen, eine Stadt des Straßenkampfes und des gewaltsamen Todes, mit einer klassenbewussten Kapitalisten und einer ebenso klassenbewußten Arbeiterorganisation. In früheren Zeiten hatten hier sogar die Schullehrer Gewerkschaften gebildet, die den Maurerverbänden angegliedert wurden. Und Chikago wurde nun das Sturmzentrum der übereilten ersten Revolution.
Die Unruhen waren durch die Eiserne Ferse beschleunigt worden. Sie hatte das geschickt gemacht. Die ganze Bevölkerung, einschließlich der Arbeiterkasten, wurde aufs schändlichste behandelt. Versprechungen und Zugeständnisse wurden gebrochen, und die schärfsten Strafen erwarteten selbst den geringsten Missetäter. Das Volk des Abgrunds wurde aus seiner Antipathie herausgefoltert. Die Eiserne Ferse bemühte sich, die Bestie des Abgrunds zum Brüllen zu bringen. Und Hand in Hand damit hatte die Eiserne Ferse in allen Vorsichtsmaßregeln in Chikago absichtlich eine unbegreifliche Fahrlässigkeit gezeigt. Unter den bleibenden Söldnern war die Disziplin gelockert, während viele Regimenter herausgezogen und nach den verschiedensten Landesteilen geschickt waren.
Die Ausführung dieses Programms dauerte nicht lange — nur wenige Wochen. Wir Revolutionäre hörten nur unbestimmte Gerüchte über den Stand der Dinge, erfuhren aber nichts Genaues, das hingereicht hätte, um die Lage richtig zu erkennen. Wir hielten alles wirklich für eine freiwillige revolutionäre Lebensäußerung, die wir unsererseits sorgsam schüren mussten, und ließen uns nicht träumen, dass es mit aller Sorgfalt in Szene gesetzt war — und zwar von dem engsten Kreise der Eisernen Ferse und so geheim, dass wir keine Ahnung davon hatten. Das Gegenkomplott war eine geschickt erdachte und geschickt ausgeführte Arbeit.
Ich befand mich in New York, als ich den Befehl erhielt, nach Chikago zu kommen. Der Mann, der mir den Befehl brachte, war einer der Oligarchen, das konnte ich aus seiner Sprache entnehmen; seinen Namen kannte ich nicht, und sein Gesicht konnte ich nicht sehen. Seine Vorschriften waren zu klar, als dass ich mich hätte irren können. Ich las deutlich zwischen den Zeilen, dass unsere Verschwörung entdeckt und eine Gegenmine gelegt worden war. Die Explosion war zum Losbrennen bereit, und zahllose Agenten der Eisernen Ferse, darunter auch ich, die entweder in Chikago wohnten oder hingesandt wurden, sollten beim Losbrennen helfen. Ich schmeichle mir, dass ich unter den scharfen Augen des Oligarchen meine Fassung behielt, aber mein Herz schlug wahnsinnig. Ich hätte ihm schreiend mit meinen bloßen Händen an den Hals springen können, ehe er mit seinen kaltblütigen Anweisungen fertig war.
Als er mich verlassen hatte, berechnete ich die Zeit. Ich musste jeden Augenblick benutzen, um, wenn ich Glück hatte, vor Abgang des Zuges noch einen unserer am Orte befindlichen Führer zu sprechen. Ich raste nach dem Emergency Hospital. Ich hatte Glück und wurde sofort bei unserem Genossen Galvin, dem Chefarzt der inneren Station, vorgelassen. Ich schickte mich an, ihm keuchend, was ich wusste, mitzuteilen, aber er hielt mich zurück.
»Ich weiß schon«, sagte er gelassen, aber seine frischen Augen blitzten. »Ich wusste schon, weshalb Sie kamen. Ich erfuhr es vor fünfzehn Minuten und habe die Nachricht schon weitergegeben. Hier wird alles geschehen, um die Genossen zur Ruhe anzuhalten. Chikago muss geopfert werden, aber auch nur Chikago.«
»Haben Sie versucht, Nachricht nach Chikago zu geben?« fragte ich.
Er schüttelte den Kopf.
»Keine telegraphische Verbindung. Chikago ist abgeschnitten. Dort wird die Hölle los sein.«
Er hielt einen Augenblick inne, und ich sah, wie seine weißen Hände sich zusammenkrampften, dann brach er los:
»Weiß Gott, ich wollte, ich könnte hingehen!«
»Es gibt eine Möglichkeit, das Schlimmste zu verhindern«, sagte ich, »wenn im Zuge nichts passiert, und ich zeitig genug hinkomme. Oder wenn ein anderer Genösse, der die Wahrheit kennt, früh genug hinkommt.«
»Ihr vom Innendienst habt euch diesmal schön überrumpeln lassen«, sagte er.
Ich nickte kleinmütig.
»Es ging sehr geheim zu«, antwortete ich. »Nur die Chefs des Innendienstes haben bis heute etwas gewusst. Wir haben es nicht durchschaut und tappten deshalb im Dunkeln. Wenn Ernst nur hier wäre! Aber vielleicht ist er in Chikago, und alles geht gut.«
Doktor Galvin schüttelte den Kopf. »Den letzten Nachrichten zufolge ist er nach Boston und New Haven geschickt worden. Dieser Geheimdienst für den Feind hemmt ihn sehr, aber es ist doch immer noch besser, als tatenlos im Versteck zu bleiben.«
Ich schickte mich zum Gehen an, und Doktor Galvin drückte mir die Hand.
»Bewahren Sie Ihre Ruhe«, lauteten seine Worte zum Abschied. »Was macht es, wenn wir die erste Revolution verlieren sollten? Wir werden eine zweite machen und dann klüger sein. Leben Sie wohl und viel Glück! Ich weiß nicht, ob ich Sie je wieder sehen werde. Dort wird die Hölle los sein, aber ich gäbe zehn Jahre meines Lebens, um statt Ihrer dabei sein zu können.«
Der Atlantikblitz(2) verließ New York um sechs Uhr abends und sollte am nächsten Morgen um sieben Uhr in Chikago sein. Aber in dieser Nacht verspätete er sich. Wir fuhren hinter einem anderen Zuge her. Unter den Reisenden befand sich Genösse Hartmann, der wie ich im Geheimdienst der Eisernen Ferse stand. Er erzählte mir von dem Zuge, der unmittelbar vor uns fuhr. Er war genau wie der unsere, hatte jedoch keine Reisenden. Der Leerzug sollte das Unheil abfangen, falls der Versuch gemacht würde, den Atlantikblitz in die Luft zu sprengen. Es befanden sich übrigens nur sehr wenige Leute im Zuge — in unserem Wagen nur etwa ein Dutzend.
»Es müssen einige prominente Leute im Zuge sein«, erklärte Hartmann. »Ich sah am Ende einen Extrawagen.« Es war Nacht, als der erste Maschinenwechsel stattfand, und ich ging auf den Bahnsteig, um frische Luft zu schöpfen und zu sehen, was ich sehen konnte. Durch das Fenster des Extrawagens sah ich flüchtig drei Männer, die ich kannte.
Hartmann hatte recht. Der eine war General Altendorff und die beiden anderen waren Mason und Vanderbood, die Häupter des inneren Geheimdienstes der Oligarchie.
Es war eine ruhige Mondnacht, aber ich warf mich unruhig hin und her und konnte nicht schlafen Um fünf Uhr morgens stand ich auf und kleidete mich an. Ich fragte die Wärterin im Ankleideraum, wie viel Verspätung der Zug hätte, und sie sagte: zwei Stunden. Sie war eine Mulattin, und ich sah, dass ihr Gesicht abgehärmt war, dass sie tiefe Ringe unter den Augen hatte, während die Augen selbst wie in qualvoller Angst weit geöffnet waren.
»Was ist Ihnen?« fragte ich.
»Nichts, gnädiges Fräulein; ich habe wohl schlecht geschlafen«, lautete die Antwort.
Ich betrachtete sie näher und stellte sie mit einem unserer Zeichen auf die Probe. Sie antwortete, und ich versicherte mich ihrer.
»In Chikago bereitet sich etwas Schreckliches vor«, sagte sie. »Vor uns läuft ein blinder Zug. Der und die Truppenzüge haben unsere Verspätung veranlasst.«
»Truppenzüge?« forschte ich.
Sie nickte. »Die Strecke ist voll davon. Wir haben sie während der ganzen Nacht passiert, und alle gehen nach Chikago. Das hat etwas zu bedeuten.«
»Ich habe einen Freund in Chikago«, fügte sie, wie um sich zu entschuldigen, hinzu. »Er ist einer der Unsrigen, er ist bei den Söldnern, und ich habe Angst um ihn.«
Armes Mädchen. Ihr Freund stand in einem der drei meuternden Regimenter.
Hartmann und ich frühstückten zusammen im Speisewagen, aber ich musste mich zum Essen zwingen. Der Himmel hatte sich bewölkt, und der Zug raste wie ein Unheil verkündender Blitz durch die graue Blässe des anbrechenden Tages. Die uns bedienenden Neger wussten, dass etwas Schreckliches drohte. Sie waren sehr niedergeschlagen, ihre natürliche Gewandtheit hatte sie verlassen, sie waren schlaff und zerstreut in ihrem Dienst und flüsterten trübselig miteinander hinter der Küche, am Ende des Wagens. Hartmann sah die Lage als hoffnungslos an.
»Was können wir tun?« fragte er zum zwanzigsten Male mit hilflosem Achselzucken.
