Nemesis-Archiv   WWW    

Willkommen bei Nemesis - Sozialistisches Archiv für Belletristik

Nemesisarchiv
Elfriede Brüning - ... damit du weiterlebst (1949)
http://nemesis.marxists.org

IV.

An diesem 21. August 1942, als Herbert Busch, im legalen Leben Ingenieur der Patentabteilung von Siemens, illegal der geistige Urheber eines Geheimsenders, überraschend an seinem Arbeitsplatz verhaftet wurde, nahm das Verhängnis, das über der Widerstandsgruppe lag, bereits seinen Lauf. So hatte der PK-Mann Felix Haber achtundvierzig Stunden früher noch nicht geahnt, dass gerade er vom Schicksal dazu auserwählt war, ein so wichtiges Glied in der Kette des Widerstandskampfes zu bilden, dass von seinem Verhalten Leben oder Tod von ein paar Dutzend mutigen Menschen abhängen sollte.
Dieser 21. August war der letzte Urlaubstag des Gefreiten Haber. Das heißt, genau genommen war es gar kein Urlaubstag. Haber, im Zivilberuf Kameramann, gehörte als Soldat einer Propaganda-Kompanie der Marine an, die seit kurzem in Holland stationiert war. Unglücklicherweise hatte sein Apparat jedoch gerade in dem Augenblick, als Haber ihn kurz vor dem Einsatz auf dem Schnellboot nochmals überprüfen wollte, versagt, und zwar so gründlich, dass er selbst nach stundenlangen Versuchen die Fehlerquelle nicht entdecken konnte. Er erhielt deshalb einen
Marschbefehl nach Berlin, um die „Arriflex" gründlich überholen zu lassen. Haber führte den Auftrag aus, indem er, zu Hause angekommen, die Kamera auseinander nahm und sorgfältig von allen Sandteilchen, die sich im Objektiv festgesetzt hatten, befreite. Das war eine Arbeit von einer Stunde. Die übrigen 191 Stunden, die von den acht für die Ausführung der Reparatur vorgesehenen Tagen verblieben, hatte er zur freien Verfügung.
An diesem letzten Tag seines Berliner Aufenthalts war der Gefreite Haber vormittags nach Potsdam zu seiner Einheit gefahren und hatte sich seinen Marschbefehl nach Zandvoort bei Amsterdam abgeholt. Als er zurückkam, blieben ihm noch gut zwei Stunden bis zur Abfahrt des Zuges. Er schlenderte die Straßen entlang, unschlüssig, was er mit sich und der freien Zeit anfangen sollte. Plötzlich hörte er sich beim Namen gerufen. Beim Umdrehen sah er in die strahlenden Augen seines ehemaligen Schulkameraden Karl Röttgers, der ihm beide Hände schüttelte: „Mensch, Felix - sieht man dich auch mal wieder?"
Er schob den anderen einen Schritt von sich weg und musterte ihn von oben bis unten. „Sehr weit hast du es ja noch nicht gebracht", schmunzelte er, mit einem Blick auf den Gefreitenwinkel.
Felix grinste. „Habe auch nicht die Absicht, es weiterzubringen."
Er spürte, dass Karl ihn prüfend ansah: „Also noch der alte geblieben?"
„Na klar..."
Sie überquerten die Straße und steuerten auf die Eckkneipe zu. Karl suchte den entlegensten Platz, einen Tisch in einer Nische, wo sie ganz ungestört waren. Trotzdem setzte er sich so, dass er das Lokal übersehen konnte. Es waren nur wenige Leute da, drei Männer und eine Frau, die trübsinnig ihr dünnes Bier hinuntergossen. Karl zog den Schulfreund an seine Seite. „Also schieß los!" sagte er ungeduldig. „Wie ist die Stimmung draußen?"
Felix zuckte die Achseln: „Man sieht zu, wo man bleibt..." Er erzählte seinen „Unfall" mit der Kamera. „Bewährtes Rezept", lachte er. „Das erste Mal streikte das Ding in Riga, wo es die Butter buchstäblich aus Fässern zu fressen gab. Wir haben uns natürlich zehn Filmrollen voll mitgenommen... Dann in Bukarest, da wollten wir wegen der Mädel noch ein paar Tage 'rausschinden. Na, und jetzt - die acht Tage Berlin waren einfach Puppe!" Er legte drei Finger an die Lippen und warf sie schmatzend in die Luft. „Und du?" fragte er den anderen. „Wie gefällt's dir bei Preußens?"
