EINTRAGUNG NR. 21
Übersicht: Die Pflicht des Autors. Das Eis schwillt an. Die schwierigste Form der Liebe.
Gestern war ihr Tag, aber sie kam nicht, sie schickte nur ein paar unverständliche Zeilen, die nichts erklärten. Doch ich war ruhig, völlig ruhig. Wenn ich tat, wie sie mich in ihrem Brief geheißen, wenn ich ihr Billett zum Hausmeister brachte und hinter geschlossenen Vorhängen allein in meinem Zimmer saß, so geschah das selbstverständlich nicht deshalb, weil ich zu schwach war, mich
ihrem Willen zu widersetzen. Lächerlich! Es war einfach so: Die Vorhänge isolierten mich von einem gewissen Lächeln, das sich wie ein heilendes Pflaster auf meine Wunden legen wollte, und so konnte ich diese Seiten ungestört niederschreiben; das war das erste. Und das zweite: Ich fürchtete wohl, in I den Schlüssel zu allen Geheimnissen zu verlieren (die Geschichte mit dem Schrank, meine Ohnmacht usw.). Aber ich fühle mich verpflichtet, diese Rätsel zu lösen, allein schon darum, weil ich der Autor dieser Aufzeichnungen bin, ganz abgesehen davon, dass alles Unbekannte dem Menschen von Natur aus zuwider ist; der homo sapiens ist nur dann ein Mensch im vollen Sinne des Wortes, wenn es in seiner Grammatik keine Fragezeichen, sondern nur Ausrufzeichen, Punkte und Kommata gibt. Um meiner Pflicht als Autor zu genügen, nahm ich heute um 16 Uhr ein Flugzeug und flog zum Alten Haus. Ich hatte starken Gegenwind. Die Maschine kämpfte sich mühsam durch das Luftdickicht, durchsichtige Zweige schlugen mir pfeifend ins Gesicht. Die Stadt unter mir schien aus blauen Eisblöcken zu bestehen. Da — eine Wolke, ein schneller, schräger Schatten — das Eis verfärbte sich bleigrau und schwoll an wie im Frühling, wenn man am Ufer steht und darauf wartet, dass im nächsten Augenblick alles kracht, zerspringt, sich losreißt, dahintreibt. Eine Minute nach der anderen vergeht, doch das Eis bleibt starr, und in einem selbst schwillt etwas an, immer rascher, immer ungestümer pocht das Herz... (Übrigens, warum schreibe ich eigentlich von solchen Dingen, und woher kommen diese seltsamen Gefühle? Denn es gibt ja keinen Eisbrecher, der das reine, feste Kristall unseres Lebens brechen könnte...) Am Tor des Alten Hauses war kein Mensch zu sehen.
Ich ging um das ganze Gebäude herum und fand die Alte bei der Grünen Mauer; sie hielt die Hand schützend über die Augen und blickte nach oben. Über der Mauer schwebten spitze, schwarze Dreiecke — Vögel. Krächzend warfen sie sich mit der Brust gegen das Schutzgitter aus elektrischen Wellen, kehrten um und kamen wieder zurück.
Über das dunkle, runzlige Gesicht der Alten huschten flüchtige Schatten, sie warf mir einen kurzen Blick zu: »Niemand da! Sie brauchen gar nicht erst hineinzugehen... «
Was sollte das? Und welch merkwürdiges Benehmen — mit mir umzugehen, als wäre ich nur ein Schatten. Vielleicht seid ihr alle nichts weiter als meine Schatten, dachte ich, denn ich habe euch das Leben gegeben, indem ich euch auf diesen Seiten ansiedelte, die noch vor kurzem rechteckige, weiße Wüsten waren. Wenn ich nicht wäre, würden alle jene, die ich durch die engen Pfade meiner Zeilen führe, euch niemals sehen!
Ich sagte ihr natürlich kein Wort davon, denn ich weiß aus eigener Erfahrung, dass es die größte Qual für einen Menschen ist, wenn man seine Realität bezweifelt, seine dreidimensionale Realität, nicht irgendeine andere. Ich bemerkte nur trocken, sie sei dazu da, die Tür zu öffnen, worauf sie mich in den Hof ließ.
Leer. Still. Hinter der Grünen Mauer heulte der Wind, fern wie jener Tag, da wir Schulter an Schulter aus den unterirdischen Gängen emporstiegen — wenn das wirklich geschehen ist. Ich ging durch steinerne Arkaden; in den hohen, feuchten Gewölben hallten meine Schritte wider, und es klang, als folgte mir jemand dicht auf den Fersen. Gelbe verwitterte Backsteinmauern blickten mir aus dunklen, quadratischen Fensterhöhlen nach, beobachteten, wie ich kreischende Scheunentüren öffnete, wie ich in verlassene Winkel, Sackgassen und Seitengänge spähte. Ich ging durch ein kleines Tor im Zaun — dahinter ein Trümmerfeld, ein Andenken an den Großen Zweihundertjährigen Krieg: Aus der Erde ragten nackte, steinerne Rippen, gelbe ausgebrannte Mauern, ein uralter Ofen mit einem langen Rohr — ein für alle Zeiten versteinertes Schiff inmitten starrer Wogen aus gelbem Stein und roten Ziegeln.
Mir war, als hätte ich diese gelben Zähne schon einmal gesehen, undeutlich, als lägen sie unter dichten Wassermassen begraben — und ich begann zu suchen. Ich stürzte in Gruben, stolperte über Steine, dornige Ranken krallten sich in meine Uniform, dicke Schweißtropfen rannen über mein Gesicht... Umsonst! Ich konnte den Ausgang des unterirdischen Korridors nirgends entdecken, er war verschwunden. Aber vielleicht war es ganz gut so, denn damit wurde es mir wahrscheinlicher, dass ich das alles nur geträumt hatte. Erschöpft, ganz von Spinnweben und Staub bedeckt, kehrte ich in den Haupthof zurück. Plötzlich ein leises Rascheln, tappende Schritte, und ich erblickte die abstehenden rosa Ohren und das listige Lächeln von S. Er runzelte die Stirn und sah mich durchdringend an: »Gehen Sie spazieren?«
Ich antwortete nicht. Meine Arme waren mir im Wege. »Fühlen Sie sich ein wenig besser?«
»Ja, danke. Ich glaube, ich bin bald wieder ganz gesund.«
Er trat ein wenig zur Seite und blickte angestrengt nach oben. Sein Kopf war weit zurückgebogen, und ich sah zum ersten Mal seinen Adamsapfel. Über uns brummten Flugzeuge, nicht sehr hoch, etwa
fünfzig Meter. An der geringen Flughöhe und an den zur Erde gerichteten Fernrohren erkannte ich, dass es Maschinen der Beschützer waren. Aber es waren nicht zwei oder drei wie gewöhnlich, sondern zehn oder zwölf.
