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Alexander Serafimowitsch - Der eiserne Strom (1924)
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XI

Solange die Nacht der allgemeinen Bewegung folgte, gab es nur eine Bewegung und nur eine Nacht. Als sie aber Halt machten, zerfiel alles, und jedes Teilchen lebte auf seine Weise.
Um ein kleines Feuer mit darüberhängendem Kessel, den man mit einigen anderen Sachen aus dem auf dem Wege verlassenen Wagen gerettet hatte, hockte die zerzauste, im rötlichen Schein des Feuers einer Hexe gleichende Alte, Gorpina. Neben ihr, auf einer auf dem Boden ausgebreiteten Pferdedecke, schlief zugedeckt der Alte. Die Gorpina wiegte murmelnd den Kopf:
»Keine Tasse und kein Löffel... und auch das Fässchen ist dort geblieben; wer mag's wohl kriegen? So schön war es, so fest, aus Ahornholz. Ob wir noch mal so einen Gaul kriegen, wie der Gnjedko war? Wie der lief! Brauchte nicht angetrieben zu werden... Alter, komm, essen!«
Von der Pferdedecke kam es heiser:
»Ich will nicht.«
»Wirst krank, wenn du nicht isst; sollen wir dich dann auf den Händen weitertragen?!«
Der Alte liegt im Dunkel, schweigend, das Gesicht bedeckt, auf der Erde.
Dicht bei einem Wagen, auf der Chaussee, schimmert weiß und schlank eine Mädchengestalt. Eine Stimme spricht singend:
»Mein Herzchen... so gib doch her. Das geht doch nicht...«
Um den Wagen geschart, stehen, kaum sichtbar, Frauen und sprechen gleichzeitig:
»So gib ihn doch her... man muss doch das Engelsseelchen begraben... der Herr wird's zu sich nehmen.«
Schweigend stehen die Bauern daneben.
Und die Weiber:
»Die Brüste sind ja zum Platzen voll...«
Sie strecken die runzligen Hände vor und betasten die straffgespannten Brüste der jungen Mutter. Ihr bloßer Kopf mit den wie bei einer Katze in der Dunkelheit funkelnden Augen neigt sich zu der aus dem zerrissenen Hemd weiß hervorschimmernden Brust, und die geübten Finger stecken die Warze mit zärtlicher Bewegung in den leblosen, offenen, kalten Mund.
»Wie versteinert ist sie...«
»Das Kleine riecht schon, man hält's in der Nähe nicht mehr aus.«
Männerstimmen:
»Da gibt's nicht viel zu schwätzen, man muss es halt nehmen und beerdigen!«
»Ist ja ansteckend... das geht ja nicht. Man muss es beerdigen...«
Und zwei kräftige, starke Bauern ergreifen das Kind, lösen die Mutterarme. Ein durchdringender tierischer Schrei zerreißt die Dunkelheit — man hört ihn an den sich gleich einer Kette an der Chaussee hinziehenden Feuern; er schwingt sich über das dunkle, unsichtbare Meer; in den öden Bergklüften musste man ihn hören, falls sich dort jemand verborgen hielt. Der Wagen schwankt und knarrt im erbitterten Kampf.
»Sie beißt ja...«
»Diese Hexe — alle ihre Zähne hat sie mir in die Hand gegraben... «
Die Männer ziehen sich zurück. Wieder stehen nur die jammernden Weiber da. Aber auch sie gehen weg. Andere kommen, betasten die straffgespannten Brüste.
»Sie wird ja sterben, die Milch ist dick geworden...«
Auf ihrem Wagen aber sitzt noch immer die junge Mutter, sie wendet ihren Kopf fortwährend nach allen Seiten, funkelt lauernd mit dem tierhaften Blick, jede Sekunde zu wilder Verteidigung bereit. Ab und zu drückt sie ihre Brust in den regungslosen, steifen Mund der Kindesleiche.
Flammen zittern, verschwinden in der Ferne.
»Herzchen, so gib es doch her, es ist ja tot. Wir werden es beerdigen, und du weinst dich aus. Warum weinst du denn nicht?!«
Und das Mädchen drückt diesen zerzausten jungen Hexenkopf mit den in der Dunkelheit brennenden Wolfsaugen zärtlich an ihre Brust. Sie behutsam abwehrend, spricht die Mutter mit heiserer Stimme:
»Still, Anka, still... er schläft, weck ihn nicht auf. Er schläft die ganze Nacht, und wenn die Sonne aufgeht, wird er aufwachen und auf Stepan warten. Sobald der Vater da ist, wird er wieder Blasen machen und mit den Füßchen strampeln... Ich. weiß doch... ein so liebes Kind, so verständig und klug...!«
Und leise erklingt das gedämpfte, liebende Lachen der Mutter.
»Pst...«
»Anka!... Anka...!« ertönt vom Feuer eine Stimme, »so komm doch essen... der Alte will nicht, und du kommst auch nicht... Eine rechte Ziege bist du, die Grütze ist ja schon angebrannt.«
Noch immer kommen Weiber, betasten die Brüste, jammern und gehen wieder. Oder sie bleiben stehen, das Kinn auf die Hand gestützt, und schauen schweigsam zu. Die Bauern rauchen ihre Pfeifen, sekundenlang leuchten ihre bärtigen Gesichter rötlich auf.
»Man muss Stepan holen lassen, das Kind wird ja bei ihr auf den Armen verfaulen... Es werden ja Würmer kommen...«
»Wir haben doch schon nach ihm geschickt...«
»Der lahme Mikitka ist nach ihm gelaufen.«

