XIII.
Das ist die wahre Liebe,
die immer und immer sich gleichbleibt -
wenn man ihr alles gewährt,
wenn man ihr alles versagt.
Es wurde Herbst, kalter, regnerischer November, der die Gefängniszellen auch tagsüber kaum erhellte. Die milden Tage des frühen September, die Lotte noch auf den Feldern bei der Erntearbeit und Hilde in ihrem kleinen Garten erlebt hatten, waren einem ebenso klaren Oktober gewichen, mit ersten Frostnächten und mit einer Sonne, die Tag für Tag aus einem fahlblauen Himmel strahlte und die nur ganz allmählich an Kraft verlor. Mit den langen Novembernächten mehrten sich die Luftangriffe, denen die Häftlinge oben in ihren Zellen bei verschlossenen Türen, standhalten mussten. Hilde war um diese Zeit schon im Frauengefängnis Barnimstraße. Lottes Hoffnung, mit der Gefährtin während der Dauer ihrer Haft Kontakt halten zu können, hatte sich schon bald nach ihrer Einlieferung als undurchführbar erwiesen. Sie selbst musste wenige Tage später - mit hohem Fieber, bewusstlos - ins Revier übergeführt werden; sie hatte Scharlach. An dem Tage, als ihre Krankheit
die Krise erreichte, trat der Volksgerichtshof zusammen, um in Sachen Herbert Busch und Genossen zu verhandeln. Die Anklage lautete für alle Beteiligten, worunter auch Lotte fiel, auf Landesverrat und auf Verrat militärischer Geheimnisse. Alle wurden für schuldig befunden und zum Tode verurteilt. Am frühen Morgen des 20. September wurde Herbert zusammen mit Martin, der achtzehnjährigen Salo und vier anderen Arbeitern aus seiner Abteilung in Plötzensee hingerichtet. Lotte war die einzige, an der das. Urteil wegen ihrer Krankheit nicht sofort vollstreckt werden konnte. Aber auch nach ihrer Genesung, Mitte Oktober, wurde sie nicht nach Plötzensee übergeführt, sondern nach Moabit, zusammen mit vierundzwanzig anderen Frauen, die gleich ihr zum Tode verurteilt waren. Inzwischen war nämlich von der Regierung eine Verfügung erlassen und bereits in Kraft gesetzt worden, nach der eine bestimmte Anzahl zum Tode Verurteilter, vornehmlich Juden, nicht mehr von der Justiz hingerichtet werden durften, sondern unmittelbar durch die Gestapo selbst. Lotte erlebte es auf diese Weise, dass ihre Leidensgefährtinnen aus der Todeszelle eine nach der anderen zum letzten Gang antreten mussten - sie allein blieb zurück. Nach und nach kam sie dahinter, dass bei einem der letzten Luftangriffe, bei dem auch das Polizeigefängnis einen Treffer abbekommen hatte, ihre Akten verbrannt waren. Seitdem war sie mit einem Schlage von der umhegten Persönlichkeit einer Todeskandidatin zu einem der namenlosen Fälle herabgesunken, für den sich niemand mehr zuständig fühlte. Eines Tages schob man sie in das Judenlager Schulstraße ab, das frühere Jüdische Krankenhaus, wo sie in die Gruppe der „Nichtregistrierten" eingereiht wurde. Von der unmittelbaren Bedrohung ihres Lebens befreit, hätte sie aufatmen können. Aber zwei Dinge ließen sie auch hier nicht zur Ruhe kommen: die Sorge um das ungewisse Schicksal Evas - und dann die Tatsache, dass sie in der Schulstraße unter dem Bewachungspersonal der Gestapo ihren Peiniger, SS-Untersturmführer Scharnke, wiedertraf. -
