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Alexandr A. Bogdanow - Der rote Planet (1908)
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8. Die Annäherung

Die Erde entfernte sich immer mehr, und als ob sie vor Trennungsschmerz abmagerte, verwandelte sie sich in eine mondartige Sichel, die von der winzigen Sichel des echten Mondes begleitet wurde. Gleichzeitig wurden wir alle im Sternschiff zu phantastischen Akrobaten, die ohne Flügel bequem im Raum umherfliegen konnten, in waagerechter, senkrechter oder schräger Lage, ganz nach Belieben. Allmählich wurde ich mit meinen neuen Kameraden näher bekannt, und ich fühlte mich freier.
Schon am zweiten Tag nach dem Abflug (wir behielten diese Zeitrechnung bei, obwohl es für uns
keine echten Tage und Nächte mehr gab) zog ich mir aus eigenem Antrieb einen Marsanzug an, um weniger aufzufallen. Allerdings gefiel mir dieser Anzug auch, er war einfach, bequem, ohne alle nutzlosen konventionellen Teile wie Krawatte und Manschetten, und er bot größte Bewegungsfreiheit. Die einzelnen Teile waren durch Verschlüsse miteinander verbunden, so dass sich die Ärmel oder das Oberteil leicht abknöpfen und ausziehen ließen, wenn man das wollte. Die Manieren meiner Mitreisenden ähnelten diesem Anzug: Einfachheit, Verzicht auf alles überflüssige und Konventionelle. Sie begrüßten und verabschiedeten sich niemals, dankten nicht, zogen ein Gespräch nicht aus Höflichkeit in die Länge, wenn das Wesentliche gesagt war, zugleich gaben sie mit großer Geduld jede gewünschte Erklärung, wobei sie sich meinem Auffassungsvermögen anpassten und meine Mentalität berücksichtigten, wie fremd sie ihnen auch sein mochte.
Selbstverständlich begann ich vom ersten Tage an, die Marssprache zu erlernen, und alle übernahmen mit größter Bereitwilligkeit die Rolle eines Lehrers, am häufigsten von allen Netti. Die Sprache ist sehr originell, und trotz der einfachen Grammatik und Wortbildung gibt es in ihr Besonderheiten, die mir schwer eingingen. Die Regeln kennen überhaupt keine Ausnahme, man unterscheidet keine männlichen, weiblichen und sächlichen Substantive, alle Bezeichnungen von Gegenständen und Eigenschaften aber werden nach Zeitformen abgewandelt.
»Welchen Sinn haben diese Formen?« fragte ich Netti.
»Begreifen Sie das nicht? In Ihren Sprachen kennzeichnen Sie Substantive als männlich und weiblich, was sehr unwichtig ist und bei unbelebten Gegenständen sogar ziemlich komisch wirkt. Um wie viel wichtiger ist der Unterschied zwischen Gegenständen, die existieren, und anderen, die es nicht mehr gibt oder die erst entstehen sollen. Die Russen halten ein Haus für einen Mann, und ein Boot für eine Frau, bei den Franzosen ist es umgekehrt — und der Gegenstand selbst ändert sich nicht im mindesten. Aber wenn Sie von einem Haus sprechen, das abgebrannt ist oder das Sie bauen wollen, gebrauchen Sie das Wort in derselben Form, in der Sie von dem Haus sprechen, in dem Sie wohnen. Gibt es denn einen größeren Unterschied als zwischen einem Menschen, der lebt, und einem Menschen, der gestorben ist? Sie brauchen Wörter und ganze Sätze, um diesen Unterschied auszudrücken — ist es nicht besser, das einfach zu kennzeichnen, indem man einen Buchstaben an das Wort anfügt?«
Mit meinem Gedächtnis war Netti zufrieden, und da die Lehrmethode meiner Mentoren vorzüglich war, verstand ich bald die Marssprache. Das half mir, meinen Reisegefährten näher zu kommen — ich bewegte mich mit immer größerer Sicherheit im Sternschiff, ging in die Kajüten und Laboratorien und fragte nach allem, was mich bewegte.
Sternis Gehilfe, der junge Astronom Enno, ein munterer und fröhlicher Bursche, war fast noch ein Kind. Er zeigte mir viele interessante Dinge, wobei er sich nicht so sehr an den Messungen und Formeln begeisterte, die er wie ein echter Meister beherrschte, als vielmehr an der Schönheit der beobachteten Himmelskörper. Mir war wohl ums Herz bei dem jugendlichen Astronomen und Poeten, und das natürliche Bedürfnis, sich im Weltraum zu orientieren, ließ mich viel Zeit bei Enno und seinen Teleskopen verbringen.
Einmal zeigte mir Enno den winzigen Planeten Eros, dessen Umlaufbahn teils zwischen Erde und Mars verläuft und teils im Gebiet der Asteroiden liegt. Obwohl der Eros einhundertfünfzig Millionen Kilometer von uns entfernt war, ähnelte die Photographie unter dem Mikroskop einer Mondkarte. Natürlich ist der Eros ebenso öde wie der Mond.
Ein andermal photographierte Enno einen Meteoritenschwarm, der mehrere Millionen Kilometer entfernt an uns vorbeizog. Die Aufnahme zeigte verständlicherweise nur ein Nebelgebilde. Bei der Gelegenheit erzählte mir Enno, dass ein Sternschiff, das zur Erde fliegen wollte, in einen solchen Schwärm geraten war. Die Astronomen, die das Sternschiff durch die stärksten Teleskope verfolgten, hatten nur gesehen, wie sein elektrisches Licht erlosch.