 

XII

Lagerfeuer, ganz anderer Art. Auch die Gespräche sind anders, und das Lachen und Kreischen der Frauen, das schwere Fluchen und das Aufklingen der Flaschen. Bald klimpern einige Mandolinen, Gitarren und Balalaikas, ein ganzes Orchester erklingt straff, hell — es hat nichts mit der Dunkelheit, nichts mit der Kette der Feuer in der Dunkelheit gemein. Regungslos sind die schwarzen Berge, das unsichtbare Meer schweigt, um die Menschen mit seiner Größe nicht zu bedrücken.
Auch die Menschen sind anders, groß, breitschultrig, mit sicheren Bewegungen. Wenn die starken, bronzenen Gestalten in breiten Hosen und weißen Matrosenjacken mit offenem, bronzefarbigem Hals in den rotschwankenden Kreis der Flammen treten, werfen sie mächtige Schatten, und von den runden Mützen flattern die Bänder über ihren Nacken. Kein Wort, keine Bewegung ohne lange, schwere Flüche.
Die Weiber, vom flimmernden Schein des Feuers aus der Dunkelheit herausgerissen, leuchten wie bunte, schreiende Flecken. Lachen, Kreischen — verliebtes Spiel. Die bunten Röcke aufgerafft, hocken sie vor den Feuern, singen mit verdächtig heiseren Stimmen, und auf den viereckigen auf der Erde ausgebreiteten, hell schimmernden Tischtüchern — Blechdosen mit Kaviar, Sardinen, geräucherten Heringen, Weinflaschen, Kuchen, Konfekt, Honig... Dieses Lager dehnt sich weit in die Dunkelheit — Lärmen, Klingen, grölendes Lachen, Fluchen, Rufen, dazwischen ab und zu überraschend geordnete, hell aufklingende Saitenklänge der Mandolinen und Balalaikas. Oder ein trunkener, aber wohlgestimmter Männerchor dröhnt plötzlich gewaltig auf, um sofort wieder abzubrechen, als wenn man damit sagen wollte: Habt ihr's gehört? Wir können alles! Und dann wieder das gleiche — Kreischen, Lärmen, scherzhaftes Fluchen.
»Genossen!«
»Hier...«
»Das Tauende her!«
»Spiel doch...«
»Oh! Kombüse!... Du hast mir ja das Armband abgerissen... So lass mich doch! Das Arm...«
Die Stimme brach erstickt ab.
»Genossen, warum sind wir eigentlich hier?! Oder sind etwa die Offizierszeiten wiedergekommen? Was hat Koshuch zu befehlen... Wer hat ihn eigentlich zum General eingesetzt? Genossen, das ist eine Ausbeutung des arbeitenden Volkes. Feinde und Ausbeuter...«
»Haut sie nieder, wenn es so steht...«
Und geschlossen und prachtvoll klingt es:
»Brüder, ergreift die Gewehre, Auf zur entscheidenden Schlacht...«