Hilde hatte mit Hilfe des unterirdischen Nachrichtenapparates, der in jedem Gefängnis, gestützt auf einen Teil des Personals, der Kalfaktoren und der auf Außenarbeit tätigen Häftlinge, existiert, von der Hinrichtung Herberts und der anderen Genossen Kenntnis erhalten. Sie wusste auch, dass Lotte nach Moabit übergeführt worden war. Damit hatte sie jede Spur von ihr verloren. Sie versuchte übrigens auch gar nicht, mehr zu erfahren. Es erging ihr seltsam in jener Zeit. Im selben Maße, wie die Tage unaufhaltsam vorwärtsschritten, fühlte sie ihre Fähigkeit, am Schicksal anderer Anteil zu nehmen, langsam schwinden. Sie zog sich mehr und mehr in sich selbst zurück, erfüllt von der einen großen Aufgabe, die ihr noch geblieben war, seit sie wusste, dass Hans ebenfalls im Gefängnis saß: ihr Kind zur Welt zu bringen. In ihrem Bestreben, sich für diese Aufgabe gesund zu
erhalten und bei Kräften zu bleiben, wurde sie von einer Seite unterstützt, von der sie es am wenigsten erwartet hätte - nämlich von einer Aushilfsbeamtin. Frau Groß, eine blasse, stille Person, Anfang Dreißig, hatte Hilde bei ihrer Einlieferung aus den Händen des Direktors in Empfang genommen, um sie in ihre Zelle zu schließen. „Das ist eine ganz Gefährliche!" hatte er dabei gesagt und Hilde wie von Ekel gepackt von sich gestoßen. Frau Groß blickte auf die Schwangere - und auf die „Visitenkarte" in ihrer Hand mit der Eintragung: „Straftat-Landesverrat". In der ersten Zeit hatte sie Hilde nicht aus den Augen gelassen. Aber sooft sie durch das Guckloch sah, immer saß Hilde ruhig und fleißig über ihre Arbeit gebeugt: Flickwäsche, die sie im Akkord zu bewältigen hatte. Sie gehörte zu den wenigen, die immer das vorgeschriebene Pensum schafften, ja, sie erübrigte sogar noch die Zeit, um vor der Verdunklung einen Brief zu schreiben. Nachts wälzte sie sich nicht wie die meisten Häftlinge unruhig auf ihrem Lager herum, sondern sie schlief tief und fest, als wäre sie in einem Sanatorium statt im Gefängnis. Ihr Verhalten als Häftling war musterhaft, jedoch rätselhaft für eine Frau in ihrem Zustand, die den sicheren Tod vor Augen hatte, fand Hanna Groß. Oder ahnte sie gar nicht, was ihr bevorstand? Hanna Groß war noch nicht lange genug in ihrem Beruf, um in jedem Häftling nur die Nummer zu sehen, unter der er in den Büchern geführt wurde. Sie sah hinter jedem „Fall"
noch den Menschen, und der Mensch Hilde Steffen interessierte sie. Bei der nächsten Gelegenheit, als sie Hilde einen Posten Hemden hereinbrachte, lenkte sie das Gespräch auf ihren Prozess.
Hilde hatte noch keine Anklageschrift erhalten. Aber das besagte nichts. Sie kannte Fälle, in denen man dem Gefangenen erst kurz vor der Verhandlung die Anklageschrift in die Hand gesteckt hatte - und auch seinen Verteidiger hatte er bei der Gelegenheit zum ersten Mal zu Gesicht bekommen. - Sie ließ die Arbeit sinken.
„Ich weiß genau, dass man mich nur so lange am Leben lässt, bis das Kind da ist", sagte sie. „Aber so weit denke ich noch gar nicht. Hauptsache, dass das Kind gesund auf die Welt kommt." Sie nahm die Arbeit wieder auf, nähte ein paar Stiche, sah wieder auf. „Glauben Sie, dass man es wirklich herausgeben wird - später...? Ich möchte, dass es im Grünen aufwächst. Es soll ein fröhlicher Mensch werden..."
