FLIEGENDER SOMMER
Peter und Karl waren zwei kleine Wesen, die jenen Tiefen angehörten, wohin die Sonne nicht so selbstverständlich hinabreicht. Die Welt dort unten hat sich aufs Selbstleuchten eingerichtet und führt allen Glanz selber bei sich; und daher kam es, dass sich die beiden für Schoßkinder des Glücks halten und dennoch ständig das Gefühl haben konnten, dass sie noch alles zugute hätten. Im Übrigen hausten sie mit der Mutter zusammen in einem finsteren Loch der Siedlung des Ärztevereins und waren der allgemeinen Zeitrechnung nach neun und acht Jahre alt. Dies bedeutete kurz und gut, dass so viel Zeit verflossen war, seitdem sie in den leeren Raum eingetreten waren und ihre Verantwortung zugeteilt bekommen hatten. Es lagen keine Zinnsoldaten in Schachteln und warteten auf die beiden, aber das Glück ließ sich in Form von Brotrinden erhaschen, wenn man es günstig traf; sie brauchten nicht sehr lange, sich zu orientieren. Sie erkannten von vornherein, wie zwecklos es wäre, mit Geschrei etwas einfordern zu wollen, und gingen sogleich daran, sich selber zu versorgen.
Mit der Orientierung war es sehr leicht, sie bestand aus nichts weiter als der Erkenntnis, dass es an allem mangelte, und mit dieser Erkenntnis waren sie zu einem Teil geboren. Umso stärkeren Nachdruck konnten sie auf die Versorgung legen.
Was ihren Erzeuger betrifft, so hatte er sie völlig im Stich gelassen und sich ins Rätselhafte zurückgezogen — wie ein Gott, der nur zu Besuch auf der Erde gewesen. Seine Existenz war allerdings über jeden Zweifel erhaben, er hatte sie auf Straßenjungenart durch das Erscheinen der beiden Burschen bewiesen — und war wieder in die Wolken verduftet. Andere Spuren hatte er nicht hinterlassen — nicht einmal einen Namen. Wer er auch war,
so hatte er mit göttlicher Großzügigkeit die Süße der Schöpferstunde genossen und sich der Aufrechterhaltung seiner Schöpfung entzogen; nun thronte er irgendwo außerhalb von allem in unsichtbarer Majestät und vergnügte sich damit, ihnen das Dasein unsicher zu machen. Nicht einmal, dass sich die Mutter als Witwe bezeichnete, bot Sicherheit; die Nachbarinnen lächelten bloß, und es schien, als zweifelte sie im Innern selber daran. Sie brauchte Freude wie Furcht von schicksalsschwererer Art, als die tägliche Plackerei sie ihr zu bieten vermochte, und deshalb war es der Kraft, die die Wasser ihrer kleinen Welt voneinander geschieden hatte, erlaubt, als eine dunkle Verheißung über dem Ganzen zu schweben. Bald hing es dumpf über ihnen als eine Macht, die jeden Augenblick daherkommen und ihre armseligen Brocken aufs Leihhaus schleppen konnte, bald wieder war es das Glück selber, das übers Meer zu ihnen allen dreien heimkehren würde.
Im Gegensatz zu diesem war sie den beiden Jungen die Handgreiflichkeit selbst, die einzige, worauf sie sich unter allen Umständen verlassen konnten; sie war gut und sicher wie die Erde, die sie traten. Das übrige war einstweilen Leere, die sie nach ihren Fähigkeiten ausfüllen durften.
Von Geburt an waren sie mit einem unerschöpflichen Vorrat von Geduld ausgestattet, und während die Mutter auf Arbeit war, saßen sie abgestützt jeder in seiner Ecke des alten Sofas und glotzten einander mit jenem Ausdruck bodenloser Erfahrung an, die die Armut als Wiegengabe spendet. Sie sagten ba-ba mit einer ganzen Welt von Betonungen, puhlten mit den kleinen Fingern die Polsterung aus der Sofalehne und pochten sich mit dem alten Holzlöffel, woran sie ihre Milchzähne hervorbeißen sollten, an die Stirn — und alles das, um den leeren Raum auszufüllen. Und wenn sie nicht mehr konnten, weinten sie sich in den Schlaf. Dann und wann kam die Mutter auf einen Sprung von der Arbeit nach Hause gelaufen, um nach ihnen zu sehen, und jedes Mal hatten sie diesen oder jenen Fortschritt ins Wunderbarliche getan.