»Warum so viele?« fragte ich.
»Warum? Hm... Ein guter Arzt beginnt bereits beim gesunden Menschen mit der Behandlung. Das nennt
man Prophylaxe!«
Er nickte mir zu und lief über die steinernen Fliesen des Hofes davon. Dann wandte er sich noch einmal um
und rief: »Seien Sie vorsichtig!«
Ich war allein. Stille. Leere. Über der Grünen Mauer flatterten Vögel, der Wind heulte. Was wollte er damit sagen?
Mein Flugzeug glitt rasch dahin. Die Wolken warfen schwere Schatten, die blauen Kuppeln, die Würfel aus
gläsernem Eis tief unter mir wurden bleigrau, schwollen an...
Abends:
Ich schlug mein Manuskript auf, um einige Gedanken über den Tag der Einigkeit festzuhalten, den wir in Kürze begehen. (Ich glaube, dass diese Gedanken für meine Leser recht nützlich sind.) Aber ich konnte nicht schreiben. Ich lauschte die ganze Zeit, wie der Wind mit dunklen Schwingen gegen die gläsernen Mauern des Hauses schlug, ich schaute mich in einem fort um. Ich wartete... Worauf wartete ich? Ich wusste es nicht. Und ich freute mich wirklich, als ich die roten Hängebacken von U in meinem Zimmer sah. Sie setzte sich, zog den Rock über die Knie, lächelte mir aufmunternd zu, und ihr Lächeln war ein Pflaster für meine Wunden. »Da komme ich heute früh in meine Klasse« (sie arbeitet
in der Erziehungsfabrik) »und entdecke eine Karikatur an der Wand. Stellen Sie sich vor, eine Karikatur von mir, auf der ich wie ein Fisch aussehe. Nun, vielleicht habe ich wirklich etwas von einem Fisch.« »Wie können Sie so etwas sagen!« erwiderte ich rasch. (Aus der Nähe betrachtet, hat sie wirklich nichts von einem Fisch, und was ich von ihren »Kiemen« geschrieben habe, trifft durchaus nicht zu.) »Im Grunde genommen ist es ja auch gleichgültig. Nur, dass man es überhaupt gewagt hat! Ich habe es natürlich gleich den Beschützern gemeldet. Ich liebe Kinder sehr, und ich glaube, dass die schwierigste, höchste Form der Liebe die Grausamkeit ist, verstehen Sie?« Wie sollte ich das nicht verstehen? Es deckte sich genau mit meinen eigenen Gedanken. Ich konnte nicht umhin, ihr einen Abschnitt aus meinen Aufzeichnungen vorzulesen, und zwar folgende Stelle:
»Ganz leise, metallisch klar, hämmerten meine Gedanken... «
Ihre roten Wangen begannen zu zittern, sie kamen immer näher, und schon umklammerten ihre trockenen, harten Finger meine Hand.
»Geben Sie mir das! Ich lasse es auf Schallplatten aufnehmen, damit die Kinder es auswendig lernen können. Wir brauchen das ebenso nötig wie ihre Venusbewohner, vielleicht noch nötiger.« Sie schaute sich um und flüsterte:
»Haben Sie schon gehört? Es wird erzählt, am Tag der Einstimmigkeit soll...« Ich sprang auf:
»Was... soll am Tag der Einstimmigkeit?« Meine gemütlichen vier Wände existierten plötzlich nicht mehr. Mir war, als wäre ich ins Freie geschleudert worden,
wo ein wilder Sturm über die Dächer fegte, wo düstere Wolken in steilem Flug zur Erde hinabstürzten. U legte mir den Arm um die Schultern und sagte mit fester Stimme:
»Setzen Sie sich, mein Lieber, und regen Sie sich nicht unnütz auf. Was wird nicht alles erzählt... Wenn Sie wollen, werde ich an dem Tag bei Ihnen sein. Ich bitte irgend jemanden, auf meine Schulkinder aufzupassen, und komme zu Ihnen. Denn Sie sind auch ein Kind, mein Lieber, und brauchen... «
»Nein, nein!« unterbrach ich sie und machte eine abwehrende Geste. »Auf keinen Fall! Sonst denken Sie wirklich, ich sei ein Kind und könne nicht ohne Aufsicht sein. Nein, auf keinen Fall!« (Ich muss gestehen, dass ich für diesen Tag andere Pläne hatte.)
Sie lächelte, was offensichtlich bedeutete: »Ach, du eigensinniger Junge!« Dann setzte sie sich. Sie schlug die Augen nieder, zog den Rock schamhaft über die Knie und sprach von etwas anderem:
»Ich denke, ich muss mich nun doch entschließen... um Ihretwillen... Nein, bitte, drängen Sie mich nicht, ich muss mir alles genau überlegen... « Ich drängte sie ja gar nicht. Obwohl ich einsah, dass ich darüber glücklich sein musste und dass es eine große Ehre für mich war, den Lebensabend eines Menschen krönen zu dürfen.... Die ganze Nacht hörte ich das Schlagen schwerer Flügel, und ich legte die Hände vors Gesicht, um es vor diesen Flügeln zu schützen. Dann — ein Stuhl. Doch es war keiner unserer modernen Stühle, sondern ein altmodischer, aus Holz. Er trabte wie ein Pferd — rechtes Vorderbein und linkes Hinterbein, linkes Vorderbein und rechtes Hinterbein —, der Stuhl näherte sich meinem
Bett, sprang auf die Bettdecke, und ich umarmte den hölzernen Stuhl. Das war sehr unbequem und tat weh. Gibt es denn wirklich kein Mittel, das dieses krankhafte Träumen beseitigt oder es vernünftig, vielleicht sogar nützlich macht?
EINTRAGUNG NR. 22
Übersicht: Erstarrte Wogen. Alles wird vollkommen. Ich bin eine Mikrobe.
Stellen Sie sich vor, Sie ständen an einem Ufer: die Wellen steigen langsam, und plötzlich verharren sie still, erkalten, erstarren. Genauso schrecklich und unnatürlich war, was bei unserem gesetzlich vorgeschriebenen Spaziergang geschah:
Die Reihen der Nummern stockten, gerieten in Verwirrung und blieben stehen.
Etwas Ähnliches hat sich zum letzten Mal vor 119 Jahren ereignet, als ein Meteor zischend und rauchend vom Himmel herabstürzte und mitten unter die Spaziergänger fiel.