 

XIII

Im Lichtschein des Feuers sitzt ein Mann, seine Knie umfassend, regungslos da. Hinter seinem Rücken ragt rot beschienen ein Pferdekopf vor. Die weichen Lippen des Tieres lesen hastig das auf der Erde verstreute Heu auf. Hörbar mahlen seine Zähne. Das große, schwarze Pferdeauge glänzt klug und aufmerksam mit seinen violetten Lichtern.
»Ja, so war es«, sagt er, immer noch nachdenklich seine Knie umfassend und mit starrem Blick in das aufflackernde Feuer blickend. Und er erzählt: »Anderthalbtausend Matrosen haben sie zusammengetrieben, alle, die sie gekriegt haben... Was waren das für Narren: Wir sind auf dem Wasser — uns rührt keiner an. Aber man hat sie zusammengetrieben, aufgestellt und ihnen befohlen: Grabt! — Und ringsherum Maschinengewehre, zwei Geschütze, Kosaken mit Gewehren.
Da graben sie nun — jung sind sie alle, kräftig. Ringsherum — viel Volk, Weiber weinen. Die Offiziere gehen umher, mit Revolvern in der Hand. Wer zu langsam gräbt, kriegt eine Kugel in den Bauch, damit er sich länger quält. Die einen graben, und die anderen, die eine Kugel abgekriegt haben, rutschen in ihrem Blut herum, stöhnen. Das Volk seufzt, die Offiziere brüllen: ,Ruhig, ihr Hundesöhne!'«
Während er erzählt, lauschen die anderen auf das, was er nicht erzählt, was sie aber alle von irgendwoher kennen.
Da stehen sie ringsherum, rot beschienen, ohne Mützen, auf die Bajonette gestützt, andere liegen auf dem Bauch, und hören zu; aus der Dunkelheit treten die zerzausten, aufmerksamen, auf Fäuste gestützten Köpfe rötlich hervor. Die Alten hören mit gesenkten Köpfen zu. Weiß schimmern die Weiber, zusammengekauert, voller Gram. Und wenn das Feuer erstirbt — versinkt alles ringsum, sitzt nur der eine da, der seine Knie umfasst hält. Der Pferdekopf hinter seinem Rücken senkt sich auf einen Augenblick, hebt sich wieder und kaut geräuschvoll; schwarz glänzt das kluge, aufmerksame Auge. Und es ist wirklich, als wenn außer diesem einen Mann niemand mehr da wäre, nur die dunkle, unendliche Nacht. Und vor seinen Augen — Steppe, Windmühlen, ein schwarzer Hengst jagt darüber hin, sprengt herbei, und der blutig zerhackte Körper plumpst wie ein Sack über den Hals; und hinter ihm drein der andere — springt von seinem Pferd, hält sein Ohr an die blutige Brust des Liegenden: »Mein Sohn... mein Junge...«
Irgend jemand wirft knorrige, trockene Äste des Christdorns in die glimmenden Kohlen. Sie flammen auf, die Dunkelheit weicht — und wieder sieht man Menschen auf Bajonette gestützt, schweigsame Greise, Weiber, aufmerksame, auf Fäuste gestützte Köpfe.
»Ein Mädchen haben sie gequält — es ist nicht zu beschreiben. Kosaken, eine ganze Hundertschaft... einer nach dem anderen über sie her — so starb sie denn auch — unter ihnen. In unserem Hospital war die Schwester, Fabrikarbeiterin, den Kopf kurzgeschoren, wie ein Bub sah sie aus, rannte immer barfuss umher, pockennarbig und flink war sie; sie wollte die Verwundeten nicht verlassen: es gab niemand, der sie pflegte, der ihnen Wasser reichen konnte. Eine Menge Typhuskranker. Alle sind sie niedergeschlagen worden, an die zwanzigtausend. Aus dem zweiten Stock hat man sie aufs Pflaster geworfen... Offiziere, Kosaken rannten mit gezogenen Säbeln durch die ganze Stadt, schlugen alle nieder, bis auf den letzten. Die ganze Stadt ist voller Blut.«