Sie sprach so ruhig von ihrem Tod, als handle es sich darum, eine Reise zu machen und vorher alle Vorbereitungen dafür zu treffen, dass die Zurückbleibenden auch ohne sie ihre Ordnung hatten. Sie bestimmte schon jetzt den Vormund für das Kind: Karl Röttgers, und sie schickte an ihre Schwiegermutter alle Unterlagen aus der Reichsversicherung, auf Grund deren das Kind bis zu seinem achtzehnten Jahr eine Rente beziehen konnte. Denn das war beschlossene Sache zwischen ihr und Hans: das Kind
würde bei Frieda Steffen bleiben. Es sollte in dem kleinen Häuschen aufwachsen, in dem sie selbst so glücklich gewesen waren. Hildes einzige Sorge war, dass die Gestapo das Kind nicht herausgeben würde, dass sie es in ein Lager steckte, dass sie - das war der schlimmste Gedanke - das Kind zweier Landesverräter nicht für wert hielt, am Leben zu bleiben. Die Beamtin zerstreute diese Bedenken immer von neuem. Wenn es ihr gelungen war, Hilde davon zu überzeugen, dass ein Säugling im Gefängnis, wie in jedem Lager, nur eine Belastung war, dass man also froh sein würde, ihn wieder loszuwerden - dann war Hilde wieder ruhig, fast heiter. Frau Groß verstand nicht, woher sie die Kraft dazu nahm. Sie selbst wusste, was es heißt, ein Kind zu verlieren. Sie war geschieden, und ihr Mann hatte, als er sie verließ, ihren sechsjährigen Jungen mitgenommen. Das lag jetzt fünf Jahre zurück, aber der Schmerz um den Verlust des Kindes war nicht geringer geworden - obwohl sie den Jungen von Zeit zu Zeit sah und an seiner Entwicklung von ferne teilnehmen konnte. Für Hilde Steffen war die Trennung viel endgültiger, weil es gleichzeitig ihr Abschied vom Leben war.
Einmal sprach sie mit Hilde darüber. Es war nach dem Abendessen, und über den Hof hinweg erklangen auch hier, wie in jedem Gefängnis, die ersten vorsichtigen Rufe von Fenster zu Fenster. Hanna Groß tat, als höre sie sie nicht. Hilde hatte heute früh den Besuch ihrer Schwiegermutter erhalten, die ebenso
wie ihre Mutter wieder in Freiheit gesetzt war. Frieda Steffen hatte ihr vor allem von Hans berichtet, den sie in der Prinz-Albrecht-Straße manchmal sehen durfte. Neben den spärlichen Briefen, die Hans und Hilde miteinander wechseln konnten, stellte die Mutter zwischen ihnen die einzige Verbindung dar. Sie selbst hatten sich seit der Verhaftung noch nicht wieder gesehen. Sorgfältig schien jede Begegnung zwischen ihnen bei den Vernehmungen vermieden zu werden.
„Hans hat nur einen Wunsch", erzählte Hilde. „Sein Kind zu sehen. Einmal wenigstens will er es in den Armen halten."
„Ist er ebenso gefasst wie Sie?" fragte die Beamtin.
Hilde nickte. Sie stand neben ihrer Pritsche, den Kopf an die Mauer gelehnt. „Wir wussten immer, worum es ging", sagte sie. Sie sah die andere voll an, ihre Augen standen groß in dem schmalen Gesicht, das schon anfing, die gelbe Gefängnisfarbe anzunehmen. „Ich denke immer, jedem Menschen ist nur ein bestimmtes Maß an Glück zugemessen", fuhr sie fort. „Und wir haben unser Teil gehabt - dadurch, dass wir uns gefunden haben, und durch die gemeinsame politische Arbeit. Sie hat uns mehr verbunden als alles andere."
Hanna Groß schwieg. Es schien ihr plötzlich, als ob Hilde und sie die Rollen getauscht hätten. Nicht sie war der Gefangenen gegenüber die Begünstigte -sondern es war genau umgekehrt, denn Hilde sah auf
ein erfülltes Leben zurück. Frau Groß verstand nichts von Politik. Sie war in die Nationalsozialistische Partei eingetreten, weil sie geglaubt hatte, dadurch an der Beseitigung manchen Unrechts mithelfen zu können. Vom Kommunismus wusste sie nicht mehr, als was ihr seit Jahren von der Goebbels-Propaganda eingehämmert worden war. An diesen „Binsenwahrheiten" begann sie jedoch zu zweifeln, seit sie in den Gefängnisdienst eingetreten war. Hier wurden Menschen gefangen gehalten und zum Tode verurteilt, deren Haltung ihr unter allen anderen Häftlingen die größte Hochachtung abrang. Und sie glaubte einfach nicht, dass es eine schlechte Sache war, für die eine Frau wie diese Hilde Steffen ihr Leben hingab.
