Das Geheimnis des Baschkiren
Ein paar Wochen später ruft mir Alex dieses Gespräch wieder ins Gedächtnis zurück:
„Hör mal, erinnerst du dich noch an den alten Bauern, damals an dem Wasserloch in der Kusnezker Steppe? Du sagtest nachher, dass er um die Söhne der Taiga geklagt habe wie die Juden um den geschorenen Simson." „Ja, ich erinnere mich. Aber wie kommst du gerade jetzt darauf?"
„Na, wir fahren doch in eine Getreidefabrik. Da werden wir die geschorenen Simsone ja gleich leibhaftig zu Gesicht bekommen."
Einstweilen bekommen wir sie allerdings noch nicht zu Gesicht, denn wir müssen noch einen „Seitensprung" machen: Semjon Grigorjewitsch, der baschkirische Diplomagronom, mit dem wir uns angefreundet haben, und der uns heute das Sossnowsker Sowchos, eine der größten unter den 175 Getreidefabriken des „Sernotrest" (Korntrust) zeigen will, besteht darauf, dass wir uns vorher „seine" landwirtschaftliche Station ansehen. „Alle Maschinen, die die Mechanisierungsabteilung unserer Station konstruiert, werden auf dem Sossnowsker Getreidesowchos ausprobiert. In einem Jahr schon übersiedeln einige Abteilungen der Station auf das Sowchos. Station und Sowchos gehören gewissermaßen zusammen; übrigens nicht nur in diesem Fall, jedes einzelne Sowchos steht mit der Versuchsstation seiner Landwirtschaftszone in ständiger Verbindung. Man muss also, wenn man von der Arbeit eines Sowchos ein vollständiges Bild erhalten will, auch die Versuchsstation kennen, mit der es zusammenarbeitet. Im Übrigen lohnt sich ein Besuch bei uns, auf der Station, auch so. Sie kann sich wirklich sehen lassen!" Und wirklich, sie kann sich sehen lassen, die „Omsker Zonale Versuchs- und Forschungsstation für Getreidebau": dreitausend Hektar Land, zum größten Teil Versuchsfelder; ein Dutzend Wirtschaftsgebäude, Laboratorien und Institute; fast dreißig Wohnhäuser für die Arbeiter und den wissenschaftlichen Stab; zwei meteorologische Beobachtungsposten; zwei Riesenspeicher mit dem „Schatz" der Station, den Proben der 80000 verschiedenen Körnersorten von Hart- und Weichwelzen, mit denen hier experimentiert wird; die Mechanisierungsabteilung mit ihren Werkstätten und Schuppen; der Maschinen- und Fuhrpark mit seinen Hangars, Garagen und Ställen; die Kinderkrippe, der Kindergarten, der Klub. Semjon Grigorjewitschs breites, braunes Gesicht strahlt, während er uns auf der Fahrt zur Stationsbasis aufzählt, was alles zu der Station gehört, die er leitet; er, der einstige Hirtenjunge, der Agronom werden wollte und es nicht werden konnte, weil im alten Russland die höheren Lehranstalten fast keine baschkirischen und tschuwaschischen Schüler aufnahmen; er, der Rotarmist und Rote Kommandeur aus der Bürgerkriegszeit, der bei der Truppe Lesen, Schreiben und die Grundbegriffe der Agronomie gelernt hat; er, der Kolchosorganisator, den die Kolchosbauern und Landarbeiter seines Bezirks auf die Hochschule geschickt haben, wo er sich zwei Diplome holte.
„Ja, eine große Station! Achtzig hochqualifizierte wissenschaftliche Mitarbeiter, an dreihundert Hilfskräfte. Aber wir haben auch eine sehr ausgedehnte Zone zu betreuen: vom Ural bis zum Ob und von Südkasachstan bis zur Tundra ... Was wir zu leisten haben? Unsere Selektionsabteilung bemüht sich durch Kreuzung Getreidesorten zu erhalten, die den klimatischen und Bodenverhältnissen unserer Zone am besten entsprechen, die also bei größter Widerstandsfähigkeit gegen Trockenheit und Schädlinge den höchsten Ertrag bringen. Unser Planbüro stellt die Richtlinien für die Organisierung der Anbau- und Erntearbeiten auf. Unsere Mechanisierungsabteilung konstruiert neue Maschinen und Maschinenteile, wie wir sie in unserem Gebiet besonders brauchen, beispielsweise Mähdrescher für niedrige Kulturen oder Gemüse-Setz-Maschinen für Felder von ungewöhnlich großem Ausmaß. Unsere agronomische Beratungsstelle... Aber da sind wir schon. Los, steigt aus! Jetzt könnt ihr euch die Dinge selbst ansehen."
Da ist das Hauptgebäude der Station, ein großer, würfelförmiger Betonbau mit hohen, breiten Fenstern. „Kaum fertig und schon zu klein", sagt Semjon Grigorjewitsch, „im Herbst wird ein zweiter solcher Kasten gebaut; Geld haben wir schon, eine Million Rubel; Material auch; es fehlen nur noch die Bauarbeiter, aber die werden wir auch auftreiben."