Wir marschierten wie immer, gleich einer Armee, so, wie sie auf assyrischen Reliefs dargestellt ist: Tausend Köpfe, zwei Beine, zwei emporgestreckte Arme. Vom Ende des Prospekts, wo der Akkumulatorenturm drohend summte, kam uns ein Viereck entgegen: an beiden Seiten, vorn und hinten Wachen, in der Mitte drei Männer, denen man das goldene Abzeichen mit der Nummer abgenommen hatte — alles erschreckend klar zu deuten. Das riesige Zifferblatt am Turm war wie ein Gesicht, es neigte sich aus den Wolken nieder, spie die Sekunden nach unten und wartete gleichgültig. Und da, um 13 Uhr 6 Minuten, geriet das Viereck in Verwirrung. Es geschah ganz in meiner Nähe, und ich erinnere mich deutlich an einen langen, dünnen Hals und an Schläfen, die von einem Geflecht blauer Adern durchzogen waren, wie Flüsse auf der Karte einer kleinen, unbekannten Welt, und diese unbekannte Welt war ein junger Mann. Er hatte offenbar jemanden unter den Spaziergängern entdeckt, denn er reckte den Hals und blieb stehen. Eine der Wachen schlug ihn mit der elektrischen Knute so heftig, dass blaue Funken sprühten. Er wimmerte leise wie ein junger Hund. Und dann alle zwei Sekunden: Schlag — Wimmern — Schlag — Wimmern.
Wir gingen ruhig weiter, und als ich die anmutigen Zickzacklinien der Funken sah, dachte ich: Alles in der menschlichen Gesellschaft wird unendlich vollkommen werden, und so muss es auch sein. Welch hässliche Waffe war die Knute unserer Ahnen, und wie viel Schönheit... In diesem Augenblick löste sich eine schlanke, biegsame Frauengestalt aus unserer Gruppe und warf sich mit dem Schrei: »Genug! Rührt ihn nicht an!« dem Viereck entgegen. Das wirkte wie das Meteor vor 119 Jahren: Der ganze Spaziergang stockte, und unsere Reihen wurden zu grauen Wogenkämmen, die der Frost jäh hatte erstarren lassen.
Sekundenlang blickte ich diese Frau mit dem gleichen Entsetzen an wie alle anderen: sie war keine Nummer mehr, sie war ein Mensch, sie existierte nur noch als metaphysische Substanz einer Beleidigung, drehte sich um und wiegte sich dabei leicht in den Hüften — und plötzlich wurde mir klar, dass ich diesen gertenschlanken, biegsamen Körper kannte — meine Augen, meine Lippen, meine Hände kannten ihn! In diesem Augenblick war
ich jedenfalls fest davon überzeugt! Zwei Mann von der Wache traten ihr entgegen. Gleich würden sie zuschlagen, ihre erhobenen Knuten spiegelten sich im klaren Glas des Pflasters... Mir stand das Herz still, und ohne lange zu überlegen, stürzte ich hinzu...
Ich fühlte, wie Tausende von Augenpaaren erschrocken auf mir ruhten, doch gerade das gab dem Wilden mit den behaarten Händen, der sich von mir losriss, noch mehr verzweifelte Kraft, und er lief um so schneller. Noch zwei Schritte — da wandte sie sich um. Ein sommersprossiges Gesicht, rötliche Augenbrauen... Sie war es nicht! Es war nicht I!
Eine tolle Freude stieg in mir auf. Ich wollte laut schreien: »Packt sie! Haltet sie!« oder etwas Ähnliches, doch ich brachte keinen Ton heraus. Schon legte sich eine schwere Hand auf meine Schulter, und man führte mich ab. Ich versuchte, der Wache klarzumachen... »Hören Sie! Begreifen Sie doch! Ich dachte, dass...« Aber wie sollte ich ihnen erklären, was in mir vorging, meine Krankheit erklären, die ich in diesen Aufzeichnungen beschrieben habe! Ich verstummte und folgte ihnen ergeben... Ein Blatt, das ein jäher Windstoß vom Baum reißt, sinkt gehorsam zur Erde, aber im Fallen dreht es sich verzweifelt, klammert sich an jeden vertrauten Zweig, an jedes Ästchen — so klammerte ich mich hilfesuchend an jeden der schweigenden Kugelköpfe, an das durchsichtige Eis der Mauern, an die goldene Spitze des Akkumulatorenturms.
Genau in dem Augenblick, da der Vorhang des Schweigens mich für immer von dieser herrlichen Welt zu trennen drohte, tauchte in der Nähe ein bekanntes Gesicht auf. Der Mann fuchtelte erregt mit seinen rosigen Händen, und dann sagte eine vertraute Stimme:
»Ich halte es für meine Pflicht, zu bezeugen, dass D-503 krank und nicht fähig ist, seine Gefühle zu kontrollieren. Ich bin überzeugt, dass er sich von einem ganz natürlichen Unwillen hat hinreißen lassen... «
»Ja, ja«, unterbrach ich ihn. »Ich hab' sogar geschrieen: Haltet sie!«
Hinter mir sagte jemand: »Gar nichts haben Sie geschrieen!«
»Aber ich wollte schreien — ich schwöre beim Wohltäter, dass ich schreien wollte.«
S warf mir einen kalten, durchdringenden Blick zu. Ich weiß nicht, ob er tief in meinem Inneren sah, dass ich beinahe die Wahrheit sprach, oder ob er mich nur noch für eine Weile schonen wollte, jedenfalls schrieb er ein paar Worte auf einen Zettel, gab ihn einem der Wachleute — und ich war frei, war wieder in die geordneten, endlosen assyrischen Reihen eingegliedert.
Das sommersprossige Gesicht und die blaugeäderten Schläfen verschwanden um die Straßenecke — für immer. Wir marschierten weiter, ein Körper mit Millionen Köpfen, und in jedem von uns war jene stille, demütige Freude, in der wahrscheinlich Atome, Moleküle und Phagozyten leben. In der alten Welt wussten die Christen als einzige unserer wenn auch sehr unvollkommenen Vorgänger, dass Demut eine Tugend, Stolz hingegen ein Laster ist, dass Wir von Gott stammt und Ich vom Teufel. Ich marschierte im gleichen Schritt mit den anderen und war trotzdem von ihnen getrennt. Dieser Zwischenfall hatte mich so erregt, dass ich noch am ganzen Leibe zitterte. Ich fühlte mich. Alle jene, die sich fühlen, sind sich ihrer Individualität bewusst. Doch nur das entzündete Auge, der verletzte Finger, der kranke Zahn machen sich
bemerkbar, das gesunde Auge, der gesunde Finger, der gesunde Zahn scheinen nicht vorhanden zu sein. Man ist also bestimmt krank, wenn man sich der eigenen Persönlichkeit bewusst wird!