Eines Tages hatte der älteste das Dasitzen und Zugucken satt;
er ließ sich über das Sofaende auf den Kopf hinunterfallen und richtete sich mit Hilfe des Tischbeines wieder auf. Als die Mutter heimkam, war sein kleiner Schädel dick wie ein Kissen — aber er konnte gehen! Und als die Zeit ein bisschen weiter fortgeschritten war, konnte er anfangen, Zeitungen auszutragen.
Jetzt waren sie, wie gesagt, acht und neun Jahre und hatten schon lange ihren Teil an der Versorgung übernommen.
Anscheinend war es ein ganz gewöhnlicher Tag. Die Sonne schien mit einer gewissen ausgelassenen Freude, die in der Spatzenschar der Siedlung ihren unbezähmbaren Widerhall fand; sonst war alles, wie es zu sein pflegte. Um fünf Uhr früh war die Mutter wie gewöhnlich zur Arbeit gegangen; um sechs Uhr klopfte die Nachbarsfrau, Madame Hygum, an die Wand, und die beiden Jungen standen auf und begannen ihren Tag mit gutem Humor. Peter machte nach verbrachter Nacht das Zimmer in Ordnung und holte dem Gemüsehändler seinen Tageseinkauf nach Hause, während Karl in die Ryesgade ging und der Zeitungsfrau die schlimmsten Treppen abnahm.
Jetzt waren die Morgenpflichten überstanden, und sie saßen in der engen Küche und aßen ihr Schmalzbrot. Mit der Frische war es vorbei, sie schwatzten nicht sorglos drauflos und traten nicht in müßigem Drang nach Beschäftigung mit den Beinen, sondern hockten träge über ihren Schmalzbroten — als hätten sie plötzlich die Sinnlosigkeit des Draufgängertums erkannt. Das Tempo war abgeflaut. Auch dies war nichts Ungewöhnliches, es wiederholte sich jeden Tag um diese Zeit; es kam als eine plötzliche allgemeine Erschlaffung über sie.
Müdigkeit war es nicht. Sie waren bereits sehr abgehärtet, die Anstrengungen des Morgens wirkten bloß als ein munterer Auftakt zum Tage. Jede Stunde des Tages ließ sich auf hunderterlei verschiedene Arten herrlich anwenden, die alle zusammen sie selbst und ihr armseliges kleines Heim zum Mittelpunkt hatten. Eine ganze kleine Welt hatten sich sie und die Mutter inmitten der Leere aufgebaut, mühselig zusammengetragen aus Abfällen des großen Sonnensystems; diese Welt war nicht dem großen Ganzen angeschlossen, sondern ging ihren eigenen Weg im Weltenraum -kraft ihrer eigenen ärmlichen Mittel; es kostete nie versiegende Anstrengung, sie aufrechtzuerhalten und vor Zusammenstößen zu bewahren. In ihren emporgestreckten kleinen Händen trugen sie bereits den Hauptanteil und fühlten sich glücklich dabei.
Aber nun hatte sich kürzlich eine große Hand von außen her nach ihnen ausgestreckt; sie durften nicht mehr frei umherstreifen, sondern sollten dem System eingefügt werden. Zum ersten Male merkten sie, dass irgend jemand für sie und ihresgleichen einen Gedanken übrig hatte; aber vorläufig äußerte sich diese Anteilnahme ausschließlich in der widerwärtigen Folter, dass sie jeden Vormittag einige Stunden lang auf einer Bank stillsitzen und den Staub all dessen einatmen mussten, was andere im Verlauf der Zeiten geleistet hatten, während ihre eigenen Angelegenheiten sämtlich ruhten. Obendrein erhob dieser Eingriff den Anspruch, als Wohltat aufgefasst zu werden. Wenn sie am Nachmittag herauskamen, hatte sich die Arbeit tüchtig angehäuft, und sie stürzten sich Hals über Kopf in sie hinein, um den Staub von sich abzuspülen.
Die beiden Jungen wussten sehr wohl, dass es etwas gab, was Gesellschaft hieß. Das hatte etwas mit all denen zu tun, die ihre Mittagsmahlzeiten für eine ganze Woche im Voraus festsetzen konnten. Sie waren sich von allem Anfang an darüber klar, dass sie selber nicht dazu gehörten — und hatten sich dementsprechend eingerichtet; ein dunkler Begriff von Gerechtigkeit sagte ihnen auch, dass man der Gesellschaft unmöglich etwas schulden könne, wenn man sich von Geburt an auf eigene Faust mit seinem Hunger und seinen Entbehrungen abgefunden hatte.