Und man sieht schon nicht mehr die sternenklare Nacht, nicht mehr die dunkle Masse der Berge — es hallt nur: »Genossen!... Brüder... Ich habe keinen Typhus, ich bin nur verwundet...« Unauslöschlich stehen die bettelnden Gestalten der Krüppel vor den Augen.
Wieder ist es dunkel, und über dem Dunkel die Sterne, wieder erzählt er mit ruhiger Stimme, und wieder fühlen alle, was er nicht ausspricht: einem zwölfjährigen Jungen hat man mit einem Gewehrkolben den Kopf zerschmettert; die alte Mutter zu Tode gepeitscht; die Frau vergewaltigt, endlose Male, und dann am Brunnenbalken aufgehängt; zwei Kinder sind verschwunden — er schweigt, aber alle wissen das alles schon.
Das große Schweigen in dem geheimnisvollen Dunkel der Berge, in der verborgenen Weite des Meeres steht mit alledem in irgendeinem seltsamen Zusammenhang — kein Geräusch ist hörbar, kein Feuer blinkt.
Der rote Schein flackert durch den dichten Kreis des Dunkels umher. Seine Knie umfassend, sitzt der Mann im Schein des Feuers. Geräuschvoll kaut das Pferd.
Auf einmal lachte ein Junger, der sich auf sein Bajonett stützte — die weißen Zähne blinken im bartlosen Gesicht:
»In unserer Siedlung, als die Kosaken von der Front kamen, packten sie alle Offiziere, die ihnen unter die Hand kamen, und schleppten sie in die Stadt zum Meer und dort an den Hafen. Sie banden ihnen Steine an den Hals und stießen einen nach dem anderen vom Ufer ins Meer. Die plumpsen ins Wasser und sinken immer tiefer und tiefer — man sieht alles. Das Wasser dort ist gla—asklar wie eine Träne — bei Gott! Ich war selbst dabei... Es hat lange gedauert, bis sie auf den Grund kamen, mit Armen und Beinen haben sie gestrampelt, ach, wie gestrampelt — wie Krebse mit dem Schwanz.«
Und wieder lachte er, zeigte seine weißen, rosa überzogenen Zähne. Vor dem Feuer saß der Mann, umklammerte seine Knie. Es war eine rotflimmernde Dunkelheit ringsumher, und die horchende Menge nahm immer mehr zu.
»Und als sie endlich unten ankamen, krampften sie sich ineinander, dass es aussah wie ein Knäuel. Alles konnte man sehen — wunderbar!«
Man horchte auf: fern und weich, zum Herzen sprechend, klangen harmonisch die Saitenklänge wieder.
»Die Matrosen!« sagte jemand.
»Und bei uns haben die Kosaken die Offiziere in Säcke gesteckt. In Säcke gesteckt, zugebunden und heida ins Meer.«
»Wie kann man bloß Menschen in Säcken ersäufen«, sagte traurig eine verwitterte Steppenstimme, schwieg eine Weile und fügte dann, niemand sah, wer es war, bekümmert hinzu: . »Wo kriegt man denn jetzt Säcke her, es gibt ja keine, es ist ein Kreuzelend, wenn man in der Wirtschaft keine Säcke hat, aus Russland schickt man keine mehr.«