Ich bin vielleicht schon keine Phagozyte mehr, die eifrig die zerstörenden Mikroben verschlingt (solche wie der junge Mann mit den blauen Adern und die sommersprossige Frau), ich bin selber eine Mikrobe, und vielleicht gibt es bereits Tausende unter uns, die wie ich nur so tun, als wären sie Phagozyten.
Was aber, wenn dieser heutige an sich recht unbedeutende Zwischenfall nur ein Anfang ist, nur der erste Meteor eines ganzen Hagels glühender Steine, der aus der Unendlichkeit auf unser Paradies herabstürzt?
EINTRAGUNG NR. 23
Übersicht: Blumen. Die Auflösung des Kristalls. Wenn...
Man sagt, es gäbe Blumen, die nur alle hundert Jahre blühen. Warum sollte es dann nicht auch solche geben, die nur einmal in tausend Jahren oder gar in zehntausend Jahren blühen? Vielleicht haben wir nur deshalb nichts davon gewusst, weil dieses Einmal-in-tausend-Jahren gerade heute ist.
Trunken vor Glück ging ich ins Vestibül hinunter, und vor meinen Augen öffneten sich überall tausendjährige Knospen und erblühten — Sessel, Stiefel, goldene Abzeichen, elektrische Lampen, dunkle, sanfte Augen, die blitzenden Glasstäbe am Treppengeländer, ein buntes Tuch, das jemand auf der Treppe verloren hatte, der kleine Tisch in der Pförtnerloge, die zarten rotgesprenkelten Wangen von U. Alles war ungewöhnlich, neu, zart, rosig,
frisch.
U nahm mein rosa Billett entgegen; über ihrem Kopf — ich blickte durch die durchsichtige Glasmauer — da schwebte der Mond an einem unsichtbaren Zweig, blau und duftend.
Ich hob die Hand und sagte zu U: »Der Mond — sehen Sie doch!«
Sie schaute zuerst auf mich, dann auf das Billett und zog mit einer bezaubernd-verschämten Geste den Rock über die Knie.
»Sie sehen heute anomal und krank aus, mein Lieber. Anomalität und Krankheit sind ein und dasselbe. Sie richten sich zugrunde, aber niemand sagt Ihnen das, niemand.«
Mit diesem »niemand« ist natürlich die Nummer auf dem Billett gemeint: I-330. Liebe, gute U! Sie haben natürlich recht, ich bin unvernünftig und krank, ich habe eine Seele, ich bin eine Mikrobe. Aber ist denn das Blühen keine Krankheit? Schmerzt es nicht, wenn die Knospen aufbrechen? Meinen Sie nicht auch, dass das Spermatozoid die entsetzlichste aller Mikroben ist?
Ich ging auf mein Zimmer. In der flachen Schale des Sessels saß I. Ich warf mich ihr zu Füßen, umschlang ihre Knie und legte meinen Kopf in ihren Schoß. Wir schwiegen. Stille. Mein Herz klopfte zum Zerspringen. Mir war, als wäre ich ein Kristall, ich löste mich in I auf. Ich fühlte, wie die geschliffenen Facetten, die mich daran hinderten mich auszudehnen, schmolzen, und ich verschwand in ihrem Schoß, ich wurde immer winziger — und zugleich immer breiter, größer, unermesslicher. Denn sie war nicht mehr I, sie war das Weltall. Eine Sekunde lang waren wir allein, ich und dieser von Freude erfüllte Sessel neben
meinem Bett — und das strahlende Lächeln der Alten vom Alten Haus, das wilde Dickicht hinter der Grünen Mauer, silbrige Ruinen auf schwarzem Grund, die vor sich hin träumten wie jene Alte, und eine Tür, die in unendlicher Ferne zuschlug — all das war in mir und hörte meinen Pulsschlag...
Mit wirren, unzusammenhängenden Sätzen versuchte ich ihr zu berichten, dass ich ein Kristall sei, dass eine Tür in mir zuschlage; doch was ich sagte, war so widersinnig, dass ich beschämt innehielt und dann murmelte: »Verzeih mir Liebste. Ich weiß wirklich nicht, weshalb ich so dummes Zeug schwatze... «
»Warum hältst du dieses dumme Zeug für etwas Schlechtes? Wenn man die Dummheiten der Menschen jahrhundertelang so hegte und pflegte wie die Vernunft, dann würde man vielleicht etwas sehr Kostbares erhalten.« »Ja...« (Ich glaubte, dass sie recht hatte. Wie hätte sie in diesem Augenblick unrecht haben können?) »Und um deiner Dummheit willen, um dessentwillen, was du gestern auf dem Spaziergang getan hast, liebe ich dich noch mehr, viel mehr als zuvor.« »Aber warum hast du mich so gequält, warum bist du nicht gekommen, warum hast du mir ein Billett geschickt und mich gezwungen... «
»Vielleicht wollte ich dich auf die Probe stellen, vielleicht musste ich die Gewissheit haben, dass du alles tust, was ich will, dass du mir ganz gehörst.« »Ja, ganz!«
Sie nahm mein Gesicht in ihre Hände und zog meinen Kopf zu sich empor.
»Nun, wie steht es mit den Pflichten, die Sie wie jede anständige Nummer haben?« Die weißen, scharfen Zähne blitzten.
Ja, die Pflichten... Ich blätterte im Geist die letzten Seiten meines Manuskripts durch: tatsächlich, nichts steht darin von meinen Pflichten...
Ich schwieg. Ich lächelte triumphierend (und wahrscheinlich töricht) und blickte ihr in die Augen, in denen ich mein Spiegelbild sah: winzig klein, kaum sichtbar, für immer in dieses dunkle Gefängnis eingeschlossen. Dann spürte ich ihre weichen, brennenden Lippen auf meinem Mund, fühlte den süßen Schmerz des Blühens. In jeder Nummer ist ein unsichtbares, leise tickendes Metronom eingebaut, so dass wir, ohne auf die Uhr zu sehen, die Zeit auf fünf Minuten genau bestimmen können. Doch an diesem Abend war das Metronom in mir stehen geblieben, ich wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, und zog erschrocken mein Abzeichen mit der Uhr unter dem Kopfkissen hervor...