Hier muss übrigens erwähnt werden, dass Hanna Groß eine Woche, nachdem Hilde nach Plötzensee übergeführt worden war, selbst in ein Konzentrationslager kam. Man warf ihr „Fluchtbegünstigung einer Gefangenen" vor - aber das war nur der Vorwand, der dazu berechtigte, eine humane Gefängnisbeamtin unschädlich zu machen. Frau Groß hatte das Pech gehabt, dass ein zum Tode verurteiltes Geschwisterpaar, das seit Wochen an der Vorbereitung seiner Flucht gearbeitet hatte, gerade unter ihrer Aufsicht die Tat zur Ausführung brachte. Eine der Schwestern wurde wieder gefangen - die andere entkam. Und damit war das Schuldkonto von Hanna Groß bis zum Rand gefüllt. Sie hatte schon einmal die Nerven verloren - als sie eines Nachts bei ihrem halbstündlichen Kontrollgang einen Häftling am Fensterkreuz baumeln sah. Ihr fehle völlig die für diesen Posten notwendige Härte, stand in dem Bericht des Gefängnisdirektors. Sie sei gefühlsduselig und antworte mit Weinkrämpfen, wenn man sie beispielsweise beordere, einen widerspenstigen Häftling in den Bunker zu werfen. Und statt die Gefangenen durch Strenge zu züchtigen, habe man sie im Verdacht, dass sie ihnen ihr Dasein erleichtere. - Frau Groß wurde also nach anderthalbjähriger Dienstzeit ihres Amtes enthoben und zu ihrer eigenen Erziehung in ein Lager gesteckt. Dort hatte sie nicht mehr lange zu leiden. Sie starb drei Wochen nach ihrer Einlieferung in Ravensbrück, wo sie sich infolge schwerer Depression die Pulsadern aufschnitt. -
Am 19. November brachte Hilde ihren Jungen zur Welt. Sie durchlitt eine schwere, qualvolle Nacht, und ohne Hanna Groß' umsichtigen Beistand wäre sie wahrscheinlich verblutet. Hanna war es, die den Arzt in letzter Minute aus seinem Phlegma riss - sie sorgte auch später dafür, dass Hilde eine hellere Zelle bekam, die groß genug war, um sie und das Kind aufzunehmen. Sie half Hilde, wo sie nur konnte. Sie beförderte heimlich Hildes Briefe, und als man der Schwangeren die Zusatznahrung versagte, fand Hanna Wege, um sie ihr dennoch zuzustecken.
Der kleine Hans Steffen war jetzt beinahe drei Wochen alt. Hilde saß an seinem „Bett", das sie ihm am Fußende ihrer Pritsche bereitet hatte. Auf den
Knien hielt sie die Briefe ihres großen Hans. Sie hatte gerade wieder darin geblättert. Der letzte Brief war vom 2. Dezember - da wusste er schon von der Geburt seines Sohnes. Der ganze Brief war Überschwang, Glück - eine Freude, die sich in Worte nicht bändigen ließ.
„Heute ist in meiner Zelle nur Licht - jedenfalls sehe ich keinen Schatten, denn soviel Glück auf einmal habe ich in den letzten Monaten nicht erlebt. Da darf ich doch auch einmal fröhlich sein, nicht wahr?" Und weiter unten: „Ich hoffe nur, dass Du in Deinem Kampf, den Jungen recht lange bei Dir zu behalten, Erfolg hast. Das wäre für uns alle das Schönste..."
Hilde hatte inzwischen schon die Bestätigung erhalten, dass das Kind bei ihr blieb, solange sie es nähren konnte. Jetzt erwartete sie die Antwort der Gestapo auf ihr zweites Gesuch: dass der Vater sein Kind sehen dürfe. Eine Ablehnung war bis heute nicht eingegangen - also konnte sie hoffen. Bei jedem Geräusch von draußen zuckte sie freudig zusammen. Seit Tagen war sie jede Minute darauf gefasst, dass die Tür aufging und Hans über die Schwelle trat. Er selbst hatte ebenfalls ein Gesuch eingereicht. Seinen einzigen (mit Zagen dachte sie: letzten?) Wunsch würden sie ihm nicht abschlagen können.