Er zeigte zum Fenster hinaus. »Sehen Sie, alles ist bereit. Sie können sich darauf verlassen, dass man sie alle, wie diese hier, dreißig bis vierzig Meilen vor der Stadt auf den Strecken festhält.«
Er wies auf die Truppentransporte auf den Nebengleisen. Die Soldaten kochten ihr Frühstück auf Feuern ab, die sie auf der Erde neben dem Gleis angezündet hatten, und sahen uns neugierig nach, als wir vorbeidonnerten, ohne unser rasendes Tempo zu verlangsamen.
Als wir in Chikago einfuhren, war alles ruhig. Offenbar war bis jetzt nichts geschehen. In den Vorstädten wurden uns die Zeitungen in den Zug gereicht. Es stand nichts darin, aber doch für den, der zwischen den Zeilen zu lesen verstand, sehr vieles, das absichtlich so geschrieben war, dass der gewöhnliche Leser es übersehen musste. Aus jeder Zeile sah die feine Hand der Eisernen Ferse heraus. Es wurden Andeutungen über ungenügende Rüstungen der Oligarchie gemacht. Etwas Bestimmtes wurde natürlich nicht gesagt. Der Leser musste aus diesen Andeutungen seine Schlüsse ziehen. Es war äußerst geschickt gemacht. Die Morgenzeitungen vom 27. Oktober waren journalistische Meisterwerke.
Die lokalen Nachrichten fehlten. Das war an und für sich schon ein Meisterstreich. Man umhüllte Chikago mit einem Mantel des Geheimnisses und gab den Durchschnittslesern zu verstehen, dass die Oligarchie nicht wagte, die Lokalnachrichten zu veröffentlichen. Natürlich wurden unwahre Andeutungen von Aufständen im ganzen Lande gemacht, die plump in selbstgefällige Hinweise auf die zu ergreifenden Strafmaßnahmen gehüllt waren. Es wurde berichtet, dass zahlreiche drahtlose Stationen in die Luft gesprengt wären, und auf die Entdeckung der Anstifter wurden hohe Belohnungen ausgesetzt. Natürlich waren gar keine Funkstationen in die Luft geflogen. Viele ähnliche, in die revolutionäre Verschwörung hineinpassende Gewalttaten wurden berichtet. Bei den Genossen in Chikago sollte eben der Eindruck erweckt werden, dass die allgemeine Revolution begonnen hätte. Einem nicht Eingeweihten war es unmöglich, das unklare, aber bestimmte Gefühl loszuwerden, dass das ganze Land reif für die soeben begonnene Revolution sei.
Es wurde berichtet, die Meuterei der Söldner in Kalifornien sei so ernst geworden, dass ein halbes Dutzend Regimenter aufgelöst und ihre Mitglieder nebst Familien aus ihren eigenen Städten nach den Arbeitervierteln vertrieben worden seien. Dabei waren die kalifornischen Söldner tatsächlich die pflichttreuesten von allen. Aber wie sollte das von der Welt abgeschnittene Chikago das wissen? Ferner meldete ein Telegramm aus New York den Aufruhr des dortigen Pöbels, mit dem sich die Arbeiterkasten vereinigt hätten, und schloss mit der Versicherung (mit der Absicht, als Bluff aufgenommen zu werden), dass die Truppen Herren der Lage seien.
Und wie mit den Morgenzeitungen, so hatten es die Oligarchen mit tausend ändern Dingen gemacht. Das erfuhren wir später, als zum Beispiel die geheimen Mitteilungen zum ausdrücklichen Zweck verschickt wurden, um das, was der Draht während der ersten Hälfte der Nacht gemeldet hatte, den Revolutionären zu Ohren gelangen zu lassen.
»Ich glaube, dass die Eiserne Ferse uns nicht mehr braucht«, meinte Hartmann, die Zeitung aus der Hand legend, als der Zug in den Hauptbahnhof einlief. »Sie hat ihre Zeit verschwendet, indem sie uns herschickte. Ihre Pläne sind ihr offenbar über Erwarten gut geglückt. Jede Sekunde muss die Hölle losbrechen.«
Er drehte sich um und sah, während wir ausstiegen, den Zug hinab.
»Ich dachte es mir«, murmelte er. »Als die Zeitungen kamen, haben sie den Wagen abgehängt.«
Hartmann war vollkommen niedergeschlagen. Ich gab mir Mühe, ihn aufzuheitern, aber er überhörte mich und fing plötzlich, während wir den Bahnhof durchschritten, sehr rasch und leise zu sprechen an. Zuerst konnte ich ihn nicht verstehen.
»Ich war meiner Sache nicht sicher«, sagte er, »und deshalb habe ich niemand etwas gesagt. Obgleich ich mich wochenlang damit beschäftigt habe, konnte ich nichts Bestimmtes herausbringen. Achten Sie auf Knowlton. Ich habe Verdacht auf ihn. Er kennt das Geheimnis einer ganzen Reihe unserer Zufluchtsstätten. Er hat das Leben von Hunderten der Unsrigen in der Hand, und ich halte ihn für einen Verräter. Es ist eigentlich mehr Gefühlssache, aber ich glaube seit einiger Zeit eine Veränderung an ihm bemerkt zu haben. Es besteht die Gefahr, dass er uns verkauft hat oder im Begriff ist, dies zu tun. Ich würde zu keiner Menschenseele von meinem Verdacht gesprochen haben, aber manchmal denke ich, dass ich Chikago nicht mehr lebend verlassen werde. Behalten Sie Knowlton im Auge. Legen Sie ihm Fallen. Decken Sie ihn auf. Ich weiß nichts Bestimmtes. Es ist nur ein Verdacht von mir, für den ich eigentlich nicht den leisesten Anhaltspunkt finden kann.« Wir betraten gerade den Bürgersteig. »Denken Sie daran«, schloss Hartmann ernst. »Behalten Sie Knowlton im Auge.«
Und Hartmann hatte recht. Noch ehe der Monat zu Ende ging, bezahlte Knowlton seinen Verrat mit dem Leben. Er wurde in aller Form von den Genossen in Milwaukee hingerichtet.
Auf den Straßen war alles ruhig — zu ruhig. Chikago lag wie ausgestorben da. Es gab kein Rasseln und Rollen des Geschäftsverkehrs, nicht einmal Droschken auf der Straße. Kein Wagen der Straßenbahn und der Hochbahn lief. Nur gelegentlich sah man auf den Bürgersteigen vereinzelte Fußgänger, und die schlenderten nicht dahin. Sie gingen in großer Eile und Entschiedenheit ihrer Wege, und doch lag eine seltsame Unentschlossenheit in ihren Bewegungen, als fürchteten sie, dass die Häuser umstürzten, die Bürgersteige unter ihnen versänken oder in die Luft flögen. Nur ein paar Straßenjungen waren sichtbar, und in ihren Augen lag eine unterdrückte Gier im Vorgenuss kommender, erregender Dinge.
Irgendwoher, weit im Süden, schlug der dumpfe Ton einer Explosion an unser Ohr. Das war alles. Dann war es wieder ruhig, wenn die Straßenjungen auch erschraken und wie junges Wild auf den Ton horchten. Die Torwege zu allen Häusern waren geschlossen, die Fensterläden geöffnet. Aber eine Menge Polizisten und Wächter waren sichtbar, und hin und wieder glitt eine Autopatrouille der Söldner rasch vorbei.
Hartmann und ich waren uns einig, dass es unnötig sei, sich beim lokalen Chef zu melden. Wir wussten, dass wir im Hinblick auf die kommenden Ereignisse entschuldigt waren. Deshalb schlugen wir den Weg nach dem großen Arbeiterviertel im Süden der Stadt ein, in der Hoffnung, mit einigen unserer Genossen Fühlung zu erhalten. Zu spät! Wir hatten es uns gedacht. Aber wir konnten doch nicht untätig in diesen grausig stillen Straßen dastehen. Wo war Ernst? Es war merkwürdig. Was war in den Städten der Arbeiterkasten und der Söldner geschehen? In den Festungen?
Wie als Antwort auf meine Fragen erhob sich plötzlich ein durch die Entfernung gedämpftes mächtiges Gebrüll, das von einer Detonation nach der ändern unterstrichen wurde.
»Die Festungen«, sagte Hartmann. »Gott sei den drei Regimentern gnädig.«
An einem Straßenübergang bemerkten wir in der Richtung des Viehhofes eine riesige Rauchsäule. Am nächsten Straßenübergang sahen wir im Westen mehrere solcher Rauchsäulen gen Himmel steigen, über der Söldnerstadt sahen wir einen großen Fesselballon, aber im selben Augenblick barst er und stürzte als brennendes Wrack herab. Wir konnten keine Lösung für diese Tragödie der Luft finden. Wir konnten nicht entscheiden, ob der Ballon von Genossen oder von Feinden bemannt gewesen war. Ein verworrenes Geräusch drang an unser Ohr wie das Brodeln eines riesigen Kessels in der Ferne. Hartmann sagte, dass es von Maschinengewehren herrühre.
Wo wir gingen, war es immer noch ruhig. Hier geschah nichts. Die Polizisten und Autopatrouillen zogen vorbei, und einmal auch ein halbes Dutzend Feuerspritzen, die offenbar von einer Brandstätte zurückkamen. Ein Offizier rief von einem Auto aus einem der Feuerwehrleute eine Frage zu, und wir hörten ihn die Antwort zurückrufen: »Kein Wasser. Sie haben die Hauptrohre gesprengt!«
»Wir haben die Wasserleitung zerstört«, rief Hartmann mir erregt zu. »Wenn wir das schon bei einem vorzeitigen, vereinzelten, unreifen Versuch fertig bringen, was können wir dann erst bei einer gemeinsamen allgemeinen Anstrengung im ganzen Lande erreichen!«
Das Automobil mit dem Offizier, der die Frage an den Feuerwehrmann gerichtet hatte, setzte sich in Bewegung. Plötzlich aber erhob sich ein betäubendes Gebrüll. Der Wagen flog mit seiner menschlichen Fracht krachend in die Luft und fiel als Trümmer- und Todesmasse wieder zu Boden.