Karl wartete, bis der Kellner durch das Lokal auf sie zukam und das wässrige Bier vor sie hingestellt hatte. Erst als er wieder außer Hörweite war, lehnte er sich in seinen Stuhl zurück. „Ich bin nicht Soldat", sagte er, dabei Felix fest ansehend. „Wehrunwürdig. Bin erst vor sechs Wochen aus Oranienburg zurückgekommen." Felix spürte, wie er rot wurde. Die Röte begann hinten im Genick, züngelte wie eine Flamme um den ganzen Hals und überzog langsam sein Gesicht bis dicht unters Haar. Er musste auf einmal an die Schulzeit denken. Sie hatten beide der Freien Schulgemeinde Scharfenberg angehört. Schon früher waren Karl, er und noch ein paar andere aus dem sozialistischen Jugendverband eine verschworene Gemeinde gewesen. Einer von ihnen, Hans Steffen, war gleich 1933 von den Nazis verfolgt worden, und sie hatten ihn, obgleich er schon nicht mehr zur Schule gehörte, umschichtig auf ihrer Bude versteckt. Später hatten sie alle unter Protest die Schule verlassen, als man sie zwingen wollte, in die HJ einzutreten. Sie waren damals gerade siebzehn. Mag sein, dass bei den meisten von ihnen solche Handlung einfach dem Bedürfnis entsprang,  den  befohlenen Zwangsorganisationen gegenüber den eigenen Willen durchzusetzen. Aber einige, darunter Felix, hatten das Gebot der Stunde schon klar erfasst. Sie wussten, dass Hitler Krieg bringen würde; und diese Erkenntnis in alle Schichten zu tragen, die Vorbereitungen des Krieges mit jedem Mittel zu bekämpfen, das sollte ihre Aufgabe sein. Die ersten Jahre nach der Schulentlassung hatten sie noch eng zusammengehalten, Flugblätter verfasst und in die Betriebe geschmuggelt. Aber im gleichen Maße, wie der Krieg, dem ihr Kampf gegolten hatte, näher rückte, waren sie wie kraftlos auseinander gefallen. Zumindest Felix, der schon seit 1935 bei der Wehrmacht diente, war angesichts des ins Ungeheure anwachsenden militärischen Apparats jeder weitere Widerstand sinnlos erschienen. Er war mit seinen ehemaligen Kameraden nicht mehr zusammengekommen, der Krieg hatte ihn an zu ferne Ufer gespült.
Nun saß Karl Röttgers vor ihm, mit demselben ruhigen, klaren, vollkommen beherrschten Gesicht, mit dem er ihnen einst seine politischen Thesen auseinandergesetzt hatte. Er sah nicht danach aus, als ob sich an seiner Auffassung inzwischen etwas geändert hätte.
„Du bist also bei der Stange geblieben?" fragte Felix.
Karl sah ihn an, in seinen Augen stand ein Ausdruck tiefen Erstaunens. „Natürlich...", sagte er nur, aber es klang, als wollte er sagen: Kann es für uns etwas anderes geben?