Dem Wohltäter sei Dank! Noch zwanzig Minuten. Die Minuten waren lächerlich kurz, sie entflohen unaufhaltsam, und ich musste ihr doch so viel erzählen, alles, alles erzählen: von O.s Brief, von jenem schrecklichen Abend, als ich ein Kind mit ihr zeugte, von meiner Kindheit (warum, weiß ich nicht), von unserem Mathematiklehrer Plapa, von der Wurzel aus minus eins und wie ich zum ersten Mal in meinem Leben am Tag der Einstimmigkeit teilnahm und bitterlich weinte, weil ich einen Tintenklecks auf der Uniform hatte — und das an diesem Feiertag! I richtete sich auf und stützte den Kopf in die Hand. »Vielleicht werde ich an diesem Tag... « Sie brach mitten im Satz ab und runzelte die dunklen Brauen. Dann nahm sie meine Hand und drückte sie fest. »Sag, wirst du mich nie vergessen, wirst du immer an mich denken?« »Warum fragst du mich das? Was meinst du damit? I, Liebste!«
Sie antwortete nicht, und ihre Augen blickten an mir vorbei in weite Fernen. Da hörte ich plötzlich, wie der Wind mit Riesenflügeln gegen das Haus schlug (er hatte es die ganze Zeit getan, aber ich merkte es erst jetzt), und ich musste an das durchdringende Geschrei der Vögel über der Grünen Mauer denken.
I machte eine Kopfbewegung, als wollte sie etwas von sich abschütteln. Ein letztes Mal berührte sie mich eine Sekunde lang mit dem ganzen Körper, wie ein Flugzeug federnd die Erde berührt, bevor es landet. »Gib mir meine Strümpfe, schnell!«
Die Strümpfe lagen auf meinem Manuskript (Seite 193) auf dem Schreibtisch. In der Eile stieß ich dagegen, die einzelnen Blätter gerieten durcheinander, und ich konnte sie nicht ordnen, wie sehr ich mich auch bemühte. Nun, was machte es schon! Eine richtige Ordnung wäre ja doch nicht mehr zustande gekommen, denn es blieben so viele Strudel, Abgründe und unbekannte Größen zurück. »Ich kann das nicht ertragen«, sagte ich. »Du bist hier, neben mir, und scheinst doch so fern, als wärst du durch eine undurchsichtige Mauer von mir getrennt. Ich höre Geräusche und Stimmen hinter der Mauer und kann die Worte nicht verstehen; ich weiß nicht, was dort ist. Ich halte das nicht länger aus. Du verschweigst mir die ganze Zeit etwas, du hast mir nie gesagt, wohin ich damals im Alten Haus geraten war, was das für Korridore sind, und warum der kleine Doktor... Oder ist alles gar nicht geschehen?«
I legte mir die Hand auf die Schulter und blickte mir tief in die Augen: »Möchtest du alles wissen?« »Ja, ich will es wissen, ich muss es wissen.« »Und du hast keine Angst, mir überallhin zu folgen, bis zum Ende, ganz gleich, wohin ich dich führen werde?«
»Nein, ich habe keine Angst. Ich folge dir, wohin du mich auch führst.«
»Gut. Ich verspreche dir, wenn der Feiertag vorbei ist, wenn erst... Übrigens, da fällt mir ein — wie weit bist du eigentlich mit dem Integral? Ist er bald fertig? Ich hätte fast vergessen, dich danach zu fragen.« »Was bedeutet dieses >Wenn erst...<?« Sie stand schon an der Tür. »Du wirst es sehen... « Ich war wieder allein. Alles, was von ihr blieb, war ein feiner Duft, der mich an den trockenen Blütenstaub aus dem Land jenseits der Mauer erinnerte. Und noch etwas blieb: quälende Fragen, die sich wie spitze Haken in mich bohrten... Warum hatte sie auf einmal vom Integral gesprochen?
EINTRAGUNG NR. 24
Übersicht: Die Grenze der Funktion. Ostern. Alles ausstreichen.
Ich bin wie eine Maschine, die auf eine zu große Umdrehungszahl eingestellt worden ist. Die Lager sind heißgelaufen, noch eine Minute, und das geschmolzene Metall wird tröpfeln, alles wird sich in Nichts auflösen. Schnell, kaltes Wasser her, Logik! Ich begieße die Maschine mit ganzen Eimern kalten Wassers, aber die Logik zischt auf den glühenden Lagern und entweicht als weißer Dampf, der sich nicht greifen lässt.
Wenn man die wirkliche Bedeutung einer Funktion bestimmen will, muss man ihren Grenzwert nehmen, das ist völlig klar. Also war meine lächerliche »Auflösung im Weltall«, von der ich gestern sprach, wenn man sie als
Limes auffasst, nichts anderes als der Tod. Denn der Tod ist die totale Auflösung des Ich im Weltall. Daraus folgt: Wenn man die Liebe mit L bezeichnet, den Tod mit T, dann ist L — f (T), das bedeutet, dass Liebe eine Funktion des Todes...
Ja, so ist es, so und nicht anders! Deswegen fürchte ich I, deswegen ringe ich mit ihr und will mich ihr nicht unterwerfen.
Aber warum stehen »ich will nicht« und »ich will« in mir nebeneinander? Das Entsetzliche ist, dass ich diesen seligen Tod von gestern herbeisehne. Das Entsetzliche ist, dass mich sogar jetzt, da ich die logische Funktion integriert habe, da ich weiß, dass sie den Tod in sich trägt, mit Lippen, Händen, mit meiner Brust, mit jedem Millimeter meines Körpers nach ihr verlangt... Morgen ist der Tag der Einstimmigkeit. Sie wird dort sein, ich werde sie sehen, freilich nur von weitem — das wird mir sehr wehe tun, denn ich muss neben ihr sein, ich fühle mich unwiderstehlich zu ihr hingezogen, ich muss ihre Knie, ihre Schultern, ihr Haar spüren... Aber ich will ja diesen Schmerz, ich brauche ihn.