Hartmann jubelte. »So war es recht, so war es recht!« wiederholte er immer wieder flüsternd. »Das Proletariat erhält heute seine Lehre, aber es erteilt auch eine.«
Polizisten eilten nach der Unglücksstätte. Ein zweites Patrouillenauto hatte ebenfalls Halt gemacht. Ich selbst war wie betäubt. Alles kam zu unerwartet. Wie war es vor sich gegangen? Ich wusste es nicht, obgleich ich gerade hingesehen hatte. In meiner Betäubung merkte ich kaum, dass die Polizisten uns anhielten. Plötzlich sah ich, dass ein Polizist im Begriff war, Hartmann niederzuschießen, aber Hartmann blieb ruhig und gab das richtige Losungswort. Der Polizist setzte zögernd den Revolver wieder ab, und ich hörte ihn schimpfen. Er war wütend und verfluchte den ganzen Geheimdienst. Er stände überall im Wege, behauptete er, während Hartmann ihm mit gutgespieltem Geheimdienststolz Ungeschicklichkeit der Polizei vorhielt.
Im nächsten Augenblick erfuhr ich, was geschehen war. Um die Trümmer stand nun eine Gruppe Menschen, und zwei Männer waren gerade dabei, den verwundeten Offizier aufzuheben und in das Auto zu legen. Plötzlich wurden alle von einer Panik ergriffen und stoben nach allen Seiten auseinander, rannten in blindem Schrecken fort, während der verwundete Offizier, achtlos auf das Plaster gelegt, allein zurückblieb. Auch der schimpfende Polizist neben mir lief fort, und Hartmann und ich rannten ebenfalls, ohne zu wissen, wohin und warum, von demselben blinden Schrecken gepackt und nur von dem Wunsche beseelt, fortzukommen.
Es geschah tatsächlich nichts, aber alles fand seine Erklärung. Die Fliehenden kamen verdutzt zurück, stets die Augen ängstlich zu den vielfenstrigen hohen Mauern erhoben, die wie die senkrechten Wände einer Schlucht zu beiden Seiten der Straße in die Höhe ragten. Aus einem dieser unzähligen Fenster war die Bombe geworfen worden. Aber aus welchem? Eine zweite war nicht gefolgt, es war nur der Schrecken vor ihr.
Später betrachteten wir forschend die Fenster. Hinter ihnen lauerte vielleicht der Tod. Jedes Haus konnte ein Hinterhalt sein. So wurde Krieg in dem modernen Dickicht der Großstadt geführt. Jede Straße war eine Schlucht, jedes Haus ein Berg. Trotz der vorbeigleitenden Automobile unterschieden wir uns nicht sehr von den Menschen der Vorzeit.
An einer Straßenecke stießen wir auf eine Frau. Sie lag in einer Blutlache auf dem Bürgersteig. Hartmann beugte sich über sie und untersuchte sie. Ich selbst wandte mich sterbenskrank ab. Ich sollte an diesem Tage noch viele Tote sehen, aber das ganze Gemetzel griff mich nicht so an wie dieser eine unglückliche Körper, der verlassen vor meinen Füßen auf der Straße lag. »Brustschuss«, lautete Hartmanns Befund. In ihrem Arm hielt sie ein Bündel Drucksachen, als wäre es ein Kind. Selbst im Tode schien sie sich nicht von dem trennen zu wollen, was die Ursache ihres Todes gewesen war. Denn als Hartmann endlich das Bündel herausgezogen hatte, sahen wir, dass es fettgedruckte Flugschriften, die Proklamationen der Revolutionäre, enthielt.
Aber Hartmann stieß nur einen Fluch auf die Eiserne Ferse aus, und wir gingen weiter. Wir wurden wohl hin und wieder von Polizisten und Patrouillen angehalten, aber unser Losungswort verschaffte uns freie Bahn. Aus den Fenstern fielen keine Bomben mehr, die letzten Fußgänger schienen von der Straße verschwunden, und in unserer unmittelbaren Nähe wurde es immer ruhiger; der riesige Kessel aber in der Ferne brodelte weiter; dumpfes Gebrüll und Explosionen trafen aus allen Richtungen unser Ohr, und die Rauchsäulen stiegen immer Unheil verkündender gen Himmel.
(1) Chikago war die Industriehölle des 19. Jahrhunderts. Eine eigenartige Anekdote von John Burns, einem großen Arbeiterführer und einstigem Mitglied des britischen Kabinetts, ist uns überliefert. Bei einem Besuch der Vereinigten Staaten wurde er in Chikago von einem Journalisten nach seiner Meinung über die Stadt gefragt. »Chikago«, antwortete er, »ist eine Taschenausgabe der Hölle.« Einige Zeit später, als er im Begriff war, sich an Bord eines Dampfers zu begeben, um nach England zurückzufahren, näherte sich ihm ein anderer Journalist, der wissen wollte, ob er seine über Chikago geändert hätte. »Ja, ich habe sie geändert«, sagte er. »Jetzt meine ich, dass die Hölle eine Taschenausgabe von Chikago ist.«
(2) Dieser Zug war damals als der schnellste der Welt bekannt, er war berühmt.
Plötzlich schien sich alles zu verändern. Ein Zittern der Erregung ging durch die Luft. Automobile flogen vorbei, zwei, drei, ein Dutzend, und ihre Insassen riefen uns Warnungen zu. Einer der Wagen machte wenige Häuser weiter in wilder Hast einen Bogen, und im nächsten Augenblick wurde hinter ihm die Straße durch eine platzende Bombe zu einem tiefen Loch aufgerissen. Wir sahen die Polizisten im Laufschritt die Seitenstraße hinab verschwinden und fühlten, dass etwas Schreckliches im Anzüge war. Wir konnten ein wachsendes Geräusch hören.
»Unsere braven Genossen kommen«, sagte Hartmann. Wir sahen die Spitze ihrer Kolonne, die die Straße von einem Rinnstein bis zum ändern ausfüllte, als das letzte Kriegsauto zurückfloh. Dicht neben uns hielt der Wagen. Ein Soldat sprang heraus, trug behutsam einen Gegenstand in den Händen und setzte ihn mit der gleichen Vorsicht in den Rinnstein. Dann lief er auf seinen Platz zurück, der Wagen fuhr an, bog um die nächste Ecke und verschwand aus unserem Gesichtskreis. Hartmann lief zum Rinnstein und beugte sich über den Gegenstand.
»Bleiben Sie fort«, warnte er mich.
Ich sah ihn in wahnsinniger Hast mit den Händen arbeiten. Als er zu mir zurückkam, stand ihm schwerer Schweiß auf der Stirn.
»Ich habe sie unwirksam gemacht«, sagte er, »und gerade noch rechtzeitig. Der Soldat war ungeschickt. Sie war für unsere Genossen bestimmt, aber er ließ ihr nicht Zeit genug.
Sie wäre zu früh explodiert. Jetzt geht sie überhaupt nicht mehr los!«
Alles ging mit rasender Eile. Auf der anderen Seite der Straße, einige Häuser weiter, sah ich hoch oben aus einem Hause Köpfe herausblicken. Ich hatte Hartmann kaum darauf aufmerksam gemacht, als ein breites Band von Rauch und Flammen an der Front des Hauses, in dem die Köpfe erschienen waren, entlanglief und die Luft durch eine Explosion erschüttert wurde. An mehreren Stellen wurde die steinerne Fassade weggerissen und die Eisenkonstruktion bloßgelegt. Im nächsten Augenblick schlugen ähnliche Flammen und Rauch an der Front des gegenüberliegenden Hauses empor. Zwischen den Explosionen hörten wir das Rattern der automatischen Pistolen und Gewehre. Einige Minuten hielt der Feuerkampf an, dann legte er sich. Offenbar waren unsere Genossen in dem einen, die Söldner in dem ändern Hause und bekämpften sich über die Straße hinüber. Aber wir wussten nicht, in welchem Hause unsere Genossen und in welchem die Söldner sich befanden.
Jetzt war die Kolonne auf der Straße nahe herangekommen. Als ihre Spitze unter den kämpfenden Häusern, die beide wieder in Aktion getreten waren, vorbeikam, wurden aus dem einen Bomben auf die Straße geworfen. Jetzt wussten wir, welches Haus unsere Kameraden besetzt hielten, und sie taten gute Arbeit, indem sie die Leute auf der Straße vor den Bomben des Feindes retteten.
Hartmann fasste mich am Arm und zog mich in einen weiten Hauseingang.
»Das sind nicht unsere Genossen«, schrie er mir ins Ohr.