Doch hinter diesem unklaren Wissen stand ein anderes, das nicht selbst erworben war, sondern tiefer wurzelte—und für zwei kleine Bürschlein eigentlich viel zu groß und unhandlich war. Es war ebenso wenig handgreiflich wie die Furcht vor der Dunkelheit und stand wie eine Warnung vor den unsichtbaren Gefahren, die auf allen Seiten lauerten; es war dasselbe, was die Mutter und die beiden Jungen in weitem Bogen um alle Wohltätigkeitsveranstaltungen herumgehen und lieber zur Selbsthilfe greifen ließ, wenn ihnen das Messer an der Kehle saß. Unzähliges hatte dazu beigetragen, diese nebelhafte Erkenntnis zu schaffen, die sich nicht auf Erfahrung des einzelnen stützte, sondern gleichsam über ihrer Welt schwebte und selbst das Kind befähigte, die Menschenliebe in ihrer ganzen Tiefe zu durchschauen, bis auf den Grund des Netzes, wo die Spinne lauernd sitzt. Seit sie kriechen konnten, waren sie ständig auf der Hut gewesen und hatten Streicheln wie Knüffe von außen her mit genau demselben eingewurzelten Misstrauen hingenommen; und sie hatten sich lange durchzuhelfen gewusst — waren todkrank gewesen und hatten ohne Dach über dem Kopf im Faelledpark geschlafen —, ohne dass das große Ungeheuer sie gewittert hätte. Jetzt aber riss es plötzlich seinen Rachen über ihnen auf: unter dem armseligen Vorwand, dass sie über sieben Jahre alt seien!
Karl und Peter ließen sich nicht so ohne weiteres verschlucken. Sie besaßen ihre göttliche Einsicht, die ihnen sagte, dass es nicht mit Rücksicht auf ihr Bestes geschähe, wenn man es plötzlich so eilig hatte, sie an den Segnungen der Gesellschaft riechen zu lassen. Beim ersten Lockruf rissen sie aus, scheu wie zwei Füllen, die außerhalb der Hürde geboren sind; die Mutter musste eingespannt werden, um sie hineinzuführen. Für die Jungen wurde es ein fortgesetztes Schuleschwänzen mit darauf folgenden Prügeln, für die Mutter eine endlose Schererei; lange Zeit musste sie ihre Arbeit versäumen und sie zur Schule begleiten, ehe sie sich endlich fügten — in der Hauptsache aus Rücksicht auf sie.
Aber sie ergaben sich nur scheinbar; sie konnten auf die Verteidigungsmethode des Schwächeren zurückgreifen und begannen sofort, sich tot zu stellen. Alles prallte an ihrer undurchdringlichen dicken Dummheit ab. Es war eine heilige Pflicht, die an den beiden Proletarierkindern zu erfüllen war, und so wurde in keiner Hinsicht gespart; die ganze moderne Unterrichtskunst wurde aufgeboten, damit zwei elende Würmchen dem wunderbaren Weg des Lebens durch Zeit und Raum folgen könnten.
Und nicht einmal da brauchten sie haltzumachen. Sie — die von allem, was auf Erden wuchs, auf kein Roggenkörnchen rechtmäßigen Anspruch hatten — konnten, wenn sie wollten, ihre kleinen Seelen über alle Grenzen hinausgeleiten und in ein Verhältnis zur Alliebe und zu Gott selbst bringen lassen. Und es war das eine günstige Gelegenheit, sich die Begriffe vom wahren Menschenwert anzueignen.
Aber sie legten keinen besonderen Wert darauf. Es gab bei alledem immer weniger, womit den Kropf zu füllen, und einen späteren Feierabend, wenn nicht alles der Mutter aufgebürdet werden sollte; und dies beschäftigte sie ernsthaft, während sie gelangweilt die Großtaten der Menschheit mitmachten und zusammen mit der Spitze des Zeigestocks auf der Landkarte um die Erde reisten. Die beiden hatten überdies ganz andere abenteuerliche Reisen gemacht — über hohe Bretterzäune hinweg auf Kohlenplätze, an finsteren Abenden, wenn die Platzhunde los waren und in dem leeren Kachelofen zu Hause jämmerlich die Kälte heulte. Und noch schwierigere Fahrten hatten sie gemacht, ganz hinein ins dunkelste Festland: um Esswaren aufzutreiben, als Mutter krank war! Das war ihr Geheimnis, selbst Mutter kannte es nicht. Das verwies sie ein für allemal auf sich selbst und bestimmte ihr Verhältnis zu dieser neuen Autorität, die mit jeder Miene über die Selbstbehauptung zweier unbeugsamer Jungen den Stab brach und Hungers zu sterben als die höchste Rechtschaffenheit armer Leute hinstellte.