Felix erinnerte sich der vielen Schläge, die sie in der Zwischenzeit von den Nazis hatten einstecken müssen. Wie die „Führer" mit Hilfe ihrer neunzig Milliarden, die sie zur Vorbereitung ihres Krieges verpulvert hatten, das Volk in allen seinen Schichten hatten ködern können. Das Volk war ihnen nachgerannt und hatte gejubelt, sowohl bei der Wiedereinführung der Wehrpflicht als auch bei der „Heimführung" der Sudetendeutschen ins Reich. Ungeachtet einiger Flugblätter, die eine Handvoll Andersgesinnter unter Einsatz ihres Lebens unter die Menschen gestreut hatte, um die Wahrheit zu verbreiten, hatte das Volk nicht den kommenden Krieg, sondern nur das
Dahinschmelzen der Arbeitslosen auf den Straßen gesehen, das Wachsen der Autobahnen, den Bau der Schiffe, die beileibe nicht für den Krieg, sondern scheinbar für den einfachen Volksgenossen geschaffen waren, einzig und allein zu dem Zweck, diesen mit den Schönheiten der norwegischen Fjorde und mit den Reizen von Madeira bekannt zu machen. Felix seufzte. Er selbst war mit der Einberufung zum Wehrdienst mehr und mehr in den Sog der Nazis gerissen worden; er hatte sich - aus Selbsterhaltungstrieb, wie er sich selber beschwichtigte - nicht einmal dagegen gewehrt. Was blieb ihm als Soldat auch anderes übrig? Mitmachen, solange ein Vorgesetzter da ist, und sich drücken, sowie der den Rücken kehrt, das war zeit seines Soldatendaseins die Devise. Aber dann folgten die Blitzsiege, Schlag auf Schlag: Polen, Norwegen, Belgien, Frankreich... Für einen Kriegsberichter, der die Aufgabe hat, die Geschehnisse des Kampfes auf die Leinwand zu bringen, dehnte sich der Wirkungskreis plötzlich ungeheuer aus, und es war schwer, sich im Rausch des Vordringens, des leichten und scheinbar unaufhaltsamen Sieges einen Rest von Skepsis zu bewahren. Dazu kam, dass die Sterne am Kriegshimmel des Dritten Reiches, die Helden der Luftwaffe und der Kriegsmarine, wie Mölders, Galland und Günther Prien, mit denen ihn seine Arbeit zusammenführte, als Saufkumpane im Kasino durchaus liebenswürdige Gefährten waren. Sie alle waren junge, gesunde Burschen, unbürgerlich, unsentimental und
äußerst freigebig, die leider nur einen Fehler hatten: dass ihre Intelligenz nicht ausreichte, um zu erkennen, für eine wie schlechte Sache sie kämpften. Darüber hinaus verfügten sie - teils aus Liebesgabenpaketen weiblicher Verehrerinnen, vor denen sie sich kaum retten konnten, teils aus erbeuteten Feindbeständen -in beliebiger Menge über echten Kognak, Zigaretten und Sekt, die sie großzügig an ihre Umgebung verteilten. Felix, der immer unter den Beschenkten war, übersah dabei, dass er im Begriff war, sich von Tag zu Tag mehr die Ideen dieser Burschen zu eigen zu machen, die den Sieg schon fest in der Tasche wähnten, und die den Gedanken, dass man etwa diesem fest gefügten tausendjährigen großdeutschen Reich ernsthaft Widerstand entgegensetzen könne, mit Empörung von sich wiesen.
Das alles machte sich Felix erst in diesem Augenblick klar. Erst jetzt, da er Karl Röttgers gegenübersaß, der ihn genau wie früher anschaute: etwas skeptisch-abwartend, dabei lebhaft und immer wach interessiert, fühlte er, wie weit er sich selbst von dem Felix von damals entfernt hatte. Früher hatte sein Leben einen Inhalt gehabt. Heute... Er schämte sich, wenn er daran dachte, wie leer und sinnlos er seine Zeit vertat. Tagsüber dösen und abends saufen, möglichst bis zur Bewusstlosigkeit, dazwischen hin und wieder ein Mädel - auf diese Weise hatte er den Krieg bis heute hinter sich gebracht. Widerspruchslos hatte er es geschehen lassen, dass die tödliche Einförmigkeit des
Kommisslebens Gewalt über ihn bekam, wie über alle anderen. Karl hätte dieser Einförmigkeit seine eigene Aktivität entgegengesetzt. Dasselbe hätte man von ihm erwarten können.
„Was macht denn Hans?" fragte Felix endlich, um seinen Gedanken eine andere Richtung zu geben.
Karls Augen leuchteten auf. „Der ist in Ordnung", sagte er warm. „Ist bei uns natürlich." - Er saß immer noch wie abwartend da, die Ellbogen auf den Tisch gestützt und das Kinn auf die Hände. In seinem etwas schwerfälligen, kantigen Gesicht blinkten die Augen wie zwei Feuer. „Bei euch ist wohl nicht viel zu machen?" fragte er dann.
Felix zuckte die Achseln. „Was soll man heute den Leuten erzählen? Im Westen radiert unsere Luftwaffe eine englische Stadt nach der anderen aus, im Osten stehen wir dicht an der Wolga..."
Karl machte eine ungeduldige Handbewegung. „Lass", sagte er, „das erzählt uns der Wehrmachtsbericht besser. Was ich von dir wissen will: du hast natürlich Verbindung zur Gruppe ,Wuhlheide'?"
Er sah sofort an Felix' Gesichtsausdruck, dass das nicht der Fall war. Felix war rot geworden. „Ich bin noch nicht lange in Holland", entschuldigte er sich. „Wir werden ja an alle Fronten geworfen..."