Die Türen waren verschlossen und fest verriegelt. Wir konnten nicht entkommen. Im nächsten Augenblick kam die Spitze der Kolonne vorbei. Es war keine Kolonne, sondern ein lärmender Pöbelhaufen, ein abscheulicher Strom, der die Straße füllte, das Volk des Abgrunds, toll vor Trunkenheit und nach dem Blut seiner Unterdrücker brüllend Ich hatte früher das Volk des Abgrunds gesehen, als ich durch seine Quartiere gegangen war, und ich glaubte es zu kennen, jetzt aber schien mir, als sähe ich es zum ersten Mal. Die dumpfe Apathie war verschwunden. Jetzt war es Urkraft — ein faszinierendes Schauspiel des Todes. Es erhob sich über jede Einbildungskraft hinaus zu körperlichen Wogen des Zornes, knurrend und murrend, fleischfressend, trunken von dem Schnaps aus geplünderten Läden, trunken von Hass und trunken von Blutgier — Männer, Frauen und Kinder, zerfetzt und zerlumpft, blöde, wilde Tiere, von deren Zügen alles Göttliche gewichen und Teuflischem Platz gemacht, Affen und Tiger, blutarme, schwindsüchtige, langhaarige Lasttiere, bleiche Gesichter, denen der Vampir Gesellschaft alle Lebenskraft ausgesogen hatte. Aufgedunsene, von Rohheit und Verkommenheit strotzende Gestalten, verwirrte Hexen und Totenköpfe mit Patriarchenbärten, schwärmende Jugend und schwärmendes Alter, Teufelsfratzen, krumme, verzerrte, missgestaltete Ungeheuer, von Krankheiten verzehrt und von dem Schrecken dauernder Unterernährung gebrochen — der Auswurf und Abschaum der Menschheit, eine zerlumpte, johlende, vom Teufel besessene Horde.
Und weshalb nicht? Dieses Volk hatte nichts zu verlieren als das Elend und die Qualen des Lebens. Und zu gewinnen? Nichts, nur die endliche schreckliche Sättigung seiner Rachgier. Und als ich hinsah, kam mir der Gedanke, dass in dem rauschenden Strom dieser menschlichen Lava Männer, Genossen und Helden sein mussten, deren Aufgabe es gewesen war, die Bestie des Abgrunds aufzurütteln und den Kampf zwischen ihr und dem Gegner zu schüren.
Und jetzt geschah etwas Seltsames mit mir. Eine Verwandlung ging mit mir vor. Die Todesfurcht, für mich und andere, verließ mich. Ich fühlte mich seltsam gehoben, als ein anderes Wesen in einem anderen Leben. Es war einerlei. Für diesmal war die Sache verloren. Morgen aber stand sie wieder auf, dieselbe Sache, immer frisch und immer brennend. Und in der Schreckensorgie, die in den nächsten Stunden raste, war ich imstande, warme Teilnahme zu fühlen. Leben und Tod bedeuteten nichts. Ich war ein wissbegieriger Beobachter der Ereignisse und bisweilen, vom Strom vorwärtsgetrieben, selbst ein neugieriger Teilnehmer. Denn mein Geist war zu einer sternenkühlen Höhe emporgestiegen und nahm eine kaltblütige Umwertung aller Werte vor. Wäre das nicht geschehen, ich weiß, ich hätte sterben müssen.
Als der Pöbelhaufen eine Meile lang vorbeigezogen war, wurden wir entdeckt. Ein in phantastische Lumpen gehülltes Weib mit ausgehöhlten Wangen und kleinen Augen, die wie glühende Bohrer aussahen, hatte uns im Vorbeigehen erblickt. Sie stieß einen schrillen Schrei aus und drang zu uns herein. Eine Rotte löste sich von dem Pöbelhaufen und drängte hinter ihr her. Beim Schreiben dieser Zeilen sehe ich sie noch, wie sie einen Schritt vor mir stand; ihr graues Haar flatterte in dünnen wirren Strähnen, und von ihrer Stirn tropfte Blut. In der Rechten hielt sie eine Brandfackel, und die Linke, die mager und runzlig, eine gelbe Klaue war, krampfte sich in der Luft. Hartmann sprang vor mich. Für Erklärungen war keine Zeit. Wir waren gut gekleidet, und das genügte. Mit der Faust schlug er dem Weibe zwischen die brennenden Augen. Durch die Wucht des Schlages flog sie zurück, stieß aber gegen die Mauer ihrer vordrängenden Genossen und stürzte, betäubt und hilflos, wieder nach vorn, wobei die Fackel matt auf Hartmanns Schulter fiel.
Was im nächsten Augenblick geschah, weiß ich nicht. Ich wurde von der Menge überwältigt. Der enge Raum war von Geschrei, Geheul und Flüchen erfüllt. Schläge fielen auf mich nieder, Hände griffen und rissen an meinem Fleisch und meiner Kleidung. Mir war, als würde ich in Stücke gerissen. Ich wurde niedergeworfen und war am Ersticken. Eine starke Hand packte meine Schulter und zerrte furchtbar an mir. Unter dem Schmerz wurde ich fast ohnmächtig. Hartmann kam nicht mehr aus dem Eingang heraus Er hatte mich geschützt und den ersten Anprall aufgehalten. Das war meine Rettung, denn in dem dichten Gedränge konnten die Hände nur schwach greifen und zerren.
Ich befand mich mitten in einem wilden Strudel. Alles um mich her war eine einzige Bewegung. Ich wurde von einer ungeheuren Flut gepackt und ich weiß nicht wohin getrieben. Frische Luft spielte um meine Wangen und drang mir angenehm in die Lungen. Matt und schwindlig, hatte ich das unbekannte Gefühl, von einem starken Arm umfasst, in die Höhe gehoben und fortgezogen zu werden. Meine eigenen Glieder halfen mir nur schwach. Vor mir sah ich den Rücken eines Männerrocks sich bewegen. Seine Mittelnaht war von oben bis unten aufgerissen und bewegte sich rhythmisch, weil der Schlitz sich bei jedem Schritt des Mannes regelmäßig öffnete und schloss. Dieser Anblick fesselte mich einen Augenblick, während mir die Sinne wiederkehrten. Dann fühlte ich, dass meine Wangen und meine Nase schmerzten, und ich merkte, wie Blut auf mein Gesicht tropfte. Mein Hut war fort, mein Haar hatte sich gelöst und flatterte, und der stechende Schmerz in meiner Kopfhaut brachte mir eine Hand in Erinnerung, die mich im Gedränge am Haar gezerrt hatte. Meine Brust und meine Arme waren gequetscht und schmerzten an vielen Stellen.
Meine Sinne wurden klarer, und ich wandte im Laufen den Kopf, um den Mann, der mich aufrecht hielt, zu sehen. Er war es, der mich am Haar gezogen und auf diese Weise gerettet hatte. Er bemerkte meine Bewegung.
»Alles in Ordnung«, rief er heiser. »Ich erkannte Sie sofort.«
Ich konnte mich seiner nicht erinnern; ehe ich aber sprechen konnte, stieß ich gegen etwas, das lebendig war und sich unter meinen Füßen krümmte. Ich wurde von den Nachfolgenden vorwärts getrieben und konnte nicht zu Boden sehen, hörte aber, dass es eine Frau war, die gestürzt war und von Tausenden über sie hinwegschreitender Füße zerstampft wurde.
»Alles in Ordnung«, wiederholte er. »Ich bin Garthwaite.«
Er trug einen Bart und war mager und schmutzig, aber ich erkannte jetzt in ihm den starken jungen Mann, der vor drei Jahren einige Monate an unserem Zufluchtsort in Glen Ellen verbracht hatte. Er machte mir einige Zeichen des Geheimdienstes der Eisernen Ferse zum Beweis, dass er auch in ihrem Dienste stand. »Sobald sich eine Möglichkeit bietet, bringe ich Sie hier heraus«, versicherte er. »Aber passen Sie beim Gehen auf. Straucheln und fallen Sie nur nicht.«
Alles geschah in diesen Tagen plötzlich, und jetzt hielt der Pöbel so plötzlich an, dass mir schwarz vor Augen wurde. Ich stieß heftig mit einer großen Frau vor mir zusammen. Der Mann mit dem aufgeschlitzten Rock war verschwunden, während die Leute hinter mir gegen mich stießen. Ein Höllenlärm entstand, Kreischen, Fluchen, Todesschreie, und dabei wurde das erschütternde Rattern der Maschinengewehre und das Ticken der Gewehre immer stärker. Zuerst wusste ich nicht, was es gab. Rechts und links vor mir fielen die Menschen. Die Frau vor mir knickte zusammen und sank mit einem wahnsinnigen Griff nach ihrem Leib zu Boden. Ein Mann zuckte im Todeskampf vor meinen Füßen.
Ich bemerkte, dass wir uns an der Spitze der Kolonne befanden. Eine halbe Meile von der Kolonne war verschwunden - wie oder wohin habe ich nie erfahren. Bis auf den heutigen Tag weiß ich nicht, was aus dieser menschlichen halben Meile geworden ist — ob sie durch einen furchtbaren Kriegsblitz ausgelöscht, ob sie zerstreut oder stückweise vernichtet wurde, oder ob sie entkam. Aber jetzt waren wir an der Spitze statt in der Mitte der Kolonne und wurden von dem schreienden Strom fortgetrieben.
Sobald der Tod das Gedränge gelichtet hatte, führte Garthwaite, der immer noch meinen Arm festhielt, einen Trupp Überlebender in den breiten Eingang eines Amtsgebäudes. Hier wurden wir von einer keuchenden Masse von Geschöpfen gegen die Tür gepresst. Eine Weile blieben wir in dieser Lage, ohne dass eine Änderung eingetreten wäre.