Sie hatten ihre teuer erkauften Auffassungen vom Glück wie vom Leben; davon gingen sie aus und hatten bisher Überschuss dabei gemacht. Kraft irgendeines wunderbaren Prozesses sogen sie Honig aus all der Unfruchtbarkeit um sie herum und setzten ihre bitteren Erfahrungen in einen etwas hartfäustigen Lebensmut um, der zwar mit den Geboten nicht übereinstimmte, dafür aber den Vorteil hatte, dass er ihr eigener war - und dass sich damit leben ließ.
Alles dies verbargen sie tief in ihrem Innern und setzten den anderen ihre harte Stirn entgegen. Wenn Gott der Herr den
Menschen das Gesetz überreichte oder der Engel die Geburt des Heilands verkündete, glotzten sie dumm zum Fenster hinaus, als sei das etwas, was zugunsten der anderen geschehen sei und sie nichts anginge. Aber während sie wie erloschen dasaßen, arbeitete es in ihrem Innern an Plänen zu neuen Einnahmequellen und zur Verbesserung der alten. Man musste über die Bauvorhaben der Stadt ziemlich gut orientiert sein, wenn man jederzeit Bescheid wissen wollte, welcher Zimmerplatz im Augenblick die beste Gelegenheit böte, die Säcke mit Späne zu füllen; und wiederum erforderte es eine ganze Wissenschaft, die Späne mit größtmöglichem Nutzen und ohne unnötiges Gerenne abzusetzen. Es gab genug zu tun.
Der wunderbare große Apparat funktionierte sinnlos über ihre Köpfe hinweg; sie zogen mit einem unerschütterlichen tiefen Ernst, der wie Stumpfsinn wirkte, ihr eigenes trockenes Brot dem Geruch sämtlicher Leckereien des Lebens vor. Es war nichts mit ihnen aufzustellen, sie waren zwei geistig defekte Individuen! Zwei bemitleidenswerte Hinterhofidioten, die man vergebens mit dem Abglanz aller Herrlichkeiten voll stopfte, der das Denken des armen Mannes von dem großen Leeregefühl ablenken soll.
In dieser Erkenntnis gaben die Quälgeister endlich Ruhe, und so ungefähr stand die Sache jetzt. Es war kein Grund anzunehmen, dass sich diese Stellung ändern würde, und insoweit waren die beiden Jungen dankbar deswegen. Es machte ihnen nichts aus, für weniger zu gelten als sie waren, da es die einzige Möglichkeit war, sich und das seinige zu bewahren, und sie betrachteten das Leben auch weiterhin mit vortrefflichem Humor. Nur unmittelbar vor den Schulstunden stellte sich ein kleiner Überdruss ein — bis sie den vormittäglichen Schlafzustand erreicht hatten.
Es war auch heute nicht anders. Die Morgenmahlzeit bedeutete die Schwelle zwischen den beiden Existenzformen; sie kauten sich still in das Joch hinein und glitten dann vom Küchentisch herunter. Ohne ein Wort über das Unabänderliche zu verlieren, schlossen sie die Türe ab und legten den Schlüssel unter die Matte, setzten ihr blödes Gesicht auf und machten sich widerwillig auf den Weg ins Unvermeidliche.
Als sie aus der düsteren Arbeitersiedlung auf den Strandweg hinaustraten, geschah es dem kleineren, dass er nach der falschen Seite einbog und sich dem freien Lande zu in Galopp setzte. Peter kriegte Angst und rannte ihm energisch nach, um ihn auf den richtigen Weg zurückzuführen; aber als er den kleinen schließlich einholte, hatte sich auch in ihm die Richtung festgesetzt, so dass er vergaß, was er eigentlich wollte. Die Sonne stand am Himmel, versprühte ihren Glanz wie irr nach allen Seiten und warf alle festen Vorsätze über den Haufen. Alte Prügelerinnerungen versuchten das Haupt zu erheben, fielen aber matt in sich zusammen; der morgige Tag war so weit weg, dass er auf keine Wirklichkeit Anspruch erheben konnte. Hier aber blinkte der Strandweg in weißem Staub und heißem Sonnenschein und deutete geradenwegs ins Abenteuer.