„Die Leute aus der Gruppe ,Wuhlheide' auch", lächelte Karl. „Du musst nämlich wissen, ,Wuhlheide' ist eine Untergrundbewegung innerhalb der gesamten
PK." Er zündete sich eine Zigarette an, warf sie aber gleich darauf zu Boden und trat sie mit dem Absatz aus, weil sie ihm plötzlich bitter schmeckte. „Noch nie davon gehört?" fragte er. „Von großer Aktivität zeugt das allerdings nicht..."
Felix legte ihm die Hand auf den Arm. „Ich war bis jetzt isoliert", sagte er. „Du weißt ja, es ist schwer, Kontakt zu bekommen, unsere Leute sind misstrauisch und übervorsichtig. Aber wenn du mir helfen kannst, Verbindung zu kriegen..." Seine Stimme war heiser vor Aufregung, seine Augen hinter den dicken Brillengläsern sahen Karl erwartungsvoll an.
Karl lächelte fast wider Willen. Er setzte sich, rückte seinen Stuhl noch näher an den von Felix.
„Hör mal zu", sagte er eindringlich, aber immer mit gedämpfter Stimme, die er sich wohl in der Illegalität angewöhnt hatte. „Du scheinst zu glauben, dass ich dich für einen Abtrünnigen halte. Das ist nicht der all, sonst säße ich längst nicht mehr hier. Es gibt aber etwas, was ich fast genauso verachte wie Überlaufen. Das ist die Bereitschaft zum Widerstand aus einer Laune heraus. Wer heute zu uns stößt, tut gut daran, vorher sein Testament zu machen. Im vierten Kriegsjahr weht ein anderer Wind als 1935, 1936. Was damals zwei Jahre Zett einbrachte, kostet heute den Kopf. Darüber musst du dir klar sein."
Felix nickte. „Weiß ich alles..." In seiner Stimme zitterte die Spannung fast hörbar mit. „Also gut", sagte Karl. „Wir freuen uns natürlich
über jeden Neuen, der mitmacht." Er lächelte, weil Felix bei dem Wort „Neuen" zusammenzuckte. Dann sagte er: „Ich will dir etwas mitgeben. Der Brief ist wichtig; er wird in diesen Tagen von einem Amsterdamer Genossen erwartet. Wann seid ihr eigentlich in Amsterdam?"
„Zweiundzwanzig Uhr zehn."
„Schön. - Habt ihr Aufenthalt?"
Felix sah ihn fragend an. „Aufenthalt? Zandvoort ist ein Vorort von Amsterdam. Da fahren dauernd Züge - wie hier auf der S-Bahn."
Karl nickte. „Schön, schön. Ich wollte nur wissen, ob du eine Stunde oder anderthalb für Amsterdam 'rausschinden kannst."
„Soviel wie notwendig. Mein Urlaub läuft sowieso erst morgen ab. Morgen früh um fünf."
Karl lehnte sich im Stuhl zurück. Er trommelte nachdenklich mit den Fingern auf die Tischplatte. „Trotzdem, Felix", sagte er endlich, „ich bin ein Gegner von übereilten Entschlüssen. Ich schlage deshalb folgendes vor: Wir trennen uns jetzt. Bis dein Zug fährt, haben wir noch genau eine Stunde Zeit. In dieser wirst du noch mal gründlich mit dir zu Rate gehen. Bleibst du dabei, dass du mitmachen willst, dann kommst du um 11.45 Uhr zum Bahnhof Zoo an den S-Bahn-Schalter, nimmst deine Brieftasche vor und blätterst darin, als ob du einen Geldschein suchst. Ein Schein fällt dir dabei zu Boden. Ich werde den Schein aufheben und ihn dir zusammen mit einem kleinen Kuvert übergeben, in dem du alles Weitere findest. Verstanden?"
„Ja", nickte Felix. „Aber ich halte das Ganze für überflüssig..."
„Nein, nein", sagte Karl. „Glaube mir, Felix, es ist richtig so. Entscheidungen wie diese fällt man nicht zwischen zwei Glas Bier. Du sollst auf keinen Fall das Gefühl haben, dass ich dich erpressen wollte. Überlege dir alles reiflich, mach dir vor allem immer wieder klar, dass dein Kopf auf dem Spiele steht. Kommst du zu dem Entschluss, dass dir der Einsatz zu hoch ist, dass dir die Sache, für die du einmal eingetreten bist, diesen Einsatz heute nicht mehr lohnt - dann lass lieber die Finger davon. Dann kommst du nicht zum S-Bahn-Schalter, und wir vergessen, dass wir uns heute getroffen haben." Er stand auf, streckte Felix die Hand entgegen: „Also, Felix..."