»Da habe ich etwas Schönes angerichtet«, klagte Garthwaite. »Ich habe Sie richtig in eine Falle gebracht. Auf der Straße hatten wir noch die Chance eines Spielers, hier aber haben wir gar keine. Uns bleibt nur noch übrig, zu rufen: »Vive la révolution!« Dann geschah, was er erwartete. Die Söldner töteten ohne Erbarmen. Zuerst war es ein zermalmendes Gedränge, das aber nachließ, je mehr der Mord wirkte. Tote und Sterbende fielen und machten Platz. Garthwaite legte den Mund an mein Ohr und rief etwas, aber in dem furchtbaren Lärm konnte ich ihn nicht verstehen. Er wartete nicht, sondern ergriff mich und warf mich nieder. Dann zog er eine sterbende Frau über mich und kroch nach vielem Drücken und Schieben selbst halb über mich. Ein Berg von Toten und Sterbenden türmte sich über uns auf. Und über diesen Berg kletterte jammernd und stampfend, wer noch am Leben war. Aber auch mit ihnen war es bald aus, und es trat eine scheinbare Stille ein, die nur durch Ächzen, Stöhnen und Erstickungslaute unterbrochen wurde.
Ich würde zermalmt worden sein, wäre Garthwaite nicht gewesen. Es erscheint unbegreiflich, dass ich ein solches Gewicht tragen und dabei am Leben bleiben konnte. Und doch hatte ich außer dem Schmerz noch ein Gefühl: das der Neugier. Wie würde das Ende werden, was würde der Tod bringen? So erhielt ich meine Bluttaufe in dem Schlachthaus von Chikago. Früher war der Tod für mich Theorie, seit er aber eine einfache Tatsache wurde, ist er so leicht.
Aber die Söldner gaben sich nicht mit dem Erreichten zufrieden. Sie drängten sich in den Hauseingang, töteten die Verwundeten und suchten nach Unverwundeten, die sich gleich uns tot stellten. Ich erinnere mich an einen Mann, den sie aus dem Haufen herauszogen, und der verächtlich flehte, bis eine Revolverkugel ihn niederstreckte. Hinter einem Haufen verteidigte sich eine Frau, höhnend und schießend. Sie gab sechs Schüsse ab, ehe sie getötet wurde; welchen Schaden sie anrichtete, erfuhren wir nicht. Wir konnten diese Tragödien nur dem Gehör nach verfolgen. Eine derartige Szene folgte der ändern, und jede gipfelte in dem Revolverschuss, der ihr ein Ende machte. Unterdessen hörten wir die Soldaten sprechen und fluchen, während sie, von ihrem Offizier zur Eile angetrieben, unter den Leichen wühlten.
Schließlich kamen sie in unsere Nähe, und wir fühlten, wie der Druck, der auf uns ruhte, nachließ, als sie die Toten und Verwundeten wegzogen. Garthwaite sagte die Parole. Zuerst hörte man ihn nicht. Da rief er laut. »Horch da!« sagte ein Soldat. Und dann erklang die scharfe Stimme eines Offiziers. »Halt! Vorsicht!«
Oh, der erste frische Lufthauch, als wir herausgezogen wurden! Garthwaite begann zuerst zu sprechen, musste sich aber einer kurzen Prüfung unterziehen, um zu beweisen, dass er im Dienste der Eisernen Ferse stand.
»Agents provocateurs, in Ordnung«, entschied der Offizier. Er war ein bartloser junger Mann, offenbar einer der großen Oligarchenfamilien angehörend.
»Ein verfluchtes Geschäft«, murmelte Garthwaite. »Ich möchte es aufgeben und in die Armee eintreten. Ihr habt Schneid, Jungens.«
»Sie verdienen es«, lautete die Antwort des jungen Offiziers. »Ich habe einigen Einfluss und werde sehen, was sich machen lässt. Ich werde erzählen, wie ich Sie gefunden habe.«
Er notierte Garthwaites Namen und Nummer und wandte sich dann an mich.
»Und Sie?«
»Ach, ich werde mich verheiraten«, antwortete ich heiter, »dann bin ich aus allem heraus.«
Und so sprachen wir, während das Morden der Verwundeten seinen Fortgang nahm. Wenn ich jetzt daran denke, ist mir alles wie ein Traum. Damals aber war es das Natürlichste von der Welt. Garthwaite und der junge Offizier begannen ein angeregtes Gespräch über den Unterschied zwischen der so genannten modernen Kriegführung und dem augenblicklichen Straßen- und Wolkenkratzerkampf, der überall in der Stadt tobte. Ich hörte ihnen aufmerksam zu, während ich mein Haar und meine zerrissenen Kleider in Ordnung zu bringen versuchte. Und die ganze Zeit dauerte das Abschlachten der Verwundeten fort. Häufig übertönten die Revolverschüsse die Stimmen Garthwaites und des jungen Offiziers, so dass sie ihre Worte wiederholen mussten.
Ich durchlebte drei Tage der Chicagoer Kommune, und man kann sich eine Vorstellung von ihrer Ausdehnung und dem Gemetzel machen, wenn ich sage, dass ich in dieser ganzen Zeit tatsächlich nichts gesehen habe als das Abschlachten des Volkes und den Luftkampf zwischen den Wolkenkratzern. Von der heldenmütigen Arbeit unserer Genossen sah ich nichts. Ich hörte die Explosion ihrer Minen und Bomben und sah den Rauch ihrer Brandstiftungen; das war alles. Immerhin sah ich eine Großtat, nämlich den Ballonangriff unserer Genossen auf die Befestigungen. Es war am zweiten Tage. Die drei meuternden Regimenter waren in den Festungen bis auf den letzten Mann vernichtet worden. Die Festungen wimmelten von Söldnern, der Wind hatte die rechte Richtung, und unsere Ballons stiegen von einem Amtsgebäude in der inneren Stadt auf.
Biedenbach war, nachdem er Glen Ellen verlassen hatte, die Erfindung eines außerordentlich wirksamen Explosivstoffes — Expedit nannte er ihn — geglückt. Das war die Waffe, die die Ballons benutzten. Es waren nur plump und eilig hergestellte Heißluftballons, aber sie taten ihre Schuldigkeit. Ich sah sie alle vom Dach eines Amtsgebäudes aus. Der erste Ballon verfehlte die Festungen gänzlich und verschwand ins Land hinein; aber wir erfuhren später, was mit ihm geschehen war. Burton und O'Sullivan befanden sich in ihm. Beim Niedergehen trieben sie quer über eine Bahnstrecke und gerade über einen Truppentransportzug hinweg, der sich in voller Fahrt nach Chikago befand. Sie warfen ihre ganze Expeditladung auf die Lokomotive, und die Folge war, dass die Strecke auf Tage hinaus gesperrt war. Und das beste dabei war, dass der Ballon, um sein Gewicht an Expedit erleichtert, in die Höhe schoss, erst sechs Meilen weiter landete, und dass die beiden heldenmütigen Insassen mit heiler Haut davonkamen.
Der zweite Ballon versagte. Sein Flug war lahm. Er trieb zu langsam und wurde durchlöchert, ehe er die Festungswerke erreichte. Herford und Guinness, die sich in ihm befanden, wurden mit dem Feld, in das sie niederstürzten, zerrissen. Biedenbach war verzweifelt — wir hörten das alles hinterher -, und er stieg allein mit dem dritten Ballon auf. Auch er flog langsam, hatte aber das Glück, dass es den Söldnern nicht gelang, seinen Ballon zu treffen. Ich sehe es noch, als wäre es gestern geschehen, wie der aufgeblähte Sack durch die Luft trieb und das winzige bisschen Mensch unten daran hing. Die Festung konnte ich nicht sehen, aber die Leute, die auf dem Dache standen, sagten, dass der Ballon gerade darüber schwebe. Auch das Niederfallen des abgeschnittenen Expedits sah ich nicht, aber ich sah den Ballon plötzlich in die Höhe schießen. Im nächsten Augenblick türmte sich die große Säule der Explosion auf, und dann hörte ich ihr Brüllen. Biedenbach hatte die eine Festung zerstört. Dann stiegen zwei Ballons gleichzeitig auf. Der eine wurde in der Luft in Stücke gerissen, das Expedit explodierte, und die Erschütterung zerstörte den zweiten Ballon, der aber gerade in die noch unversehrte Festung fiel. Es hätte nicht besser erdacht werden können, wenn auch die beiden Genossen ihr Leben opferten.
Aber zurück zum Volk des Abgrunds! Ich wusste nicht viel von ihm. Es wütete, mordete und vernichtete in der eigentlichen Stadt und wurde seinerseits wieder vernichtet; aber nicht ein einziges Mal gelang es ihm, die Stadt der Oligarchen im Westen zu erreichen. Die Oligarchen hatten sich gut geschützt. Was für Unheil auch im Herzen der Stadt angerichtet wurde, ihnen und ihren Frauen und Kindern geschah nichts. Ich habe gehört, dass ihre Kinder in diesen entsetzlichen Tagen in den Parks spielten, und dass sie in ihrem Spiel am liebsten nachahmten, wie ihre Eltern das Proletariat zerstampften.
Für die Söldner war es keine Kleinigkeit, es mit dem Volk des Abgrunds aufzunehmen und gleichzeitig mit den Genossen zu kämpfen. Chikago blieb seiner Überlieferung treu, und wenn auch eine Generation von Revolutionären ausgemerzt wurde, so kostete es den Gegner doch fast dieselben Opfer. Die Eiserne Ferse veröffentlichte natürlich keine Zahlen. Aber nach einer sehr vorsichtigen Schätzung wurden mindestens hundertdreißigtausend Söldner erschlagen. Die Genossen hatten jedoch keinen Vorteil davon. Statt Hand in Hand mit dem ganzen Land zu gehen, blieben die Revolutionäre allein, und so konnte die ganze Macht der Oligarchie, wenn es Not tat, gegen sie gerichtet werden. Und so geschah es denn auch: stündlich, täglich wurden in endlosen Truppenzügen Hunderttausende von Söldnern nach Chikago geworfen.