Großer Wohltäter! Welch absurder Gedanke — nach Schmerz verlangen! Jeder weiß, dass Schmerzen negative Größen sind und die Summe verringern, die wir Glück nennen. Daraus folgt... Nichts, gar nichts folgt daraus. Öde, Leere. Abends:
Durch die gläsernen Mauern des Hauses blicke ich in den fiebrig glühenden Sonnenuntergang. Ich stelle meinen Sessel so, dass ich diesen triumphierenden roten Schein nicht mehr sehe, und blättere in meinem Manuskript. Dabei muss ich feststellen: Ich habe wieder einmal vergessen, dass ich nicht für mich schreibe, sondern für Sie,
unbekannte Leser, die ich liebe und bedaure, weil Sie sich noch irgendwo tief unten abmühen wie die Menschen vergangener Jahrhunderte. Nun will ich von dem Tag der Einstimmigkeit berichten, dem herrlichsten aller Tage. Ich habe ihn von frühester Jugend an geliebt. Ich glaube, für Sie ist dieser Tag etwas Ähnliches wie das Osterfest unserer Ahnen. Ich kann mich noch genau erinnern, dass ich mir als Kind am Tag vor dem Fest einen kleinen Kalender anlegte und feierlich eine Stunde nach der anderen ausstrich: jede Stunde, die ich ausstrich, hieß eine Stunde weniger warten. Wenn ich wüsste, dass niemand es sähe, würde ich auch heute — mein Ehrenwort — einen solchen Kalender bei mir tragen und mich jeden Augenblick vergewissern, wie viel Zeit noch bis morgen bleibt, wann ich sie endlich sehen werde, wenn auch nur von weitem... Ich wurde unterbrochen, der Schneider brachte meine neue Uniform. Nach altem Brauch erhalten sämtliche Nummern neue Uniformen für das Fest. Morgen werde ich ein Schauspiel erleben, das sich jahraus, jahrein wiederholt und uns jedes Mal von neuem begeistert: die gewaltige Schale der Einstimmigkeit, andächtig erhobene Hände. Morgen ist der Tag der alljährlich wiederkehrenden Wahl des Wohltäters. Morgen werden wir IHM die Schlüssel zu der unbezwinglichen Feste unseres Glückes für ein weiteres Jahr übergeben. Der Tag der Einstimmigkeit hat natürlich nichts mit jenen ungeordneten, unorganisierten Wahlen unserer Vorfahren zu tun, deren Ergebnis nicht im voraus bekannt war. Es gibt nichts Unsinnigeres, als einen Staat auf blinde Zufälligkeiten zu gründen. Aber es mussten ganze Jahrhunderte vergehen, bevor die Menschen das einsahen. Ich brauche Ihnen deshalb wohl nicht zu sagen, dass es bei uns keinen Raum für irgendwelche Zufälligkeiten, für
unerwartete Ereignisse gibt. Unsere Wahlen haben eher eine symbolische Bedeutung: sie erinnern uns daran, dass wir einen einzigen, gewaltigen Organismus bilden, der aus Millionen Zellen besteht, dass wir — in den Worten des Evangeliums gesagt — die Einzige Kirche sind. In der Geschichte des Einzigen Staates ist es noch niemals vorgekommen, dass auch nur eine Stimme sich erdreistet hätte, das machtvolle Unisono dieses feierlichen Tages zu stören.
Es heißt, unsere Vorfahren hätten ihre »Wahlen« »geheim« durchgeführt, sich also wie Diebe versteckt. Einige Historiker behaupten sogar, sie seien maskiert zur Wahl erschienen (ich stelle mir dieses phantastisch-düstere Schauspiel ungefähr so vor: Nacht, ein freier Platz, dunkel gekleidete Gestalten, die an den Mauern entlangschleichen, im Wind flackern rote Fackeln...). Den Grund für diese Geheimnistuerei haben wir bis auf den heutigen Tag nicht eindeutig feststellen können. Wahrscheinlich hingen diese Wahlen mit irgendwelchen mystischen, abergläubischen oder sogar verbrecherischen Vorgängen zusammen. Wir aber haben nichts zu verbergen und brauchen uns für nichts zu schämen: wir halten unsere Wahlen in aller Öffentlichkeit am hellen Tag ab. Ich sehe, wie alle für den Wohltäter stimmen, alle anderen sehen, wie ich dem Wohltäter meine Stimme gebe — und es kann auch gar nicht anders sein, denn alle und ich — das ist das große Wir. Unsere Wahlmethoden erziehen die Menschen zu einer edlen Gesinnung, sie sind viel aufrichtiger und besser als die feige, verlogene Geheimniskrämerei von einst. Außerdem sind sie weit zweckmäßiger. Nehmen wir einmal an, das Unmögliche würde geschehen, und ein falscher Ton schliche sich in die Monophonie ein. Die unsichtbaren Beschützer, die mitten in unseren Reihen sitzen, würden
es sofort bemerken und die auf Abwege geratenen Nummern zurückhalten und sie so vor weiteren Entgleisungen bewahren. Aber noch etwas kommt hinzu... Mein Blick fällt auf die gläserne Wand des Nachbarzimmers: eine Frau steht vor dem Spiegel und knöpft eilig ihre Uniform auf. Eine Sekunde lang sehe ich Augen, Lippen und zwei spitze rosige Punkte. Dann schließen sich die Vorhänge. Meine Erlebnisse von gestern fallen mir plötzlich wieder ein, und ich weiß nicht mehr, was »noch hinzukommt«. Ich will es auch gar nicht wissen. Ich will nur eins: I! Ich will, dass sie fortan immer bei mir ist, bei mir allein. Was ich von dem »Fest« geschrieben habe, ist lauter Unsinn. Ich möchte alles durchstreichen, zerreißen, wegwerfen. Denn ich weiß, dass es für mich nur dann ein Feiertag ist, wenn ich sie bei mir habe, wenn ihre Schulter die meine berührt. (Vielleicht ist dies ein frevelhafter Gedanke, aber es ist die Wahrheit.) Ohne I wird die Sonne von morgen nur eine Blechscheibe sein, der Himmel ein Stück blaubemaltes Blech, und ich selber...
Ich nahm den Telefonhörer ab: »I, sind Sie's?«
»Ja. Warum rufen Sie so spät an?«
»Ich... ich wollte Sie bitten... ich möchte gern, dass Sie morgen neben mir sitzen. Liebste... « Liebste — ich hauchte das nur. Sie gab lange keine Antwort. Mir war, als hörte ich in I.s Zimmer jemand flüstern. Endlich sagte sie: »Nein, ich kann nicht. Sie wissen, wie gern ich es möchte, aber es geht wirklich nicht. Warum? Morgen werden Sie es sehen.« Nacht.
EINTRAGUNG NR. 25
Übersicht: Niederfahrt vom Himmel. Die größte Katastrophe der Geschichte. Alles unbestimmt.