Es war kurz vor elf, als Karl auf die Straße trat. Von hier bis zum Bahnhof Zoo waren nicht mehr als zwanzig Minuten, er konnte sich also Zeit lassen. Trotzdem durchquerte er rasch die Brandenburgische Straße, bog in die Duisburger ein und ging weiter in Richtung auf den Olivaer Platz - immer wie einer, der keine Zeit zu verlieren hat. Im Dritten Reich war nichts so verdächtig wie Müßiggang. Auch die Bänke in den Anlagen standen wie verlassen. Niemand wagte es, sich am hellen Vormittag darauf niederzulassen, aus Angst, sich durch solche verbrecherische Untätigkeit eine Anzeige beim Arbeitsamt zuzuziehen. Kein
Volksgenosse der vielgepriesenen Volksgemeinschaft duldete es, dass ein anderer es in irgendeiner Beziehung besser hatte als er selbst. Das Denunziantentum wucherte üppig wie Unkraut. Karl fragte sich seit seiner Entlassung aus dem KZ immer wieder, ob sich für solche Menschen ein Kampf, wie er ihn führte, überhaupt lohnte. Er bejahte es trotz allem. Er glaubte daran, dass man die Menschen ändern konnte. Die Nazis hatten alles Schlechte in ihnen nach oben gespült. Wie in einem See, in dem der aufgewühlte Grund scheinbar die ganze Fläche trübt, so war gegenwärtig, schien es Karl, auch in den Menschen das Gute vom Bösen bedeckt. Es in einer freieren, glücklicheren Zukunft besonders in den jungen Menschen wieder zu wecken, war ein Wunschtraum Karls, der Erzieher aus Leidenschaft war. Doch zunächst war sein Berufsziel in unbestimmte Ferne gerückt. Kurz vor Beendigung seiner Ausbildung war er vom Seminar weg verhaftet worden. Jetzt arbeitete er, um seine legale Existenz aufrechtzuerhalten, als „Ungelernter" in der Fabrik. Er war gerade von der Nachtschicht gekommen, als er Felix traf.
Karl überquerte den Platz, machte oben kehrt und ging durch die Xantener Straße wieder zur Kneipe zurück. Die Tür stand offen - Felix war nicht mehr da. Er wird auch nicht zum Treffpunkt kommen, dachte Karl. Man hatte mit früheren Genossen zum Teil recht trübe Erfahrungen gemacht. Vom Wiedersehen beeindruckt, waren sie im Augenblick zu jeder
Arbeit bereit - doch sich selbst überlassen, fielen sie sofort wieder in ihre Passivität zurück. Diese politische Gleichgültigkeit fand man besonders bei den Soldaten. Auf ihren kleinen Kampfabschnitt konzentriert, trübte sich ihr Gesichtsfeld rasch, und sie verloren jede Fähigkeit der Orientierung. Felix, von Natur labil und leicht beeinflussbar, war zwar intelligent genug, um sich ein eigenes Urteil zu bilden, aber Karl bezweifelte, dass er die Kraft aufbringen würde, seiner Umgebung einen immer gleich bleibenden zähen Widerstand entgegenzusetzen. Karl hätte auch sicher nicht daran gedacht, ihn sofort aus seiner Lethargie aufzurütteln, wenn er nicht in Bedrängnis gewesen wäre. Er hatte keinen Kurier zur Verfügung. Der Mann, der bisher die Verbindung aufrechterhalten hatte, war inzwischen wegen einer anderen Sache hochgegangen. Karl hatte es erst gestern erfahren. Seitdem brannte ihm das Material in den Fingern. So hatte er von der Möglichkeit, es durch Felix nach Holland bringen zu lassen, gleich Gebrauch gemacht.