Und das Volk des Abgrunds war so zahlreich. Des Schlachtens müde, begannen die Soldaten ein großes Herdentreiben, in der Absicht, den Straßenpöbel in den Michigan-See zu jagen. Zu Beginn dieses Treibens trafen Garthwaite und ich den jungen Offizier. Das Herdentreiben misslang tatsächlich dank der glänzenden Arbeit der Genossen. Statt der großen Herde, die sie zusammenzutreiben gedachten, jagten die Söldner nicht mehr als vierzigtausend der Unglücklichen in den See. Wenn sie den Pöbel in der Hand hatten und gegen den See trieben, machten die Genossen hin und wieder einen Entlastungsangriff, und durch das Loch, das in dem einschließenden Netz entstand, entkamen viele.
Ein Beispiel hierfür sahen Garthwaite und ich gleich nach unserer Begegnung mit dem jungen Offizier. Ein Teil des Pöbels - es war derselbe, unter dem wir uns befunden hatten — wurde zurückgedrängt; die Flucht nach Süden und Osten war ihm durch starke Truppenabteilungen abgeschnitten. Im Westen verlegten ihnen die Soldaten, bei denen wir waren, den Weg. Der einzige Weg, der frei blieb, war der nach Norden, und der ging nach dem See, durch das Feuer der Maschinengewehre von Osten, Westen und Süden hindurch. Ob das Volk ahnte, dass es nach dem See getrieben wurde, oder ob es nur blindes Glück war, weiß ich nicht; jedenfalls aber schwenkte es durch eine Querstraße ab, ging dann in der nächsten Straße wieder zurück und gelangte, südwärts gehend, wieder in das große Arbeiterviertel.
Garthwaite und ich versuchten zu dieser Zeit, aus der Zone der Straßenkämpfe herauszugelangen, aber wir kamen erst recht wieder mitten hinein. An der Ecke sahen wir den brüllenden Mob gegen uns anrücken. Wir wollten gerade forteilen, als Garthwaite mich am Arm packte und vor den Rädern eines halben Dutzends mit Maschinengewehren bewaffneter Automobile, die herangesaust kamen, zurückzog. Dahinter kamen Soldaten mit Gewehren. Als sie ihre Stellung einnehmen wollten, stieß der Mob auf sie, und es schien, als sollten sie überwältigt werden, ehe sie in Tätigkeit treten konnten.
Hier und dort schoss ein Soldat sein Gewehr ab, aber dieses vereinzelte Schießen machte keinen Eindruck auf den Mob. In tierischer Raserei brüllend, kam er an; es schien, als könnten die Maschinengewehre nicht eingesetzt werden. Die Automobile, auf denen sie aufmontiert waren, blockierten die Straße, und die Soldaten mussten sich auf den Bürgersteigen postieren. Immer mehr drängten sich von hinten nach, und es war unmöglich, herauszugelangen. Garthwaite hielt mich fest am Arm, und wir drückten uns eng an die Front eines Hauses.
Der Mob war keine zehn Meter mehr entfernt, als die Maschinengewehre ihr Feuer eröffneten; aber vor diesem todbringenden Feuer konnte nichts leben bleiben. Der Mob stürmte an, konnte aber nicht weiter. In einem Haufen, einem Hügel, einer ungeheuren, immer noch wachsenden Woge von Toten und Sterbenden türmte er sich auf. Die Nachkommenden drängten vorwärts, und die Kolonne schob sich von Rinnstein zu Rinnstein ineinander. Verwundete, Männer und Frauen, wurden über den Kamm der furchtbaren Woge hinweggeworfen und fielen, sich windend, nieder, bis sie sich unter den Rädern der Automobile wälzten. Dann wurden die Unglücklichen von den Soldaten mit den Bajonetten durchstochen; ich sah jedoch, wie einer von ihnen auf die Füße kam und einem Soldaten mit den Zähnen an den Hals fuhr. Beide, Soldat und Sklave, gingen gemeinsam in dem Getümmel unter.
Das Schießen ließ nach. Die Arbeit war getan. Der Mob hatte seinen wilden Durchbruchsversuch aufgeben müssen.
Es erging Befehl, die Räder der Kriegsautomobile freizumachen. Sie konnten nicht über die Todeswogen hinweggelangen und sollten doch die Straße hinabfahren. Die Soldaten waren noch dabei, die Leichen vor den Rädern fortzuziehen, als das verhängnisvolle Ereignis eintrat. Wir erfuhren später den Hergang. An der nächsten Ecke hatten unsere Genossen ein Haus besetzt. Über Dächer und andere Häuser drangen sie vor, bis sie an eine Stelle kamen, von der sie auf die dichtgeschlossenen Soldatenmassen hinabsehen konnten. Und dann begann das Gegengemetzel.
Ohne Warnung kam vom Dach des Gebäudes ein Hagel von Bomben herab. Die Automobile und eine Menge Soldaten wurden in Stücke gerissen. Wir selbst flohen mit den Überlebenden wie wahnsinnig zurück. An der nächsten Ecke eröffnete ein anderes Haus das Feuer auf uns. Hatten die Soldaten früher die Straße mit toten Sklaven bedeckt, so bildeten sie jetzt bald selbst eine solche Decke. Garthwaite und ich schienen gegen den Tod gefeit zu sein. Wie zuvor suchten wir jetzt Schutz in einem Toreingang. Diesmal wurde er nicht unversehens überfallen. Als das Krachen der Bomben aufhörte, blickte Garthwaite die Straße hinab.
»Der Mob kommt wieder«, rief er mir zu. »Wir müssen fort.«
Hand in Hand flohen wir den blutigen Bürgersteig hinab und suchten schlüpfend und gleitend die Ecke zu erreichen. In der Nebenstraße sahen wir noch einige laufende Soldaten. Es widerfuhr ihnen nichts. Der Weg war frei. Wir machten daher einen Augenblick halt und blickten uns um. Der Mob rückte langsam vor. Er bewaffnete sich eifrig mit den Gewehren der Gefallenen und tötete die Verwundeten. Wir sahen, wie der junge Offizier, der uns gerettet hatte, starb. Er stützte sich mühsam auf den Ellbogen und schoss seine automatische Pistole ab.
»Da geht meine Aussicht auf Beförderung dahin«, Garthwaite lachte, als ein Weib, ein Schlachtermesser schwingend, auf den verwundeten jungen Mann eindrang. »Kommen Sie. Es ist die falsche Richtung, aber irgendwo kommen wir schon heraus.«
Wir flohen ostwärts durch die stillen Straßen, an jeder Ecke auf neues Unheil vorbereitet. Im Süden loderte ein ungeheurer Brand am Himmel, und wir wussten, dass das große Arbeiterviertel in Flammen stand. Zuletzt sank ich auf den Bürgersteig; ich war erschöpft und konnte nicht weiter. Ich war krank und zerschlagen, und alle Glieder schmerzten. Aber ich konnte mich doch eines Lächelns nicht erwehren, als Garthwaite, der sich eine Zigarette drehte, sagte:
»Ich weiß, ich bringe bei Ihrer Rettung alles durcheinander, aber ich finde weder Anfang noch Ende von der Situation. Es ist alles wie Kraut und Rüben. Jedes Mal, wenn wir hinauswollen, geschieht etwas, und wir werden zurückgetrieben. Wir sind hier nur ein paar Ecken von der Stelle entfernt, wo ich Sie aus dem Torweg herausholte. Freund und Feind sind ein einziges Durcheinander, ein Chaos. Man weiß nicht, wer in den verwünschten Häusern steckt. Wenn man es wissen will, kriegt man eine Bombe auf den Kopf. Wenn man friedlich seines Weges geht, rennt man in den Mob hinein und wird durch die Maschinengewehre getötet, oder man rennt in die Söldner hinein und wird von seinen eigenen Genossen oben auf dem Dache totgeworfen. Und obendrein kommt der Mob und schlägt einen tot.«
Er schüttelte traurig den Kopf, zündete sich die Zigarette an und setzte sich neben mich.
»Und einen Hunger habe ich«, fügte er hinzu, »ich könnte Kieselsteine essen.«
Im nächsten Augenblick war er aufgesprungen und suchte auf der Straße einen Kieselstein, mit dem er das Schaufenster hinter uns einschlug.
»Es ist zwar das Erdgeschoß und kein gutes«, erklärte er, indem er mir durch das entstandene Loch half. »Aber es ist das Beste, was wir tun können. Sie schlafen ein bisschen, und ich gehe auf Erkundigung aus. Ich habe es übernommen, Sie zu retten, und das werde ich auch zu Ende bringen, aber ich brauche Zeit dazu, Zeit, eine Menge Zeit — und etwas zu essen.«
Es war ein Sattlerladen, in dem wir uns befanden, und er richtete mir in dem dahinterliegenden Privatbureau aus Pferdedecken ein Lager her. Zu all meinem Elend bekam ich jetzt noch heftige Kopfschmerzen, und ich war froh, dass ich die Augen schließen und versuchen konnte, zu schlafen.
»Ich komme wieder«, lauteten seine Abschiedsworte. »Ich habe zwar gar keine Hoffnung, ein Auto zu bekommen, aber etwas zu essen bringe ich ganz bestimmt.«
Ich sollte Garthwaite erst nach drei Jahren wieder sehen. Statt wiederzukommen, wurde er mit einem Lungenschuss und einem Schuss in die Fleischteile des Halses ins Krankenhaus gebracht.