»Wahrscheinlich haben mehrere Meteoriten mit riesiger Geschwindigkeit die Wände des Sternschiffs durchbohrt. Die Luft ist ausgeströmt, und die Weltraumkälte hat die bereits toten Körper der Besatzung gefroren. Jetzt fliegt dieses Sternschiff auf einer Kometenumlaufbahn, es entfernt sich von der Sonne, und das Ende dieses Gespensterschiffs voller Leichen ist ungewiss.«
Bei diesen Worten drang die Kälte der ätherischen Wüsten bis in mein Herz. Mir wurde bewusst, dass unser Sternschiff eine winzige bewohnte Insel inmitten eines grenzenlosen toten Ozeans war. Ohne jeglichen Halt bewegte sie sich mit schwindelerregender Schnelligkeit durch die schwarze Leere. Enno erriet meine Gedanken.
»Menni ist ein verlässlicher Steuermann«, sagte er, »und Sterni macht keine Fehler. Und der Tod... Sie sind ihm in Ihrem Leben wahrscheinlich schon begegnet... ist nur der Tod, nicht mehr.«
Sehr bald sollte die Stunde kommen, in der ich mich unter quälendem seelischem Schmerz an diese Worte erinnern würde.
Der Chemiker Letta war ein besonders sanfter und feinsinniger Mensch. Wie Netti gesagt hatte, besaß er enorme Kenntnisse auf einem Gebiet, das mich fesselte — dem Bau der Materie. Allein Menni war noch kompetenter als Letta, aber ich bemühte mich, diesen großen Mann nicht zu behelligen, da seine Zeit zu kostbar für die Wissenschaft wie für die Expedition war, als dass ich das Recht besessen hätte, ihn von seiner Arbeit abzuhalten. Der gutmütige alte Letta zeigte angesichts meiner Unwissenheit eine schier unerschöpfliche Geduld; mit größter Liebenswürdigkeit und sogar sichtbarer Zufriedenheit erklärte er mir die Anfangsgründe seines Fachs, so dass ich mich niemals geniert fühlte.
Letta hielt für mich als einzigen Hörer eine Reihe von Vorlesungen, in denen er den Bau der Materie behandelte. Die Ausführungen wurden stets mit Experimenten illustriert. Viele hierher gehörende Versuche musste er jedoch auslassen, da sie in Form einer Explosion verlaufen wären.
Einmal kam Menni während eines solchen Vortrags ins Laboratorium. Letta hatte gerade ein sehr interessantes Experiment beschrieben und wollte es nun demonstrieren.
»Seien Sie vorsichtig«, warnte ihn Menni. »Dieses Experiment hat bei mir einmal ungut geendet. Wenn der Stoff, den Sie zerlegen, nur die kleinste Unreinheit aufweist, kann er beim Erhitzen explodieren.«
Letta wollte auf das Experiment verzichten, aber Menni, der mir gegenüber stets entgegenkommend war, bot seine Hilfe an. Beide prüften sorgfältig den Stoff, und das Experiment gelang vortrefflich.
Am nächsten Tag wollte Letta mit dem gleichen Stoff experimentieren. Er nahm ihn aus einem anderen Behälter. Als er die Retorte ins Elektrobad stellte, sagte ich ihm das. Beunruhigt ging er zu dem Schrank mit den Reagenzien, schaltete jedoch das Etektrobad nicht aus. Es stand auf einem Tisch an der Wand, die gleichzeitig die Außenwand des Sternschiffs war.
Plötzlich ertönte ein betäubendes Krachen, gefolgt von einem durchdringenden Pfeifen und metallischem Klirren. Wir wurden beide an die Schranktür geschleudert. Die gewaltige Kraft eines Hurrikans zog mich zur Außenwand. Automatisch packte ich einen Griff, der am Schrank befestigt war, und hing nun, vom Luftstrom gehalten, waagerecht. Letta erging es ebenso.
»Halten Sie sich fest«, rief er mir zu. In dem Rauschen hörte ich seine Stimme kaum. Schneidende Kälte durchdrang meinen Körper.
Letta blickte sich schnell um. Sein Gesicht war totenbleich, aber die Fassungslosigkeit verwandelte sich rasch in klares Denken und feste Entschlossenheit. Er sagte nur zwei Worte — ich konnte sie nicht hören, erriet aber, dass das ein Abschied für immer war —, und seine Hände lösten sich vom Griff.
Ein dumpfer Schlag, und das Heulen des Hurrikans verstummte. Ich spürte, dass ich den Griff loslassen konnte, und blickte mich um. Der Tisch war zertrümmert, und Letta stand steif da, den Rücken an die Wand gepresst. Seine Augen waren weit geöffnet, das Gesicht war erstarrt. Ich sprang zur Tür und öffnete sie. Ein Schwall warmer Luft warf mich zurück. Eine Sekunde später kam Menni ins Laboratorium und ging schnell zu Letta.
Bald war der Raum voller Menschen. Netti schob alle beiseite und stürzte zu Letta. Alle umringten uns in aufgeregtem Schweigen.
»Letta ist tot«, sagte Menni. »Durch die Explosion wurde die Außenwand durchschlagen, und Letta hat das Loch mit seinem Körper abgedeckt. Der Luftdruck hat die Lungen zerrissen, der Tod ist sofort eingetreten. Letta hat unseren Gast gerettet - sonst wären beide gestorben.« Netti schluchzte leise.

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