Wieder Schweigen. Vielleicht deshalb, weil ein Mann vor dem Feuer sitzt, regungslos, seine Knie umklammernd.
»In Russland ist die Sowjetmacht.«
»In Moskau!«
»Nun ja, wo der Bauer ist, da ist auch die Macht.«
»Und zu uns kamen Arbeiter, brachten die Freiheit mit, richteten in den Siedlungen Sowjets ein, sagten, dass man den Reichen das Land nehmen muss.«
»Sie brachten die Gerechtigkeit mit, den Reichen aber — Tod...«
»Ist denn nicht aus dem Bauer der Arbeiter geworden? Bruderherz, wie viele von den Unsrigen arbeiten in dem Zementwerk und in der Maschinenfabrik, und überall in den Städten...«
Von irgendwoher drang es schwach herüber:
»Mu—utter... «, dann brach ein Kind in Schluchzen aus. Eine Weiberstimme beruhigte es. Das war wahrscheinlich drüben auf der Chaussee, bei den dunklen Wagenreihen.
Der Mann am Feuer löste die Hände von seinen Knien, erhob sich, noch immer vom roten Schein erhellt, zäumte das Pferd auf, das seinen Kopf gerade gesenkt hatte, steckte den Rest des Heus in den Sack, warf das Gewehr über die Schulter, sprang in den Sattel und verschwand sofort in der Dunkelheit. Lange noch klangen die sich entfernenden Hufschläge und verhallten dann völlig.
Und wieder schien es: als sei die Dunkelheit geschwunden, nur die endlose Steppe war da und die Windmühlen, und von diesen Windmühlen kam ein Getrappel, schräge Schatten jagten vorbei. Ein Ruf: »Wohin?... Bist wohl nicht bei Sinnen?!... Zurück!« »... Er hat ja eine Familie zu Hause, und hier liegt sein Sohn im Blut...«
»He, zweite Kompanie!« rief jemand.
Und wieder war alles dunkel — nur die lange Feuerkette leuchtete.
»Er ist zu Koshuch geritten, er weiß alles, wie es bei den Kosaken steht.«
»Sieht ja selber wie ein Kosak aus — der Kittel, die Gasyrs (Anm.: Lederzeug mit aufgenähten Patronentaschen, wie es die Kosaken tragen) und die Fellmütze. Die Kosaken halten ihn für einen der Ihren. Von welchem Regiment? Er nennt ihnen ein Regiment — er kennt sie ja alle — und reitet weiter. Und wenn der Ort günstig ist, knallt er aus einem Hinterhalt auch einen Kosaken nieder. Überall kennt er sich aus, weiß genau, welche Truppenteile sie haben und wo sie stehen... Alles meldet er dem Koshuch.«
»He, zweite Kompanie! Seid ihr taub geworden?!« Langsam erhob man sich, reckte sich, gähnte. Hinter dem Berg kamen neue Sterne hervor. Man hockte um die Kessel nieder und begann die Suppe zu essen.
Hastig langt man mit dem Löffel in den gemeinsamen Kessel, verbrennt sich, aber jeder hat's eilig, um nicht hinter dem anderen zurückzubleiben. Sie verbrannten sich dabei den Mund und die Kehle, Gaumen und Zunge wurden taub wie ein Lappen, das Schlucken war schmerzhaft, aber sie hatten's eilig, hastig langten sie zu. Plötzlich erwischt einer etwas! Er hat ein Stück Fleisch aufgegabelt. Einstweilen in die Tasche damit, er wird's später essen, und wieder langt er unter den neidischen Seitenblicken der mit den Löffeln im Kessel herumfischenden Soldaten zu.