Seit der Nacht, in der ich von New York nach Chikago gereist war, hatte ich die Augen nicht mehr geschlossen. Und daher sowohl wie infolge meiner Erschöpfung fiel ich in einen tiefen Schlaf. Garthwaite war nicht zurückgekehrt. Ich hatte meine Uhr verloren und wusste nicht, wie spät es war. Wie ich noch mit geschlossenen Augen dalag, hörte ich wieder denselben dumpfen Ton entfernter Explosionen. Die Hölle war immer noch los. Ich kroch durch den Laden nach vorn. Der Widerschein der ungeheuren Brände machte die Straße fast taghell. Man hätte die feinste Schrift mit Leichtigkeit lesen können. Einige Straßen weiter ertönte das Krachen von Handgranaten und das Rattern der Maschinengewehre, und aus der Ferne hörte man eine lange Reihe schwerer Explosionen. Ich kroch wieder auf meine Pferdedecken und schlief weiter.
Als ich das nächste Mal erwachte, fiel ein schwacher, gelblicher Schimmer herein. Es war die Dämmerung des zweiten Tages. Ich kroch nach vorn, ein rauchiger, von bleichen Strahlen durchschossener Dunst erfüllte die Luft. Auf der anderen Seite der Straße wankte ein unglücklicher Sklave. Die eine Hand drückte er gegen die Seite, und hinter ihm sah ich eine Blutspur. Seine Augen wanderten argwöhnisch und furchtsam umher. Einmal blickte er gerade zu mir herüber, und ich sah auf seinem Gesicht den stumpfen Ausdruck des verwundeten und gehetzten Tieres. Er sah mich, aber zwischen uns gab es keine Verwandtschaft, keinerlei Verständnis; so kauerte er sich denn nieder und schleppte sich weiter. Er erwartete keine Hilfe mehr in Gottes Welt. Er war ein Sklave in dem großen Sklaventreiben, das die Herren veranstalteten. Alles, was er erhoffte, wonach er ausschaute, war eine Höhle, um hineinzukriechen und sich wie ein Tier zu verstecken. Das scharfe Rasseln eines vorbeifahrenden Krankenwagens an der Ecke gab ihm einen Ruck. Aber für seinesgleichen waren die Krankenwagen nicht da. Mit schmerzlichem Stöhnen warf er sich in einen Torweg. Eine Minute später kam er wieder heraus und wankte verzweifelt weiter.
Ich legte mich wieder auf meine Pferdedecken und wartete eine Stunde auf Garthwaite. Meine Kopfschmerzen waren nicht vergangen. Im Gegenteil, sie wurden immer schlimmer. Nur mit größter Anstrengung war ich imstande, die Augen zu öffnen und mich umzusehen. Und das Öffnen der Augen und das Umschauen verursachte mir einen unerträglichen Schmerz. Dazu klopfte das Blut heftig in meinem Hirn. Krank und schwindlig kroch ich durch das zersplitterte Fenster und suchte instinktiv und tappend einen Ausweg aus dem schrecklichen Schlachthaus. Und dann hatte ich einen Alp. Meine Erinnerung an das, was in den folgenden Stunden vorging, ist wie die Erinnerung an schwere, von Alpdrücken begleitete Träume. Viele Ereignisse haben sich meinem Gehirn scharf eingeprägt. Aber zwischen diesen unauslöschlichen Bildern liegen Zwischenräume, die mir völlig aus dem Bewusstsein entschwunden sind. Was in ihnen geschah, weiß ich nicht und werde es auch nie wissen.
Ich erinnere mich, dass ich an der Straßenecke über die Beine eines Menschen stolperte. Es war der arme gehetzte Unglückliche, der sich an meinem Versteck vorbeigeschlichen hatte. Wie deutlich sehe ich noch seine armen, jämmerlichen, knorrigen Hände, die auf dem Pflaster lagen — Hände, die eher Hufen und Klauen als Händen glichen, die ganz verzerrt und entstellt waren durch die Arbeit eines Lebens, und die auf der Innenseite eine schwielige, wohl einen halben Zoll dicke Hornhaut hatten. Und als ich mich aufraffte und weiterging, blickte ich dem Unglücklichen in das Gesicht und sah, dass er noch lebte, denn seine Augen sahen mich stumpf an, und sie sahen mich wirklich.
Dann kam ein freundliches Nichts. Ich wusste und sah nichts, ich humpelte nur weiter, ohne Rettung zu finden. Meine nächste traumhafte Erscheinung war eine stille Totenstraße. Ich stand plötzlich in ihr, so wie ein durchs Land streichender Wanderer auf ein fließendes Gewässer stoßen mag. Nur dass der Fluss, den ich anstarrte, nicht weiter floss. Er war im Tode erstarrt. Von Bürgersteig zu Bürgersteig lag er ganz eben da, nur hier und da ragte ein Klumpen oder ein Hügel von Körpern über die Oberfläche heraus. Das arme gehetzte Volk des Abgrunds, diese gejagten Sklaven — sie lagen da wie die Hasen in Kalifornien nach einer Treibjagd(1). Ich sah die Straße hinauf und hinab. Nichts regte sich. Die stillen Häuser schauten aus ihren vielen Fenstern auf das Bild herab. Nur einmal sah ich einen Arm sich in dem Totenfluß bewegen. Ich schwöre, dass ich ihn sich bewegen, sich wie in heftigstem Schmerz winden und gleichzeitig einen Kopf sich heben sah, der blutbefleckt in namenlosem Schrecken unverständliche Laute sprach, dann wieder zurücksank und sich nicht mehr regte.
Ich erinnere mich einer anderen Straße mit stillen Häusern zu beiden Seiten und eines Schreckens, der mir zum Bewusstsein kam, als ich wieder das Volk des Abgrunds sah. Diesmal jedoch in einem Strom, der floss und näher kam. Aber ich merkte, dass man ihn nicht zu fürchten brauchte. Der Strom bewegte sich langsam, und ihm entstiegen Seufzer und Klagen, Flüche und greisenhaftes, hysterisches, wahnsinniges Schwatzen, denn es waren die ganz Alten und die ganz Jungen, die Schwachen, Kranken und Hilflosen, die Überreste des Arbeiterviertels. Der Brand ihrer Wohnstätten im Süden hatte sie in die Hölle der Straßenkämpfe getrieben, und wohin sie sich wandten und was aus ihnen geworden ist, weiß ich nicht und habe ich nie erfahren(2).
Ich habe eine dunkle Erinnerung, dass ich ein Schaufenster einschlug und mich in einem Laden versteckte, um dem von Soldaten verfolgten Mob zu entrinnen. Einmal krepierte dicht neben mir eine Bombe. Wohin ich aber auch sah, nirgends konnte ich ein menschliches Wesen erblicken. Meine nächste deutliche Erinnerung setzt ein beim Krachen eines Gewehrschusses und der plötzlichen Wahrnehmung, dass ein Soldat von einem Automobil auf mich schoss. Die Kugel ging fehl, und im nächsten Augenblick rief ich die Parole und gab die Zeichen. Meine Erinnerung an die Fahrt in dem Automobil ist sehr getrübt, wenn auch durch ein lebendiges Bild unterbrochen. Das Krachen des Gewehrs des neben mir sitzenden Soldaten zwang mich, die Augen zu öffnen, und ich sah, wie George Milford, den ich von der Pell-Street kannte, langsam auf den Bürgersteig niedersank. In diesem Augenblick schoss der Soldat noch einmal, und Milford brach zusammen. Sein Körper überschlug sich und fiel zuckend zu Boden. Der Soldat lachte, und das Automobil fuhr weiter.
Das nächste, dessen ich mich entsinne, ist, dass ein Mann, der dicht neben mir auf und ab ging, mich aus tiefem Schlummer weckte. Sein Ausdruck war abgehetzt und gespannt, und von seiner Stirn tropfte der Schweiß auf die Nase. Die eine Hand presste er fest an die Brust, und während er ging, tropfte Blut auf den Fußboden. Er trug Söldneruniform. Von draußen klang, wie durch dicke Mauern, das gedämpfte Donnern platzender Bomben. Ich befand mich in einem Hause, von dem aus mit einem anderen gekämpft wurde.
Ein Arzt kam herein, um den Verwundeten zu verbinden, und ich hörte, dass es zwei Uhr nachmittags war. Meine Kopfschmerzen hatten sich nicht gebessert, und der Arzt gab mir ein Pulver, das mein Herz beruhigen und mir Erleichterung bringen sollte. Ich schlief wieder, und das nächste, was ich von mir wusste, war, dass ich mich auf dem Dache des Hauses befand. Der Kampf hatte aufgehört, und ich beobachtete den Ballonangriff auf die Festungswerke. Jemand hatte seinen Arm um mich gelegt, und ich lehnte mich fest an ihn. Es erschien mir als eine unzweifelhafte Tatsache, dass Ernst es war, der mich im Arm hielt, und ich wunderte mich, dass sein Haar und seine Augenbrauen so arg versengt waren.
Es war der reine Zufall, dass wir uns in dieser schrecklichen Stadt gefunden hatten. Er ahnte nicht, dass ich New York verlassen hatte, und als er durch das Zimmer kam, in dem ich schlief, glaubte er zuerst nicht, dass ich es war. Dann sah ich nicht mehr viel von der Chicagoer Kommune. Nachdem wir den Ballonangriff beobachtet hatten, führte Ernst mich in das Haus hinein, wo ich den ganzen Nachmittag und die ganze Nacht schlief. Noch einen dritten Tag blieben wir in dem Hause, am vierten aber verließen wir Chikago mit Erlaubnis der Behörden, die Ernst ein Automobil gestellt hatten.