Das Kind rührte sich. Hilde legte die Bogen beiseite und beugte sich über das kleine atmende Wesen. Es schlief schon wieder, beide Hände zu Fäustchen
geballt. Der Mund, der den Atem einholte und wieder ausstieß, stand offen und hatte die Größe eines Pfennigstückes. Das kahle Köpfchen war zart gerötet Hilde zog ihr blau-weiß kariertes Bettzeug näher heran und wickelte es fester um den kleinen Körper Es war eine Liebkosung; die hundertfach am Tage herbeigeholte Bestätigung, dass das Kind wirklich lebte und in einem Raum mit ihr atmete, dass sie es umhegen konnte - dass ein lang ersehnter Augenblick ein mit Ungeduld herbeigewünschtes Ereignis endlich Wirklichkeit geworden war. Auch Hans hatte während der Zeit seiner Haft mit seinen Gedanken nur in der Zukunft gelebt, in einer Zukunft, die plötzlich zur Gegenwart geworden war und die die Erfüllung ihres gemeinsamen Lebens brachte: das Kind. In seinen Briefen hatte seine Freude auf das Kind immer neuen Ausdruck gefunden. Hilde griff erneut nach den Blättern. Seine Briefe zu lesen, wieder und wieder, obwohl sie sie längst auswendig wusste, das war, als hielte sie Zwiesprache mit Hans - es war wie die Vorbereitung auf den großen Augenblick, an dem er endlich selbst in ihre Zelle trat...
„11. September. Erst gestern bin ich ausgezogen, um Schütze Steffen zu werden - es war, als sollte es ein Abschied für immer sein. Und schon heute sind wir uns wieder räumlich so nahe gerückt. Als ich erfuhr, dass Du mein Schicksal teilen wirst, dachte ich mit Schrecken an Deinen Zustand... Die Zeit, die uns bevorsteht, ist die schlimmste, mein Hildchen,
denn sie wird gekennzeichnet sein durch die Ungewissheit, was aus uns wird. Wir können sie am besten überstehen, wenn wir versuchen, unser inneres Gleichgewicht wiederherzustellen - und vielleicht, indem wir glauben, noch eine Aufgabe zu haben. Diese Aufgabe, die Dich sicher ganz in Anspruch nimmt, hast Du ja, nämlich unser Kind. Für uns beide wird jedoch der Brief bald die einzige Möglichkeit der Verständigung sein, und trotzdem wollen wir versuchen, uns so nahe zu bleiben, wie wir es immer waren. Glaubst Du, dass wir es schaffen werden? Ich glaube fest daran. Außerdem bleibt uns ja die Erinnerung an die Jahre, die wir zusammen erleben durften - auch sie wird uns über alles Schwere hinweghelfen..."
„10. Oktober. - Du hast mir die Rechnung unseres gemeinsamen Lebens aufgestellt, und Du hast recht - wir dürfen uns nichts gegenseitig vorwerfen, und ich bin froh, dass Du das so klar siehst. Dein Gleichgewicht ist die Voraussetzung für meine Ruhe, und ich will mir auch keine Gedanken mehr darum machen, wie alles gekommen wäre, wenn... Nach Deinem letzten Brief ist alles zwischen uns beiden ganz klar geworden, das ist mir immer wieder der größte Trost in diesen Stunden. Ich frage mich immer wieder: Womit habe ich soviel Liebe und Vertrauen verdient? Am schönsten, mein Hildchen, ist die Beschreibung Deiner Empfindungen, und es erfüllt mich fast mit Neid, wenn ich daran denke, wie wenig Anteil ich an diesem Werden habe. Grüß mir unser Kind! Wenn
Du mit ihm Zwiesprache hältst, dann erzählst Du ihm doch auch von mir und davon, dass ich oft an Euch denke? Denn um Euch beide kreisen meine Gedanken - wenn ich auch sonst nichts für Euch tun kann."