Dort war das Leben von einer anderen, üppigeren Art — die Sonntage wiesen den Weg! Da wohnten die Leute in Zauberhäusern, die ganz von grünen Gärten umgeben waren, und immer saßen Menschen in den Gärten und aßen von glänzend weißen Tischtüchern — und tranken Wein dazu, so dass es jedermann von der Straße aus sehen konnte. Vielleicht riefen sie sogar einen barfüßigen Jungen zu sich herein und stopften ihn mit feinen Sachen so voll, dass er es nachher wieder erbrechen musste — solches Wunder war schon dagewesen. Im Übrigen aber gab es Zäune mit losen Latten, durch die sich ein flinker Junge wohl hindurchzuzwängen vermochte, um selbst für seinen Anteil an den Dingen zu sorgen. Und sehr weit draußen, wo das Ungeformte begann, da lag die Welt selber als ein großer Wald voll von Tieren. Die Leute, die von daher kamen, brachten rote Schreiballons mit nach Hause und waren immer lustig.
Das alles malten sich die beiden Bürschchen gegenseitig aus, während sie dahin trabten. Der Polizist am Vibenshus merkte sich instinktiv ihr Signalement, und ein großer Wachhund kam herausgefahren und versperrte ihnen unverschämterweise den Weg,
während er sich ihren Geruch ins Gedächtnis schrieb. Mit einer etwas unwilligen Grimasse stieß er die Schnauze erst gegen ihre nackten Beine, dann gegen ihre Kleider, als wollte er damit kundgeben, dass Lumpen immer verdächtig seien, selbst wenn sie von zwei blauäugigen Jünglein getragen werden, die ohne zu blinzeln in Gottes lichten Himmel hineinsehen dürfen. Und damit durften sie für diesmal passieren.
Nun, mit den bloßen Beinen war das auch eine eigene Sache; von den losen Wegschottern hatten die Zehen Löcher bekommen und die Schenkel hinauf liefen verschiedene Schrammen. Die beiden Piraten setzten mit eigentümlichem Misstrauen den Fuß auf die Erde — als habe sie sich noch nicht recht abgekühlt. Es handelte sich aber bloß darum, dass manchmal gerade da, wohin man trat, Glasscherben lagen.
Im Übrigen trugen sie ihre Kluft in heiterer Unkenntnis der Konsequenzen; es sah beinahe aus, als seien sie bis auf weiteres stolz darauf. Sie war auch einzig in ihrer Art, zusammengeflickt aus allem, was die Mutter bei scharfem Ausguck von den Waschkellern der Herrschaften her vor dem Verschwinden im Müllkasten gerettet hatte, und aus dem, was die beiden selbst im Märchengarten der Allerärmsten, auf dem Schuttabladeplatz draußen am Lersö, zutage gefördert hatten.
Den Kopf als das Wichtigste hatte der liebe Gott selber versorgt und ihn mit einem sonnengebleichten dichten Schopf Haare bedeckt, der einen mitten im finstersten Hinterhof noch an korngelbe Äcker erinnerte. Es waren, wie gesagt, schon recht ernsthafte Erfahrungen in ihm gesammelt, einstweilen aber speisten sie nur eine spitzbübische kleine Flamme, die ihnen alle Augenblick aus den Augen züngelte. Die Gesichter waren noch jungfräuliche Erde — aber Erde, die ganz reizend lachen konnte; und mitten aus all diesem Ungeklärten leuchteten als eine überflüssige Verheißung zwei Stückchen blauen Himmels heraus.
Wie sie so im Sonnenschein dahin schlenderten und unter ihren kleinen Füßen mutwillig den Staub hervor blasen ließen, mochten sie — natürlicherweise, ehe man sie vor dem Hintergrund der bestehenden Gesellschaft sah - für zwei blutjunge Götter gelten, die sich sorglos aus nichts selber erschaffen hatten. Und da sie einmal auf der Welt waren und alles Notwendige beschlagnahmt fanden, plünderten sie das Elend selber aus und behängten sich mit der ganzen Beute. Es war kein Wunder, dass sie sich wohlhabend vorkamen. Dies war wohl ihre erste Leistung gewesen, und nun waren sie in ihren wertlosen Trophäen auf dem Weg, sich das Heute zu erobern; hier und da durchbrachen ihre nackten Leiber die Lumpen wie junge Sonne und erweckten die Vorstellung von weiter Bahn. Zwei selbstleuchtende Proletarierkinder, die anderen nicht einen Deut schuldig waren, aber selbst alles zugute hatten; zwei von den Wesen, die in Wirklichkeit niemand kennt, weil sie in großen Tiefen leben! Für eine Weile waren sie an die Oberfläche empor getaucht, um in dem Glanze mitzuspielen, und strahlten selbst von all den seltsamen Farben, die das Dunkel entwickelt.
Alles in allem waren sie reich ausgestattet; das wussten sie, und dieses Bewusstsein fand in den kleinen Körpern seinen plastischen Ausdruck. Das Leben hatte reichlich an sie vergeudet und sie in einem letzten Anfall von Verschwendungssucht auf dem Boden angebracht, vielleicht, damit sie an dem Tage, da das unterste zuoberst gekehrt wird, an die Spitze gelangten.