Vor der Wahl, als sich alle erhoben und die feierlichen Klänge der Hymne über unseren Köpfen brausten, vergaß ich für eine Sekunde, was I von diesem Feiertag gesagt und was mich so sehr beunruhigt hatte. Ja, ich glaube, ich vergaß sogar sie. Ich war wieder der kleine Junge, der an diesem Tag einmal bitterlich geweint hatte, weil er einen winzigen, ihm allein sichtbaren Fleck auf seiner Uniform entdeckte. Wenn auch keiner der rings um mich Stehenden sah, wie viele schwarze Flecken jetzt auf mir waren, so wusste ich doch allzu gut, dass ein Verbrecher wie ich unter diesen Menschen mit den offenen, ehrlichen Gesichtern nichts zu suchen hatte. Ach, ich wäre am liebsten aufgesprungen, um mit tränenerstickter Stimme die ganz Wahrheit über mich herauszuschreien. Mag es auch mein Ende sein, dachte ich, was tut es? Wenn ich mich nur eine einzige Sekunde lang so rein und gedankenlos fühlen könnte wie dieser kindlich-blaue Himmel! Aller Augen blickten zum Himmel auf; in dem morgendlich keuschen Blau zitterte ein kaum erkennbarer Punkt, bald dunkel, bald im Licht blitzend. Das war Er, der von den Himmeln zu uns herniederstieg, ein neuer Jehova im Flugzeug, weise, gütig und streng wie der Gott der Alten. Mit jeder Minute kam Er näher und näher, immer höher schlugen Ihm Millionen Herzen entgegen. Jetzt musste Er uns sehen! Im Geist schaute ich mit Ihm auf die Menge herab, auf die punktierten Linien der konzentrisch angeordneten Tribünen, die wie Kreise eines Spinnennetzes waren. Im Zentrum dieses Netzes würde sich gleich eine
weiße weise Spinne niederlassen, der Wohltäter in weißer Uniform, der uns in seiner Weisheit unsere Hände und Füße mit den starken Fäden des Glückes gebunden hat. Seine erhabene Niederfahrt war beendet, die brausende Hymne verstummte, alle hatten sich wieder hingesetzt. Da erkannte ich plötzlich, dies war wirklich ein hauchdünnes Spinnennetz, zum Zerreißen gespannt, ja, im nächsten Augenblick musste es reißen, und dann würde etwas Unglaubliches geschehen.
Ich richtete mich ein wenig auf und schaute mich um. Mein Blick begegnete einem Augenpaar, das ein Gesicht nach dem anderen liebend und besorgt musterte. Da hob jemand die Hand und gab einem anderen ein Zeichen. Und da — das Antwortsignal. Noch einmal... Das waren sie, die Beschützer. Irgend etwas beunruhigte sie, das Spinnennetz war so straff gespannt, dass es bebte. Auf dem Podium verlas ein Dichter die Wahleröffnungsrede, doch ich nahm die einzelnen Worte nicht auf, ich hörte nur den gleichmäßigen Rhythmus der Hexameter, der mich an das Ticken einer Uhr erinnerte. Mit jedem Schwung des Pendels rückte eine bestimmte Sekunde näher, immer näher. Wie im Fieber schweiften meine Augen über die Reihen, doch ich konnte das eine Gesicht, das ich suchte, nirgends entdecken. Ich musste es so schnell wie möglich finden, ich musste sie finden, denn gleich würde die Uhr ticken, und dann...
Er — ja, das war er! Rosa Ohren, eine S-förmige Schlinge flogen an dem Podium vorüber. Er eilte durch die Gänge zwischen den Tribünen.
S, I — zwischen den beiden bestand irgendeine Verbindung. (Ich vermute das seit langer Zeit, aber ich weiß bis jetzt nicht, welcher Art diese Verbindung ist. Irgendwann werde ich es erfahren.) Ich blickte ihm nach. Plötzlich
blieb er stehen... Es war wie ein elektrischer Schlag — etwas durchzuckte mich, presste mich zu einem Bündel zusammen. S stand in unserer Reihe, höchstens 40° von mir entfernt, und beugte sich zu jemand hinab. Ich sah I; neben ihr den grinsenden R-13 mit seinen widerlichen Negerlippen.
Mein erster Gedanke war, zu ihr zu stürzen und laut zu schreien: »Warum bist du heute mit ihm zusammen? Warum wolltest du mich nicht bei dir haben?« Aber eine unsichtbare Spinne fesselte mich an Händen und Füßen. Die Zähne aufeinander beißend, blieb ich sitzen, ohne sie aus den Augen zu lassen. In diesem Augenblick empfand ich einen starken physischen Schmerz im Herzen, den ich jetzt noch spüre.
Das war mein Ich. Ich weiß noch, dass ich dachte: Wenn nichtphysische Ursachen einen physischen Schmerz hervorrufen können, dann ist es klar, dass... Leider dachte ich diesen Gedanken nicht zu Ende, ich kann mich nur ganz dunkel entsinnen, dass mir jene törichte Redensart unserer Vorfahren einfiel: Es zerreißt mir die Seele. Ich erstarrte: die Hexameter waren verstummt. Jetzt würde es geschehen...
Eine Pause von fünf Minuten folgte. Doch dieses Schweigen war kein andächtiges Gebet wie sonst, es hatte etwas Bedrückendes, wie in alten Zeiten, als man noch keine Akkumulatorentürme kannte, als bisweilen ein Gewitter über den ungezähmten Himmel jagte. Die Luft — durchsichtiges Erz, man möchte mit weit aufgerissenem Mund atmen.
Mein zum Zerreißen gespanntes Ohr registrierte irgendwo hinter mir ein aufgeregtes Flüstern. Es klang wie das Nagen einer Maus. Unter gesenkten Lidern spähte ich die ganze Zeit zu I und R hinüber, und auf meinen Knien
zitterten meine behaarten Hände, die nicht mir gehörten, die ich hasste... Alle hielten die Abzeichen mit der Uhr in der Hand. Eine Minute verstrich, zwei, drei, fünf Minuten... Auf dem Podium sprach eine eherne Stimme klar und langsam: »Wer dafür ist, hebe die Hand.«
Wenn ich ihm nur in die Augen sehen könnte, wie früher, aufrichtig und ergeben: »Da bin ich. Ganz! Nimm mich hin!« Mit großer Anstrengung, als wären meine Gelenke eingerostet, hob ich die Hand.
Ein Rauschen von Millionen Händen, ein gedämpftes »Ach!« Ich fühlte, dass jetzt etwas begann, dass etwas jäh umstürzte, doch ich wusste nicht, was, denn mir fehlte die Kraft, hinzublicken, ich wagte es nicht... »Wer ist dagegen?«
Das war stets der feierlichste Augenblick des ganzen Tages: Alle blieben regungslos sitzen und beugten sich freudig dem wohltätigen Joch der Nummer aller Nummern. Plötzlich hörte ich zu meinem Entsetzen wieder ein Geräusch; es war leiser als ein Windhauch und lauter als die brausenden Töne der Hymne. Es klang wie der letzte schwache Seufzer eines Sterbenden — und alle Gesichter ringsum erbleichten, allen trat kalter Schweiß auf die Stirn.