„23. bis 25. Oktober. - Ich weiß jetzt auch, weshalb Du Dich vieler Einzelheiten unseres gemeinsamen Lebens besser erinnerst als ich. Du kamst durch mich in eine völlig neue Umgebung. Viele Dinge, die mir selbstverständlich waren, da sie zu meinem Leben gehörten, waren neu für Dich - und Du hattest es oft schwer, wenn Du mit mir Schritt halten wolltest. Aber an dem, was man sich kämpfend erworben hat, hängt man am meisten. Auch Du hast mir soviel Schönes und Neues gegeben, aber das ist nicht an äußere Daten gebunden, es wuchs mehr im Innern Siehst Du, meine Hilde - vieles erkennt man erst, wenn man Zeit und Ruhe zum Nachdenken hat. Und es ist für mich das Schönste, hier über uns beide zu grübeln. Dann sitzt Du neben mir, mein Bleistift ist mein Mund - und das Papier, auf dem ich meine Gedanken niederlege, ist Dein Ohr. Ihm kann ich aber nicht alles anvertrauen, was ich Dir sagen möchte, meine liebe Frau - Du wirst es aber spüren, zwischen den Zeilen..."
„30. Oktober. - Mutter brachte mir am Mittwoch drei Stiefmütterchen mit, zwei dunkelrote und ein gelbes. Du hast sie immer so fleißig gegossen... Ganz große Blüten sind es, und sie duften! Ich habe eine für dich gepresst, aber sie ist zusammengeschrumpft,
die kräftigen Farben sind verblasst, und riechen tut sie auch nicht mehr. Ich lege sie mit hinein, vielleicht bekommst Du sie. Es ist ein Teil von dem Stückchen Erde, an dem Du so sehr hängst. Der große Apfelbaum an der Kohlengrube hat auch zum ersten Mal getragen. Sonst fielen die Äpfel immer ab - diesmal esse ich sie, aber sie schmecken mir gar nicht, weil ich immer daran denken muss, dass Du keine bekommen darfst, und Du brauchst sie doch viel nötiger als ich. -Was Du in der Barnimstraße erlebst, liebe Frau, ist leider die Norm: der Massenbetrieb, der das Individuum in eine Nummer verwandelt. Und die Frau gewöhnt sich meist noch schwerer an die Drillichuniform als der Mann. Aber ich kann Dich über alle diese Dinge nicht trösten, da ich nicht helfen kann. Ich weiß aber, Du wirst das alles mit Geduld ertragen, das zeigt mir auch wieder Dein Brief. Was mich betrifft, so bin ich ganz ruhig geworden. Ich denke nur noch an Dich und an das kommende Ereignis - das macht mir das Dasein lebenswert, ja mehr, es macht mich zum glücklichen Menschen!"
„8. November. - Ich habe meinen Tisch unter das Fenster gerückt, um Dir diese Zeilen bei Tageslicht zu schreiben. Das ist in dieser Jahreszeit und bei Regenwetter nur über Mittag möglich. Der Tisch unterm Fenster erweckt die Illusion in mir, zu Hause am Schreibtisch zu sitzen und an Dich zu schreiben. Weißt Du noch - damals schriebst Du die längeren Briefe, heute tue ich es. Wir haben uns noch so viel
zu sagen, auch wenn wir uns über den weiteren Weg vollkommen einig sind. Ist doch das Bewusstsein unserer Zusammengehörigkeit eine Quelle immer neuer Gedanken. Gedanken, die stets um den anderen kreisen, um das schon Erlebte und das noch zu Erwartende. Ich hätte nie geglaubt, liebe Frau, dass dieses Erwarten auch mich so ganz ausfüllen könnte. Ich habe damals, als wir unser Kind wollten, geglaubt, den Platz, den es in der Gesellschaft einnehmen soll, zu erkennen. Nun wird unser Kind Sinn und Erfüllung sein. Das ist so schön, Hilde, so beruhigend, dass ich die Umstände, unter denen es geboren wird, im Gefängnis, hinter Gittern, als Nebensächlichkeiten empfinde. Wenn wir es nur gesund in den Armen halten, dann soll es uns nicht stören, ob als Geburtsort die Barnimstraße registriert wird, ob es ,in Kluft' eingekleidet wird... Meinetwegen sollen sie Akten anlegen, in denen schon, ehe man weiß, ob es ein Junge oder ein Mädchen wird, Beanstandungen aufnotiert werden..."