Im Obergeschoß sind die Bibliotheks- und Studierzimmer, die Büros des Direktors und der Verwaltung; im Erdgeschoß die Laboratorien.
„Das hier ist die Mahlstation. Hier wird jede von uns gezüchtete Sorte vermahlen und auf ihre chemischen Eigenschaften geprüft. Fast hunderttausend Sorten sind zu untersuchen."
Die Backstation, in der die Backeigenschaften der verschiedenen Mehlsorten festgestellt werden sollen, ist noch nicht ganz eingerichtet, aber das Röntgenkabinett daneben arbeitet schon.
„Wir machen hier ganz neue Versuche", erklärt uns der Leiter des Kabinetts, „wir rufen durch Bestrahlung im Korn Veränderungen hervor und erzeugen so neue Sorten; einstweilen wissen wir noch nicht genau, wie die einzelnen Arten auf die Bestrahlung reagieren und nach welchen Gesetzen sich die Veränderungen vollziehen; aber das kriegen wir schon noch heraus."
Das Maislaboratorium ist eben erst umgezogen. Inmitten eines Wirrwarrs von Kisten, Regalen und Instrumenten sitzt, ein kleines Mikroskop auf den Knien, eine junge Frau und betrachtet verzückt ein „aufregend schönes" Exemplar der ukrainisch-italienischen Kreuzung. Wir müssen alle, der Reihe nach, durch die Linse schauen und werden eingeladen, auch die „furchtbar interessanten" Kreuzungen zwischen sibirischem, kurzstengeligem Mais und amerikanischem, hochstengeligen Brown-Conti in Augenschein
zu nehmen, aber wir haben keine Zeit, und nicht einmal die verlockende Möglichkeit, eine sibirische Abart von Ivory-King-Mais kennenzulernen, vermag uns zum Bleiben zu bewegen.
Aus einem gläsernen Haus laufen Schienen in ein Drahthaus. Auf den Schienen stehen viele Wägelchen mit Blumentöpfen; aus den Blumentöpfen sprießen Weizenhalme. „Unser Trockenheitslaboratorium", erläutert Semjon Grigorjewitsch, „tagsüber, wenn es nicht regnet, setzen wir die Versuchspflanzen der Sonne aus. Die einen bekommen etwas, die anderen ganz wenig, die dritten fast gar keine Feuchtigkeit zugeführt; ab und zu kommen sie auch unter die große Glasglocke dort, in der wir heißen Steppenwind erzeugen. Über jede Pflanze wird genau Buch geführt; einige zwanzig lassen wir sogar jede halbe Stunde wiegen, um festzustellen, wie viel Feuchtigkeit sie abgeben. Die am wenigsten Wasser verlieren, sind die widerstandsfähigsten Sorten; die verwenden wir dann bei Kreuzungen mit anderen Arten, deren Hauptmerkmal ein hoher Halm oder ein besonders großes Korn ist." Hinter dem gläsernen Haus beginnen die Versuchsfelder, weite grüne Äcker, auf denen jede Halmreihe von der anderen verschieden ist.
Kreuzungen, Kreuzungen; erste Generation, zweite Generation, dritte Generation; rechte Reihe: „väterliche Sorte", linke Reihe: „mütterliche Sorte", mittlere Reihe: „hybride Sorte" - zehntausend verwandte und doch ungleiche Weizenarten.
Auf einem Tisch, unter einem Glasdach, stehen, in Gazezylinder gesteckt, kranke Weizenpflanzen. Man hat sie künstlich infiziert und studiert nun den Krankheitsverlauf bei Pflanzen, die „behandelt" und solchen, die nicht mit Chemikalien bespritzt wurden.
Ein Mädchen in weißem Leinenkittel, eine Agronomie-Studentin, die hier während der Ferien wissenschaftlich arbeitet - vor vier Jahren war sie noch Milchmagd in einem sibirischen Kolchos - macht uns auf ein paar rostbraune, ganz verkrüppelte Ähren aufmerksam und sagt klagend:
„Sie müssten schon vor einer Woche eingegangen sein, aber sie leben noch. Unsere ganzen Berechnungen wirft das über den Haufen. Es ist zum Verzweifeln. Und ich hatte sie so gründlich infiziert!"
Semjon Grigorjewitsch lacht, und auch ich lache, Alex hingegen tut empört:
„Das ist ja eine wahre Folterkammer für die Pflanzen." „Nein, die Folterkammer kommt erst", entgegnet Semjon Grigorjewitsch. „Drüben die Wellblechhütte. Unser Kältelaboratorium. Dort lässt man Weizen langsam erfrieren, um die Grenze seiner Widerstandsfähigkeit gegen Kälte festzustellen."
„Und das?" fragt Alex und macht vor einem kleinen Feld halt, auf dem nur ein paar Dutzend Halme stehen: jeder Halm ist an einem Stock angebunden, und die Ähren stecken in Pergamenthüllen; es sieht aus, als seien das lauter Verwundete mit verbundenen Köpfen und hohen Krücken. „Was ist das?" „Ein Weizenverbandplatz", rate ich. Seinjon Grigorjewitsch nickt.