Ich blickte auf, nur eine Hundertstelsekunde... Tausende von Händen flogen empor — »dagegen« — und fielen herab. Ich sah I.s blasses, von einem Kreuz gezeichnetes Gesicht, sah ihre erhobene Hand. Mir wurde schwarz vor den Augen.
Stille, mein Puls hämmerte wild. Dann, als hätte ein wahnsinniger Dirigent das Zeichen zum Einsatz gegeben, auf allen Tribünen Lärm, laute Rufe, wie ein Sturmwind vorüberwirbelnde Uniformträger, hilflos hin und her
laufende Beschützer, Stiefelabsätze in der Luft, dicht vor meinem Gesicht, neben den Absätzen ein aufgerissener, von einem unhörbaren Schrei verzerrter Mund. Ringsum Tausende brüllender Münder — wie auf einer imaginären, riesigen Leinwand.
Sekundenlang sah ich die weißen Lippen von O, sie duckte sich in dem schmalen Durchgang dicht an die Mauer, den Leib mit beiden Händen schützend. Im Nu war sie verschwunden, weggespült, oder ich hatte sie vergessen, denn...
Aber das spielte sich nicht mehr auf einer Leinwand ab, sondern in mir selbst, in meinem zusammengepressten Herzen, in meinen hämmernden Schläfen. Links über mir sprang plötzlich R-13 auf eine Bank, rot, rasend. Auf seinen Armen I, totenbleich, die Uniform von der Schulter bis zur Brust aufgerissen, auf der weißen Haut Blut. Sie hielt sich an seinem Hals fest, und er trug sie, wie ein widerlicher Gorilla, flink von Bank zu Bank setzend, aus dem Gewühl.
Ich weiß nicht, wo ich die Kraft hernahm — ich drängte mich durch die Menge, sprang über Schultern und Bänke, und schon hatte ich sie eingeholt und packte R am Kragen. »Loslassen! Sofort loslassen!« (Zum Glück konnte das keiner hören, denn alle schrieen, alle rannten.) R wandte sich um, seine Lippen bebten, er dachte wohl, die Beschützer seien ihm auf den Fersen. »Ich dulde das nicht, ich will das nicht! Hände weg, sofort!«
Er schnalzte ärgerlich mit den dicken Lippen, schüttelte den Kopf und eilte weiter. Und da — es ist mir sehr peinlich, dass ich dies niederschreiben muss, aber ich glaube, ich darf es nicht verschweigen, damit Sie, unbekannte Leser, die Geschichte meiner Krankheit bis ins kleinste studieren können — da holte ich aus und schlug ihn nieder.
Stellen Sie sich vor — ich schlug ihn nieder! Ich kann mich noch genau daran erinnern. I glitt rasch aus seinen Armen.
»Gehen Sie!« schrie sie R zu, »gehen Sie! Sie sehen doch, er... Gehen Sie, R! Schnell!«
R fletschte die weißen Zähne, spritzte mir irgendein Wort ins Gesicht und tauchte in der Menge unter. Ich nahm I auf meine Arme, drückte sie fest an meine Brust und trug sie fort.
Mein Herz schlug wie wild, und ich hörte in mir die jubelnde Stimme der Freiheit. Mochte dort unten alles zu Scherben werden — es kümmerte mich nicht! Ich wollte nichts weiter als sie tragen, tragen, tragen...
Abends, 22 Uhr.
Die verwirrenden Ereignisse von heute morgen haben mich so erschöpft, dass ich die Feder kaum halten kann. Sind die schützenden, ewigen Mauern des Einzigen Staates wirklich zusammengestürzt? Sind wir wieder ohne Obdach, in wilder Freiheit, wie unsere Urväter? Gibt es tatsächlich keinen Wohltäter mehr? Dagegen... am Tag der Einstimmigkeit — dagegen? Ich schäme mich für diese Nummern, ich leide, ich fürchte mich für sie. Übrigens — wer ist das eigentlich — sie? Und wer bin ich selber — sie oder wir?
Ich hatte I zu der obersten Reihe der Tribüne getragen. Sie saß auf einer gläsernen Bank in der Sonne. Die rechte Schulter und der Ansatz der herrlichen, unberechenbaren Kurve weiter unten waren entblößt und eine dünne rote Schlange ringelte sich darauf — Blut. Sie hatte offenbar nicht bemerkt, dass ihre Brust entblößt war, dass sie blutete... nein, sie sah es, sie wusste, dass es so sein
musste, und wäre ihre Uniform geschlossen gewesen, sie hätte sie jetzt aufgerissen...
»Morgen«, sie atmete gierig durch die zusammengepressten weißen Zähne, »was morgen geschieht, weiß keiner. Hörst du — weder ich weiß es noch sonst jemand — keiner! Alle Gewissheit ist zu Ende. Jetzt kommt etwas Neues, Unglaubliches, Unerhörtes!«
Drunten herrschte noch immer ein wildes Gewühl. Doch das alles war so fern, ich hörte es nicht mehr, denn sie schaute mich an und saugte mich langsam durch die schmalen goldenen Fenster ihrer Augen in sich hinein. Da fiel mir ein, dass ich einmal durch die Grüne Mauer in die geheimnisvollen gelben Augen eines seltsamen Wesens geblickt hatte.
»Höre, wenn morgen nichts Besonderes geschieht, werde ich dich dorthin führen — du weißt doch, was ich meine.« Nein, ich wusste es nicht, doch ich nickte stumm. Ich hatte mich aufgelöst, ich war unendlich klein, ein Punkt... Aber in dieser Vorstellung lag ja eine gewisse Logik des heutigen Tages, denn der Punkt ist eine völlig unbekannte Größe — er braucht sich nur zu regen, sich fortzubewegen — und er kann sich in tausend verschiedene Kurven, in Hunderte von Körpern verwandeln. Ich habe Angst, mich zu bewegen — in was werde ich mich verwandeln? Mir scheint, dass alle gleich mir die leiseste Bewegung fürchten. Jetzt, da ich diese Zeilen schreibe, sitzen sie in ihren gläsernen Käfigen und warten auf irgend etwas. Kein summender Lift, kein Lachen, keine Schritte sind im Korridor zu hören wie sonst um diese Stunde. Hin und wieder kommen Nummern an meinem Zimmer vorbei; sie gehen auf Zehenspitzen, blicken sich verstohlen um und flüstern miteinander: Was wird morgen sein? In was werde ich mich morgen verwandeln? |
Hinweis: Für die Korrektheit der Angaben in diesen Versionen und die Identität der Texte mit dem angegebenen Original wird keine Verantwortung übernommen. Eine Vervielfältigung der Dokumente zum Zwecke des Vertriebs ist nicht gestattet.
| |