„11. November. - Deine Mutter war hier und hat von Dir erzählt und mir ein Photo mitgebracht: ,Hilde Brasch auf der Treptower Spielwiese'. Nun habe ich Dich immer vor Augen. Das Bild hängt direkt über meinem Tisch. Daneben in einer ,Wandvase' die beiden letzten Stiefmütterchen aus unserem Garten. Die ,Wandvase' besteht aus einem Eisbecher, der Henkel aus einem Stückchen Schnürsenkel. Die Stiefmütterchen stecken in dem Unterteil des Zahnbürstenbehälters. - Leider sieht es so aus, als ob die Wochen hier auch schon gezählt sind und es so gegen Weihnachten eine Station auf unserem Wege weitergeht. Vorher hoffe ich Dich aber bestimmt zu sehen. Herr Möller erzählte heute, dass man Dich schon wieder ausquartieren wollte, da niemand fürs Bezahlen zuständig ist. Man scheint sich aber geeinigt zu haben, ,aus Nächstenliebe', um Dir nicht das letzte Obdach zu nehmen... Ja, Hilde, keiner möchte etwas mit uns zu tun haben, und doch lässt man uns nicht los... Für den Goethe hab' Dank, liebe Frau. Wie sagt er von der Liebe? ,Wenn man ihr alles versagt - sie bleibt sich immer gleich.' Nein, Hilde, ich glaube, sie wird noch größer durch die Sehnsucht. Meinst Du nicht auch? Es ist nicht leicht, sich darüber klar zu werden, vielleicht auch nicht nötig, wenn wir nur spüren, dass unsere Gedanken füreinander uns stärker machen. Stark und tapfer, liebe Frau, musst Du in den nächsten Wochen sein, hast Du doch eine Aufgabe zu erfüllen: unser Leben weiterzugeben..."
„15. bis 19. November. - Wieder ist es ein Sonntagnachmittag, den ich mir aussuche, um mit Dir zu sprechen, um Dir besonders nahe zu sein. Der Sonntag hat uns ja immer ganz allein gehört, an ihm sammelten wir die Kraft für die nächste Arbeitswoche. Hier spürt man es kaum, dass Sonntag ist... Vorhin war ich wieder eine halbe Stunde im Hof. Es ist doch schon Winter, man friert tüchtig durch, neulich versuchte es sogar zu schneien, es wurde dann aber nur
nasskalter Matsch. An solchen Tagen fällt es mir immer schwer, wieder an einen neuen Frühling zu glauben. Wir müssen es aber, Hilde, denn das Blühen und Wachsen - das ganze Leben - geht weiter, auch wenn wir beide nicht mehr dabei sind... In unserem Kind wünsche ich mir nichts weiter als Deine Auferstehung. Bleibt es also bei Hilde oder Hans? Lange brauchen wir ja nicht mehr darüber nachzudenken. Wenn die große Stunde da ist, wirst Du sicher fühlen, wie es am besten ist. Gewinnst Du nur den Kampf um das Leben unseres Kindes - ich werde glücklich sein, gleich, welchen Namen Du ihm gibst. -Ich lese gerade ,Das war das Ende' von Bruno Brehm, einen Roman über das Jahr l918.Man fragt sich immer wieder, wie ist es möglich, alles das nach zwanzig Jahren in noch grausigerer Form wieder zu erleben? Damals wie heute ist die Gewalt der Ereignisse so groß, dass sich ihr kein Mensch entziehen kann. Das ist ein Trost für uns, mein Hildchen!"