 

XIV

Sogar in der Dunkelheit fühlte man es — ein großer, ungestümer Haufen rückte gräuschimmernd heran, und mit ihm ein Gemurmel erregter trunkener Stimmen, untermischt mit unglaublichen Flüchen. Jene, die um die Suppe herumsaßen und löffelten, wandten ihre Köpfe für einen Augenblick:
»Matrosenpack.«
»Unruhiges Volk...«
Sie kamen heran und begannen sofort gehörig über die Dasitzenden herzufallen.
»... Da sitzt ihr und fresst euren Brei, und dass die Revolution kaputt geht — das ist euch schnuppe... Schufte! Bourgeois!«
»Was kläfft ihr denn da? Schreihälse!«
Man sieht die Matrosen scheel an, aber sie sind bis an die Zähm mit Revolvern, Patronengurten und Handgranaten behängt.
»Wohin führt euch Koshuch?!... Habt's euch überlegt? Wir haben die Revolution gemacht... Die ganze Flotte versenkt, haben uns um Moskau nicht gekümmert! Die Bolschewiki kuhhandeln dort mit Wilhelm, aber wir werden nicht dulden, dass die Volksinteressen verraten werden. Wer das Volk verrät, wird auf der Stelle kaltgemacht! Wer ist! Koshuch? — ein Offizier. Und ihr, wie eine Hammelherde lauft ihr ihm nach!«
Hinter dem Feuer, über dem der schwarze Kompaniekessel hängt, ruft eine Stimme:
»Habt euch mitsamt euren Dirnen uns aufgebunden?... Ein ganzes Bordell schleppt ihr mit!«
»Und was kümmert's euch?!... Seid wohl neidisch... Steckt eure Nasen nicht in fremde Töpfe. Wir haben unser Leben verdient. Wer hat die Revolution gemacht? Die Matrosen. Wen ließ der Zar erschießen, ertränken, an die Taue binden? Matrosen. Wer hat aus dem Auslande revolutionäre Literatur eingeschmuggelt? Matrosen. Wer hat die Bourgeoisie und die Pfaffen niedergemacht? Matrosen. Ihr fangt erst an, eure Augen aufzusperren, und wir Matrosen haben schon lange unser Blut hergeben müssen. Und als wir unser revolutionäres Blut vergossen haben — habt ihr Henkersknechte uns mit den Zarenbajonetten gespießt. Verfluchtes Gesindel!... Wozu taugt ihr denn, Dreckfinke?!«
Einige Soldaten legten ihre Holzlöffel beiseite, griffen nach den Gewehren, erhoben sich, und die Dunkelheit war plötzlich voll Spannung. Die Feuer schienen auf einmal verschwunden.
»Jungens, nehmt sie aufs Korn!«
Die Gewehrkolben saßen schon an der Wange.
Die Matrosen griffen nach ihren Revolvern, mit der anderen lösten sie hastig die Handgranaten.
Ein grauhaariger Ukrainer, der den ganzen imperialistischen Krieg an der Westfront mitgemacht und sich mit seiner Kaltblütigkeit und Unerschrockenheit den Unteroffizier verdient, hatte bei Beginn der Revolution die Offiziere in seiner Kompanie niedergeschlagen, stopfte sich jetzt die heiße Grütze in den Mund, klopfte mit dem Löffel auf den Rand des Kessels, wischte sich den Schnurrbart und sagte:
»Rein wie die Hähne: ko-ko-ko-ko! Warum kräht ihr denn nicht?«
Ringsherum lachte man.
»Wieso machen sich die Kerle über uns lustig?« wandten sich die Soldaten ärgerlich nach dem Grauhaarigen um.
Jetzt wurde die lange Reihe der Lagerfeuer wieder sichtbar.
Die Matrosen steckten ihre Revolver ein und machten die Handgranaten wieder fest.
»Hol euch der Teufel, macht, was ihr wollt...«
Und sie zogen weiter — eine lärmende, aufgeregte Bande; ihre weißen Jacken schimmerten in der Dunkelheit, dann verschwanden sie aus dem Schein der Feuer.
Sie waren fort, aber es blieb etwas zurück.
»Schnaps haben sie, ganze Fässer voll.«
»Sie haben's den Kosaken gestohlen.«
»Ach was, gestohlen! — sie zahlen alles in bar.«
»Geld haben sie wie Heu!«
»Sie haben ja alle ihre Schiffe ausgeraubt.«
»Was soll denn das Geld in den versenkten Schiffen? Das nutzt ja doch keinem.«
»Als die zu uns ins Dorf kamen, da nahmen sie den Reichen sofort alles und teilten es unter die Armen aus, und die Reichen verjagten sie, einige von ihnen schossen sie nieder oder hängten sie auf.«
»Schau, Bruder, ein Stern ist ins Meer gefallen...«
Alle horchten: von dort, wo es keinen Menschen gab, wo die unermessliche nächtliche Wasserwüste lag, kam ein Ton ein Aufplätschern oder eine ferne, unbekannte Stimme, eine Stimme vom unsichtbaren Meer.
Schweigen stand in der Nacht.
»Alles was recht ist, die Matrosen sagen die Wahrheit, Was treiben wir uns hier herum? Wären wir doch geblieben, wo wir waren — unser Brot hatten wir, unser Vieh, und jetzt... «
»Es ist schon richtig: wir laufen einem Offizier nach und wissen nicht warum.«
»Was ist denn der für ein Offizier? Er ist genau so einer wie du und ich.«
»Und warum hilft uns die Sowjetmacht nicht? Sie sitzen in Moskau und haben's gut, und wir müssen löffeln, was sie eingebrockt haben.«
Aus der Ferne, irgendwo bei den erlöschenden Lagerfeuern, ertönten durch die Entfernung geschwächte Stimmen; Lärm — die Matrosen tobten, sie schritten von Feuer zu Feuer; von einem Truppenteil zum nächsten.