Sie stapften unverdrossen geradeaus, hielten sich so weit wie möglich im Straßenstaub, der den wunden Füßen wie ein weicher Umschlag war, und waren himmelhoch entzückt von allem, was sie sahen. Es war so reichlich Platz in ihrem Gemüt, jedes kleine Ding ging als ein großes Erlebnis darin ein.
Vor Hellerup entdeckten sie, dass sie hungrig waren. „Das macht die Landluft", sagte Peter großartig, und ausnahmsweise war das einmal eine treffende Erklärung dieser recht alltäglichen Erscheinung. Sie hatten doch wie gewöhnlich ihre morgendlichen zwei Schmalzbrote gegessen und pflegten nichts weiter zu bekommen, bevor sie aus der Schule nach Hause kamen.
Mit Hilfe eines Endchens Stahldraht beraubten sie einen altersschwachen Automaten zweier Tafeln Schokolade und trabten kauend weiter. Der Staub stieg in kleinen Wirbeln zwischen ihren Zehen auf. Den letzten Bissen Schokolade schmierten sie sich ins Gesicht — das war genau so gut wie ein Skalp, falls man Kameraden begegnete, und im Übrigen wirkte es wie Kriegsbemalung, als eine strotzende Herausforderung an alle Welt. Unter leichtem Geheul und die beschmierten Fratzen kühn vorgestreckt marschierten sie drauflos, die Augen begierig auf der Suche nach weiteren Erlebnissen.
Ein gewaltiger Brauereiwagen kam daher gerollt und hüllte die beiden Krieger in seinen Staubschwanz ein; unter dem Wagen tauchten sie wieder auf, ritten der Länge nach auf den Biertonnen, die an Eisenketten zwischen den schweren Rädern schaukeln. Da hingen sie und schaukelten sich halsbrecherisch wie zwei tollgewordene Waldteufel und stießen ein wildes Geheul aus, das von dem Gepolter des Wagens überdröhnt wurde. Oder sie ließen übermütig die Füße im Staube schleppen, um auszuprobieren, ob sie die mächtigen Pferde anhalten könnten. Auf diese Weise gelangten sie nach Skovshoved; dort entdeckte sie der Kutscher und verjagte sie mit der Peitsche.
Auf irgendeine Art schlüpften sie, ohne zerquetscht zu werden, zwischen den Rädern hindurch in den Straßengraben hinab, und das war ein großer Glückszufall. Denn dort fanden sie ein Paket Butterbrote, das irgendjemand — wahrscheinlich ein Schulkind — weggeworfen hatte. Es waren welche mit Käse wie auch mit Wurst dabei — hier war deutlich genug der Eingang ins Schlaraffenland! Sie ließen sich auf der Stelle nieder und genossen das Dasein. Das Butterbrot teilten sie gleich zu gleich, aber Peter, als der Erstgeborene, behielt es sich vor, das Papier abzulecken.
Es wäre unsinnig zu behaupten, dass sie satt waren, denn das waren sie in diesem Leben noch nie gewesen. Aber sie waren näher daran als gewöhnlich, als sie etwas gemächlicher weiterschlenderten.
Wie zwei richtige Vagabunden in Kleinformat sahen sie aus, als sie mit hochgezogenen Schultern dahin trotteten, Peter mit den Händen in den Hosentaschen, und Karl, der noch keine Taschen hatte, mit den kleinen Tatzen in zwei passenden Rissen in der Hosennaht. Es waren ein paar seltsame Risse; jeden Abend heftete Mutter sie zusammen und am nächsten Morgen waren sie von neuem da — als wüssten die Hosen, dass an dieser Stelle Taschen sein sollten. Das einzige, was an den beiden Landstreichern auszusetzen gewesen wäre, war die Größe; noch ließ sich keine Dame durch ihr bloßes Auftauchen auf die andere Straßenseite scheuchen — aber das konnte ja noch kommen! Im Übrigen aber waren sie ganz in ihrem Element und ließen sich von der leichten Sommerbrise treiben, wohin der Zufall es wollte.
Auf diese Weise waren sie durch diese oder jene unbegreifliche Fügung hinter den Villengärten her auf den Strand geraten. Da stand „Privat" auf einer Tafel geschrieben, und Peter machte den ehrlichen Versuch, sich hindurchzubuchstabieren, gab es aber lustigeren Dingen zuliebe wieder auf. Die einzigen Tafeln, die den beiden von wirklichem Interesse waren, waren solche, die vor losgelassenen Hunden warnten, und die hier war nicht von dieser Sorte.