„25. November. - Nun ist ja wieder ein Abschnitt unseres Weges, der noch vor uns liegt, zu Ende gegangen. Vor einigen Tagen wurde ich vom Staatsanwalt vernommen. Auch Deine Akten lagen auf dem Tisch, doch ging meine Hoffnung, Dich zu sehen, nicht in Erfüllung. Die Sehnsucht wird immer größer, doch dürfen wir uns nicht unterkriegen lassen. Erst am Freitag habe ich wieder gesehen, wie viel Kraft wir noch brauchen, ehe alles überstanden ist. Die einzige Hilfe gegen unnütze Grübeleien bleibt dann immer
der Gedanke an Dich - oder das, was ich über Dich erfahre. Deine Mutter brachte mir neulich eine Großaufnahme von Dir. Ich sitze nun oft vor diesem Bild und sehe in Dein sonniges, fröhliches Gesicht und denke mir aus, wo und wann es wohl entstanden sein mag. Sonne, Wind und Unbeschwertheit - das alles erlebten wir kürzlich selbst in glücklichen Stunden. Jede Erinnerung daran erweckt immer ein seltsames Gefühl in mir. Es besteht zu drei Vierteln aus Freude und aus einem Rest Traurigkeit. Freude, dass ich das alles mit Dir erleben durfte, Traurigkeit, dass es nicht ewig so bleiben konnte. Es ist der absurde Wunsch aller Menschen, es möge niemals ein Ende geben. - Da knüpfen die Gedanken wieder an Deine Erklärung von der Ewigkeit: das Weiterleben in unserem Kinde... Es gibt nichts Schöneres für mich, als an diesen Höhepunkt unseres gemeinsamen Daseins zu denken - und an Dich, meine Hilde, deshalb bin ich Dir auch ganz nahe. Allein sind wir nur, wenn niemand mehr an uns denkt. An Dich aber denken viele -schon um unseres Kindes willen. Und je mehr unser Kind zum Mittelpunkt wird, um so leichter wird es für uns beide, abzutreten..."
„2. Dezember. - Ich weiß vor Freude nicht, wo ich zuerst beginnen soll, liebe tapfere Frau! Der Sohn ist da! Mutter brachte mir heute die Freudenbotschaft. Ehe Du diese Zeilen erhältst, werde ich Dich sicher gesehen haben und Dir ohne viel Worte erklären, wie glücklich der Vater ist. Ja, meine Hilde, in mir
ist alles nur Staunen und Freude. Für Dich ist die Geburt sicher viel mehr und nicht nur reine Freude gewesen. Aber dass die Freude allein auf dieser Welt nicht bestehen kann, hast Du mir ja so schön erklärt.
Bei mir in meiner Zelle ist heute nur Licht---"
Hilde ließ die Blätter sinken. Jedes Mal, wenn sie diesen Brief ihres Mannes las, zwang sie ihre Gedanken, zurückzugehen - bis zu jenem düsteren Novembermorgen, an dem sie ihren kleinen Sohn zur Welt gebracht hatte. Aber es gelang ihr nicht, mehr als kurze Erinnerungsfetzen in ihr Gedächtnis zurückzuholen: der trübe, schwammige Novemberhimmel, der gerade an diesem Tag ihr Fenster dicht verhängt hatte wie ein graues Tuch; das unflätige Geschimpfe der Lazarettbeamtin, die ihrer Wut über die unvorhergesehene Mehrarbeit auf diese Weise Luft machte; der Arzt, der nicht kommen wollte; die Wehen, die ihren geschwächten Körper scheinbar auseinander rissen. Aber das alles war, als habe sie es gar nicht selbst erlebt, als habe sie es nur erzählen hören... Sie erinnerte sich ganz klar nur an eins: an jenen Augenblick, als sie aus der Bewusstlosigkeit, in die sie wohl gesunken war, wieder erwachte - und das kleine neue Lebewesen lag neben ihr. Das Glücksgefühl, das sie damals ergriffen hatte und das ihre Brust zu sprengen drohte, hatte auch Hans erfüllt, als er jetzt die Nachricht erhalten hatte. Wieder waren sie sich in ihren Empfindungen ganz nahe gewesen; keine Gefängnismauer vermochte sie wirklich voneinander zu trennen.
Draußen klapperten Schlüssel. Die Tür ging auf. Auf der Schwelle stand die diensttuende Beamtin. „Nr. 255 mit dem Kind fertigmachen", sagte sie geschäftsmäßig. „Herunterkommen zum Besuchsempfang."
Eine Sekunde lang stand Hilde erstarrt. Ihre Knie begannen zu zittern, es war, als ob die Kräfte sie verlassen wollten. Dann drehte sie sich langsam zu ihrem Jungen um. An Hanna Groß vorbei, die am Ende des Ganges stand und ihr unmerklich zunickte, schritt sie ruhig neben der Beamtin her - Hans entgegen, der endlich gekommen war... |
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