 

XV

Die Nacht gewann die Oberhand. Die Feuer begannen zu erlöschen, bald hier, bald dort, bis endlich die goldene Kette ganz verschwand — überall lag das Dunkel wie ruhiger
schwarzer Samt über der Stille. Keine Stimmen, nur eins füllte die Dunkelheit — geräuschvoll kauten Pferde.
Eine dunkle Gestalt sucht sich hastig zwischen schwarzen, regungslosen Wagen ihren Weg oder läuft, wenn möglich,
seitwärts, längs der Chaussee und überspringt die schlafenden Gestalten. Ihr folgt eine andere, eine ebenso unkenntlich schwarze Gestalt, die den einen Fuß nach sich zieht. An den Wagen wacht dieser oder jener auf, hebt den Kopf, blickt den sich schnell entfernenden Gestalten nach.
»Was haben sie hier zu schaffen? Was sind das für Leute? Womöglich Spione...«
Man müsste eigentlich aufstehen, sie festnehmen, aber der Schlaf überwältigt einen, und der Kopf sinkt zurück.
Immer noch die schwarze Nacht, Stille, und jene zwei laufen, springen, drängen sich hindurch, wenn es eng ist; die Pferde heben die Köpfe, hören auf zu kauen, spitzen die Ohren, horchen in die Dunkelheit hinein.
Weit vorne und rechts, wahrscheinlich neben den dunklen Bergen, ertönt ein Schuss. Einsam und überflüssig klingt er in dieser Ruhe, in das friedliche Kauen der Pferde. Und wieder ist es still, aber die Spur dieses Schusses ist noch fühlbar, ist noch nicht verschwunden. Die zwei laufen noch schneller.
Tak, tak, tak.'... fallen Schüsse — immer an derselben Stelle rechts unter den Bergen. Sogar in dieser Dunkelheit kann man die dichte Schwärze des aufgesperrten Gebirgsrachens unterscheiden. Jetzt — ein Maschinengewehr, sich übersprudelnd: Ta-ta-ta-ta!... und nach einer Weile, wie um das nicht zu Ende Gesagte zu vervollständigen: Ta-ta...Ta!
Dunkel erhebt sich ein Kopf, noch einer. Jemand setzt sich
aufrecht Einer springt hastig auf und beginnt, nach seinem Gewehr, das in der Pyramide steht, zu tasten... kann es
nicht finden.
»He, Grizko, hörst du!... So hör doch!«
»Lass mich in Ruh'!«
»So hör doch — Kosaken!...«
»Lass mich... sonst... du kriegst eine in die Zähne, bei Gott, kriegst eine.«
Jener schüttelte den Kopf, rieb sich das Kreuz, trat dann zu dem auf der Erde ausgebreiteten Mantel, legte sich nieder, bewegte die Schultern, um sich besser zurechtzulegen
... Ta-ta-ta...
... Tak! Tak! Tak!
Fein wie Stecknadeln zucken Flämmchen aus dem aufgesperrten Rachen des Gebirges.
»Die verfluchten Hunde! Keinen Augenblick hat man Ruhe... Kaum sind wir hergekommen, müde, da bellen sie schon wie die Hunde; Krämpfe sollen sie kriegen, die Verfluchten! Gut, schlag dich, wie du magst — hau zu, beiß mit den Zähnen, aber wenn die Leute schlafen, rühr sie nicht an — alles egal, es hat ja doch keinen Zweck. Verschießen bloß die Patronen und nehmen den Menschen die Ruhe...«
Eine Sekunde später mischt sich in das gleichmäßige Kauen der Pferde noch das Atmen eines müden Menschen.

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