Meine Kopfschmerzen waren fort, aber ich war müde an Leib und Seele. Im Automobil lehnte ich mich gegen Ernst und sah mit teilnahmslosen Augen zu, wie die Soldaten versuchten, den Wagen zur Stadt hinauszuschaffen. Der Kampf tobte noch, wenn auch nur an vereinzelten Stellen. Hier und dort befanden sich noch ganze Distrikte im Besitz unserer Genossen, aber sie waren von starken Truppenmassen umzingelt und bewacht. So wurden die Genossen in hundert Einzelschlingen festgehalten, während ihre Unterwerfung weiter ging. Und Unterwerfung bedeutete Tod, denn es gab keinen Pardon, und die Genossen kämpften heldenhaft bis zum letzten Mann(3).
Jedes Mal, wenn wir uns einer solchen Gegend näherten, schickten uns die Wachen zurück und wiesen uns einen Umweg. Einmal führte der einzige uns offene Weg durch einen brennenden Abschnitt zwischen zwei starken Stellungen der Genossen. Von beiden Seiten hörten wir das Knattern der Gewehre und das Brüllen des Kampfes, während das Automobil sich seinen Weg durch rauchende Trümmerhaufen suchte. Oft waren die Straßen durch Berge von Trümmern gesperrt, und wir wurden zu Umwegen gezwungen. Wir steckten in einem Labyrinth von Trümmern und kamen nur langsam vorwärts.
Die Viehhöfe (das Arbeiterviertel, die Schlachtereien und alles sonstige) waren rauchende Ruinen. Zur Rechten verdunkelte eine Rauchwolke weithin den Himmel — dort gab es nichts als Zerstörung, wie der Soldat uns sagte. Er hatte am Nachmittag des dritten Tages ein Automobil mit Depeschen von dort herein gefahren. Einer der furchtbarsten Kämpfe, sagte er, hätte dort stattgefunden, und viele Straßen seien unpassierbar, weil sich die Gefallenen dort zu Bergen angehäuft hätten.
Als wir an den zertrümmerten Mauern eines Gebäudes in der Gegend der Viehhöfe vorbeifuhren, wurde das Automobil von einer Woge des Todes aufgehalten. Sie glich ganz einer von der See aufgetürmten Woge, und uns war klar, was sich hier ereignet hatte. Als der Mob an der Straßenecke anstürmte, war er von Maschinengewehren, die in der Seitenstraße aufgestellt waren, reihenweise niedergemäht worden. Aber auch die Soldaten hatte ihr Geschick ereilt. Eine glücklich geworfene Bombe musste unter ihnen explodiert sein, der Mob, aufgehalten, bis seine Toten zur Woge wurden, hatte seinen lebendigen Schaum, die kämpfenden Sklaven, vorwärtsgeschleudert. Soldaten und Sklaven lagen nun, zerfetzt und zerrissen, um und über den Trümmern der Maschinengewehre und Automobile.
Ernst sprang aus dem Wagen. Er hatte ein Paar Schultern und einen Kranz weißen Haares gesehen, deren Träger er kannte. Ich achtete nicht darauf, und erst, als er wieder neben mir im Wagen saß und der Wagen anfuhr, sagte er:
»Es war Bischof Morehouse.«
Wir gelangten nun bald ins Freie. Ich warf noch einen Blick auf den raucherfüllten Himmel zurück. Von weither kam der dumpfe Ton einer Explosion. Da presste ich mein Gesicht an Ernsts Brust und weinte leise um die verlorene Sache. Ernst legte zärtlich den Arm um mich.
»Für diesmal verloren, liebes Herz. Aber nicht für immer. Wir haben viel gelernt. Morgen wird unsere Sache, stark in Wissen und Zucht, neu erstehen.«
Das Automobil bog auf einen Bahnhof ein. Hier sollten wir einen Zug nach New York bekommen. Während wir noch auf dem Bahnsteig warteten, donnerten drei Züge in der Richtung nach Chikago vorbei. Sie waren voll gepfropft mit zerlumpten, ungelernten Arbeitern, Volk des Abgrunds.
»Sklavenaushebungen zum Wiederaufbau von Chikago«, sagte Ernst. »Du siehst, in Chikago sind alle Sklaven getötet.«
(1) In jenen Tagen war das Land so wenig bevölkert, dass wilde Tiere oft zur Plage wurden. In Kalifornien hielt sich lange der Brauch des Hasentreibens. An einem bestimmten Tage pflegten alle Landwirte einer Gegend sich zu versammeln und die Hasen zu Tausenden in eine dazu hergestellte Einfriedung zu treiben, wo sie dann von Männern und Knaben erschlagen wurden.
(2) Man hat lange Zeit darüber gestritten, ob der Brand des Arbeiterviertels im Süden zufällig erfolgte oder eine Tat der Söldner war; jetzt aber steht endgültig fest, dass das Feuer von den Söldnern auf Befehl ihrer Führer angelegt wurde.
(3) Zahlreiche Häuser hielten sich mehr als eine Woche, eines sogar über elf Tage. Jedes Haus musste wie eine Festung gestürmt werden, und die Söldner erkämpften sich ihren Weg von Stockwerk zu Stockwerk. Es waren Kämpfe auf Leben und Tod. Pardon wurde weder gegeben noch genommen, und bei diesen Kämpfen hatten die Revolutionäre den Vorteil, über den Angreifern zu sein. Wenn die Revolutionäre auch getötet wurden, so war der Verlust doch nicht einseitig. Das stolze Proletariat von Chikago machte seinem alten Ruhm Ehre. Denn so viele von den Seinen getötet wurden, so viele tötete es vom Feinde.
Erst als Ernst und ich schon wochenlang in New York waren, konnten wir das Unglück, das über Chikago gekommen war, in seinem ganzen Umfang begreifen. Die Lage war bitter und blutig. An vielen, über das ganze Land verstreuten Orten hatten Sklavenaufstände und Metzeleien stattgefunden. Die Zahl der Märtyrer stieg ins ungemessene. Zahllose Hinrichtungen fanden statt. Berge und Einöden waren voll von Banditen und Flüchtlingen, die erbarmungslos niedergeschossen wurden. Unsere eigenen Zufluchtsorte waren überfüllt von Genossen, auf deren Köpfe man Preise gesetzt hatte. Durch ihre Spione auf unsere Spur gehetzt, hatten die Soldaten der Eisernen Ferse zahlreiche unserer Schlupfwinkel geplündert.
Viele Genossen waren entmutigt und übten Vergeltung durch terroristische Akte. Das Fehlschlagen ihrer Hoffnungen machte sie ganz hoffnungslos und verzweifelt. Viele terroristische Organisationen, mit denen wir keinerlei Verbindung hatten, entstanden und verursachten uns viele Mühe und Sorge(1). Diese missleiteten Menschen opferten mutwillig ihr Leben, machten häufig unsere Pläne zuschanden und hemmten unsere Organisation.
Und durch das alles hindurch schritt die Eiserne Ferse ruhig und besonnen, rüttelte auf der Suche nach den Genossen den ganzen sozialen Bau auf, siebte die Söldner, die Arbeiterkasten und ihren Geheimdienst, strafte ohne Mitleid und Bosheit, duldete schweigend alle Widervergeltung, die an ihr geübt wurde, und füllte die Lücken in ihren Reihen ebenso schnell aus, wie sie entstanden. Und gleichzeitig arbeiteten Ernst und die anderen Führer mächtig an der Reorganisation der revolutionären Kräfte. Die Größe dieser Arbeit kann man ermessen, wenn man bedenkt(2)
(1) Die Annalen dieser kurzen Ära der Verzweiflung bilden eine blutige Lektüre. Rache war das herrschende Motiv, und die Mitglieder der terroristischen Organisation achteten in ihrer Hoffnungslosigkeit das Leben für nichts. Die Daniten, die ihren Namen der Mythologie der Mormonen entnahmen, kamen aus den Bergen im Westen und breiteten sich über die ganze Küste des Stillen Ozeans von Panama bis Alaska aus. Die Walküren waren Frauen, sie waren die furchtbarsten von allen. Keine Frau konnte Mitglied werden, die nicht einen nahen Verwandten durch die Hand der Oligarchie verloren hatte. Sie verpflichteten sich, ihre Gefangenen zu Tode zu martern. Eine andere berühmte Frauenorganisation war die der Kriegswitwen. Eine ähnliche Organisation wie die Walküren bildeten die Berserker. Diese Männer machten sich nichts aus dem Leben, und sie waren es, die die große Söldnerstadt Bellona mit ihrer ganzen Bevölkerung von über hunderttausend Seelen vernichteten. Die Bedlamiten und Höllendamiten gehörten beide derselben Organisation an, während eine neue religiöse Sekte, der jedoch keine lange Blüte beschieden war, sich den »Zorn Gottes« nannte. Unter vielen anderen mögen noch folgende Organisationen erwähnt werden, um zu zeigen, wie tödlich ernst ihnen die Sache war: Die blutenden Herzen, Söhne des Morgens, die Morgensterne, die Flamingos, die drei Triangeln, die drei Riegel, die Rächer, die Komantschen und die Unterweltler.
(2) Hier endet das Manuskript von Avis Everhard. Es bricht plötzlich mitten im Satze ab. Sie muss Nachricht von der Ankunft der Söldner erhalten haben, denn sie hatte Zeit, das Manuskript zu verstecken, ehe sie floh oder gefangen genommen wurde. Es ist sehr zu bedauern, dass sie nicht lange genug lebte, um ihre Erzählung zu Ende schreiben zu können, denn sonst wäre zweifellos das Geheimnis aufgedeckt worden, das seit sieben Jahrhunderten über der Hinrichtung Ernst Everhards ruht.