„Sie haben nicht ganz unrecht, man könnte wirklich von einer Art Klinik sprechen, allerdings von einer geburtshilflichen. Was ihr nämlich da seht, sind kastrierte und künstlich befruchtete Pflanzen." „Was?"
„Ja, hier auf diesem Feld wird die erste Generation neuer Kreuzungen produziert, und dazu braucht man teilkastrierte und künstlich befruchtete Pflanzen... Ihr wisst doch, dass Getreide zweigeschlechtlich ist. Nun sucht man sich einige besonders schöne Exemplare aus, zwackt der Ähre, sobald sie aus dem Halm hervorkommt, die Spitze und die unteren Blüten ab, so dass nur vier bis sechs gutentwickelte Blüten übrigbleiben, zupft dann mit einer ganz feinen Pinzette aus jeder Ähre die männlichen Organe heraus. So erhält man die ,Muttersorte'. Die Teil kastrierte Ähre wird in eine Pergamenthaube eingehüllt, damit sie isoliert bleibt. Drei Tage später sammelt man den Blütenstaub der ,Vatersorte' und führt mit Hilfe einer feinen Pinzette die künstliche Befruchtung durch. Die Frucht, die auf diese Weise zustande kommt, ergibt schon die neue, hybride Weizenform."
Dann zeigt er uns eine neue Roggenart, deren Körner doppelt so groß und dreimal so schwer sind wie die aller anderen Sorten. Dort wieder steht eine Sonnenblumenkultur, die sogar hier in Sibirien, wo bisher Sonnenblumen niemals zur Reife kamen, richtig ausgereifte „Semetschki" liefern wird, weil man ihre Vegetationsperiode mit Hilfe der „Jarowisierungsmethode" um vierzehn Tage verkürzt hat. Und in einem kleinen Treibhaus bekommen wir das große Geheimnis der Station zu sehen: den ersten mehrjährigen Weizen.
„Ja, ja, da staunt ihr, was? Es ist aber auch so etwas wie ein landwirtschaftliches Wunder. Wir haben da Weizen mit Unkraut gekreuzt, eine Sache, die von den meisten amerikanischen und europäischen Selektionisten für unmöglich erklärt wurde - aber wir sind Dialektiker und halten nichts von der Unveränderlichkeit der Dinge und Zustände. Wir haben also experimentiert und experimentiert, und es ist uns endlich, nach jahrelangen Versuchen gelungen, durch Kreuzung von Weizen mit einer besonderen Queckenart eine Mischform zu erhalten, die einerseits richtige, wenn auch einstweilen noch kleine Weizenkörner hervorbringt, andererseits aber strauchartig wächst und nicht, wie der Weizen, von der Wurzel aus, sondern von der Ähre her zu dorren beginnt, wobei die Wurzel lebendig bleibt und im nächsten Jahr frische Halme treibt. Vorläufig interessiert uns die Entdeckung hauptsächlich deshalb, weil diesem Queckenweizen auch sehr starke Fröste nicht viel anhaben können; wir werden also zunächst eine besonders widerstandsfähige Sorte von Winterweizen empor züchten — aber darüber hinaus eröffnen sich noch andere, viel weitere, ganz außergewöhnliche Perspektiven: wenn es uns gelingt, und es wird uns gelingen, einen mehrjährigen Weizen zu züchten, der nicht nur im ersten, sondern auch im zweiten und dritten, ja vielleicht sogar noch im vierten Jahr gutes und großes Korn gibt, dann haben wir ein Werkzeug in der Hand, mit dem wir den Weizenanbau von Grund auf neugestalten können. Dann setzt eine Revolution der Landwirtschaft ein, wie sie die Welt noch nicht gesehen hat, ein würdiges Gegenstück zu der gesellschaftlichen Revolutionierung des flachen Landes und zu der technischen Umwälzung, die heute bei uns vor sich geht."
Vom Hauptgebäude her kommt ein Mann gerannt und ruft schon von weitem:
„Semjon Grigorjewitsch! Semjon Grigorjewitsch! Die Leute vom Sossnowsker Sowchos haben angerufen. Sie erwarten euch schon seit zwei Stunden und fragen, wo ihr bleibt."
Semjon Grigorjewitsch streicht sich die Haarsträhne zurück, die ihm ins Gesicht gefallen ist, und hebt die Mütze auf, die er im Eifer des Redens verloren hat. „Wir müssen fahren!" sagt er, und man merkt ihm deutlich an, dass ihn dieser Entschluss einige Überwindung kostet, dass er viel lieber bleiben und weiter von den Entwicklungsmöglichkeiten des mehrjährigen Weizens sprechen möchte. „Zu dumm, ich hätte euch gern noch ins Planbüro und in die Mechanisierungsabteilung geführt und euch gezeigt, wie wir die Kornverluste bei der Ernte bekämpfen. Um dreißig Prozent haben wir sie schon verringert. Eine große Sache, wenn man bedenkt, dass der sibirische Bauer bei jeder Ernte soviel Korn verloren hat, wie man brauchen würde, um in allen Dörfern Westsibiriens neue Schulhäuser zu bauen... Aber wir müssen fort, kommt."
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