In einer Fahrt hatten sie die Lumpen abgeworfen und nahmen lärmend den blauen Sund in Besitz. Auf der Veranda oben hatten die Damen der Villa ihr Vergnügen daran, die beiden Weltentdecker ausgelassen auf dem Sandgrund umher tollen zu sehen, wild und ungepflegt wie die Spatzen auf der Straße in einem Wassertümpel. Dann aber kam der Herr des Hauses dazu. Er war Stammgast in „Über dem Stall" und erkannte sogleich, dass hier die Sittlichkeit in Gefahr war; die beiden Knirpse wurden weggejagt, während die Damen des Hauses sich eiligst unsichtbar machten.
Nun, die Erde hatte sich nach und nach als über alles Erwarten groß erwiesen, und die beiden hatten nichts dagegen, einen anderen Teil in Augenschein zu nehmen. Im Flüchten zogen sie ihre Lumpen an und machten sich wieder auf den Weg. Weit draußen traten die Wälder hervor, da wollten sie hin; gerade nur so weit, dass sie die Tiere darin sahen und einen Schimmer vom Ende der Welt erhaschten.
Aber mitten im besten Traben hielt Karl plötzlich an. „Nein, sich bloß, Pedder!"
Mitten auf dem Rasenstück eines Villengartens stand ein großer Kirschbaum, zum Brechen voll von Kirschen, und zu Hunderten lärmten und randalierten die Spatzen darin. Sie flogen auf und fielen wieder in ganzen Wolken darauf nieder, zankten sich und plünderten drauflos, dass Früchte und Blätter in großen Büscheln zur Erde fielen. Es war die reine Verschwendung; man konnte deutlich erkennen, dass die sich ihr Essen nicht selber verdienen mussten.
„Die schlingen ordentlich was rein", sagte Peter und leckte sich erinnerungsvoll den Mund. Er hatte dieses Jahr selber schon Kirschen gekostet. Der Obstwagenmann zu Hause in der Siedlung kaufte auf dem Gemüsemarkt die halbfaulen — einen ganzen Handwagen voll für ein paar Kronen — und verkaufte sie auf der Straße weiter. Für eine Besorgung hatte Peter von denen, die auch auf der Straße nicht mehr abzusetzen waren, eine Mütze voll bekommen — und die hatten geschmeckt, na aber! Da war was dran! Man musste mit der Zunge schnalzen, um es richtig auszudrücken.
Karl war bei jener Gelegenheit nicht dabei gewesen und deshalb nicht fähig, die Dinge hier so großzügig zu beurteilen — er beneidete die Spatzen ganz einfach!
„Es sind richtige Schweine", sagte er gekränkt, „die fressen nicht, sie machen nur alles kaputt; die ganze Krone haben sie schon geplündert. — Ob da wohl jemand wohnt, du?"
„Das musst du doch sehen, dass da keiner wohnt, du Dussel! Die Läden sind doch vor."
Sie fanden ein kleines Loch in der Hecke und krochen hinein. Zuerst sammelten sie hübsch die Kirschen auf, die die Vögel herab gerissen hatten; sie waren gewohnt, nichts umkommen zu lassen. Dann kletterten sie auf den Baum und setzten sich bequem zurecht. Ihr behagliches Geplauder hörte rasch auf; stumm, fast feierlich gaben sie sich dem Genusse hin. Die eine Hand sammelte ein, während die andere in den Mund stopfte — ganze
Fäuste voll auf einmal. Die Kerne auszuspucken nahmen sie sich nicht die Zeit, dazu war später Gelegenheit.
Karl hielt plötzlich inne und holte tief Luft; er war noch in dem Alter, wo die Dinge in Worte gefasst werden müssen, um wirklich vorhanden zu sein.
„Das sind Kirschen!" rief er mit einem verzückten Ausdruck
der blauen Augen, „den Teufel auch!--Du, wenn uns jetzt
der Magen aufgeschnitten würde! Da wäre es wie mit dem Wolf — lauter Steine drin!"
Dann legte er von neuem los; Peter grunzte bloß. Ein Schlüssel wurde umgedreht, die Gartentür knarrte; aber sie sahen und hörten nichts, sie waren zu sehr beim Schmausen.
Der Großkaufmann, dessen Familie in diesem Jahr irgendwo in einem Badeort war, wollte nur einmal nach dem Landhaus und seinen geliebten Morellen sehen. Er fluchte erbost, als er den Spatzenfrevel erblickte, erinnerte sich aber rasch, dass er dem Tierschutzverein angehörte, und beherrschte sich. Es war nur ein unbedachter Ausbruch gewesen, seine Miene glättete sich sogleich. Du lieber Gott — die freien Vögel des Himmels, die mussten doch auch leben! Er brummte gutmütig, während er um den Baum herumging, um den Umfang des Schadens festzustellen.
Da fiel sein Auge auf die beiden Bürschchen, die da oben saßen und sich in der wahnsinnigen Hoffnung, unsichtbar zu sein, flach an den Stamm drückten. Er zog die Augenbrauen hoch und war drauf und dran, einen Schlaganfall zu kriegen.
„Ei, ei, das sind ein paar Verbrecherpflänzchen!" schrie er überlaut — „da ist man gerade im rechten Augenblick gekommen! — Herunter mit euch, und zwar sofort, ihr Diebsgesindel!" Seine Stimme klang wie eine Entladung im großen Stil.
Die Jungen rutschten vom Baum herab und machten einen missglückenden Versuch, fortzulaufen. Im Handumdrehen hatte sie der wütende Mensch beim Kragen; er legte keinen Wert darauf, mehr als höchstnotwendig mit ihren Kleidern in Berührung zu kommen; deshalb nahm er ihre Handgelenke in seine Linke
wie in eine Eisenklammer und schwang über ihnen donnernd den Stock.
Es war nicht seine Absicht, selber Gericht abzuhalten. Er war ein gesetzestreuer Mann und wollte der Gerechtigkeit die Strafe überlassen. Gerade weil er diese kleinen Diebspflanzen hasste, die Gott weiß wohin gehörten und niemals ihre Bestimmung erfüllen würden, wollte er die Strafe nicht selber vollziehen, sondern ihnen bloß auf ihrem Weg zur Obrigkeit ein menschliches Wort mitgeben und sich sozusagen der Verantwortung entledigen. Es konnte nicht schaden, wenn sie sich in der Zukunft einmal durch alle Verstocktheit dieses Augenblicks als eines wärmenden Strahls erinnerten und empfanden, dass es die Gerechtigkeit eigentlich nur ihres Wohlergehens wegen gäbe — nur züchtigte, um zu erlösen, wie das so schön lautete.
Die beiden Jungen aber wünschten brennend, dass er die Schokoladenschnauze halten und zuschlagen möge — wenn er sie doch bloß ordentlich verdreschen und nicht die Polizei rufen wollte! Die Tragweite von Prügel kannten sie einigermaßen, aber vor der Gerechtigkeit hegten sie ein unüberwindliches Grauen; deshalb eben krochen sie unter seinem Griff zitternd zusammen.
Und das trat denn wirklich ein. Das Glück hatte sich nun einmal an den beiden Bengeln versehen und ließ den Großhändler sich derart ereifern, dass er alle schönen Theorien vergaß und sich auf der Stelle Luft machen musste. Und als sie sich erst hinlänglich unter seinem Stock gewunden hatten, sah er ein, wie unvernünftig es wäre, noch mehr aus der Sache zu machen, und ließ sie laufen. Er hätte sie natürlich sehr wohl trotzdem der Obrigkeit übergeben können, aber im Grunde war er ja die Gutmütigkeit selber.
Dass er sich hinterher über seine unangebrachte Nachsicht ärgerte und meinte, sie würde die beiden einmal geradenwegs ins Zuchthaus führen, konnte ihnen völlig gleichgültig sein. Nun waren sie frei, und es sollte schon seine Zeit dauern, bis sie sich von neuem erwischen ließen.
Zu den geheimnisvollen Wäldern mit den Tieren kamen sie diesmal nicht — auch nicht ans Ende der Welt; das musste auf bessere Gelegenheit verschoben werden, sie hatten ja Zeit. Vorläufig gab es des Großen und Schicksalschwangeren genug, die Wirklichkeit damit zu würzen; sie hatten ins Bodenlose gestarrt und wären beinahe in seine Tiefen hinab gezogen worden, die Gerechtigkeit hatte ihren ungeheuren Rachen nach ihnen aufgesperrt.
Und im Schlaraffenland waren sie gewesen! Jetzt aber wollten sie heim.
Der Schreck hatte ihnen Beine gemacht, sie trabten flink nebeneinander her, wie ein Paar gut eingefahrene Pferde. Die Kirschkerne spürten sie wie eine kleine Last im Magen — eine Bestätigung dessen, dass alles Wirklichkeit gewesen war. Und irgendwo in ihnen saß die Befriedigung und ergoss sich in den ganzen Leib. Es war keine Veranlassung, die Sache in Zweifel zu ziehen — es war ein prächtiger Tag gewesen.
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