Karl atmete tief auf. Er hatte die Bahnhofshalle von der Hardenbergstraße her betreten und den Raum mit einem einzigen Blick überschaut. Felix war schon da. Jetzt hatte er Karl gleichfalls gesehen. Er trat ans Ende der langen Schlange vor dem S-Bahn-Schalter -fünf Minuten später hatte ihm Karl das Kuvert in die Hände gespielt. Das Ganze war fast stumm und von den anderen unbemerkt vor sich gegangen. Aber im Besitz dieses unscheinbaren blauen Umschlags, fühlte sich Felix plötzlich aus der Masse der Soldaten herausgehoben. Während der Fahrt blödelte er mit ihnen und machte rüde Späße wie sonst, aber das alles berührte ihn gar nicht. Er dachte nur noch an seine Aufgabe. Bei der ersten Gelegenheit, sich unauffällig zu entfernen, ging er auf den Abort und riss den Umschlag auf. Der Brief enthielt in einem besonderen kleinen Kuvert die zu übermittelnde Nachricht. Daneben die Anschrift eines bekannten Fischhändlers in Amsterdam, bei dem sich Felix unter Anwendung eines genau festgelegten Frage-und-Antwort-Spiels melden sollte. Felix kannte die Fischhandlung, ein großes Geschäft unweit des Bahnhofs. Die gehören also auch zur Untergrundbewegung, dachte er verblüfft. Er prägte sich seine Fragen ein und vernichtete den Zettel. Die Nachricht selbst ließ er in seinen Schäftern verschwinden.
Der Zug lief mit geringer Verspätung ein. Felix strebte zum Ausgang und lief eilig durch das Spalier von Mädchen, die wie immer auf die ankommenden Landser warteten, um ihnen Lokale zu zeigen, in denen man zu essen bekam, und Hotels, die man zu zweien aufsuchen konnte. Das war im moralischen Amsterdam genauso wie in Brüssel oder Paris. Felix rechnete damit, dass er spätestens um Mitternacht den Zug nach Zandvoort erreichen würde. Aber es kam anders. Der Fischhändler war wider Erwarten nicht zu Hause. Er sei „auf Tour", sagte seine Nachbarin, die Felix aus dem Bett geklopft hatte. Er würde erst morgen zurückerwartet. Felix überlegte fieberhaft. Unmöglich konnte er den Brief nach Zandvoort mitnehmen. Einmal wegen der Gefahr einer Entdeckung - und dann war es äußerst unbestimmt, wann er das nächste Mal Urlaub nach Amsterdam erhalten würde. Er musste also bis morgen hierbleiben. Ein plausibler Grund für diese Verspätung würde ihm schon einfallen. Um Ausreden war er bisher noch niemals verlegen gewesen.
Er ging zum Bahnhof zurück. Unterwegs erwog er einen Augenblick, ob er die Kommandantur aufsuchen sollte. Manchmal war der vorschriftsmäßige Weg auch der sicherste. Aber wenn er Pech hatte, nahmen sie ihn zu genau unter die Lupe. Schließlich war es jedenfalls auffällig, dass er ausgerechnet in Amsterdam, eine halbe Stunde von seinem Standort entfernt, übernachten wollte. Außerdem war auch die Aussicht auf das Massenquartier, das sie ihm als Gefreiten zuweisen würden, wenig verlockend. Blieb also nur das „schwarze" Hotel. Er kannte eins, das Hotel Europa, er hatte es einmal mit einem netten Mädchen besucht. Heute ließ er sich das Abendessen aufs Zimmer bringen, gab dem Zimmerfräulein, das mit dem Aufräumen nicht fertig wurde, zwei Scheiben Brot ab und legte sich hin. Er schlief traumlos von zwölf bis gegen halb fünf. Um diese selbst für das Hotel ungewohnt frühe Stunde wurde er durch lautes Klopfen an seine Tür, dem gleich darauf energisches Aufklinken folgte, unsanft geweckt. Razzia! durchfuhr es Felix. Verdammt noch mal! Gerade heute muss das passieren! Er riss gewaltsam die Augen auf. Am Fußende standen zwei Feldpolizisten der Wehrmachtstreife. Jetzt nur ruhig Blut! Felix reichte sein Soldbuch möglichst unbefangen hin, gab genauso gleichmütig seine Erklärungen: Ja, er wüsste, dass das Hotel für Angehörige der Wehrmacht verboten sei. Er sei gestern so spät hier angekommen, ihm sei schlecht geworden... Idiotische Ausrede, empfand er selbst. Das Hotel lag viel weiter draußen als die Kommandantur. Doch manchmal fraßen sie so was. Die Polizisten sahen starr, als seien sie aus Holz, durch ihn hindurch. Der eine warf einen Blick auf die Uhr. Er forderte den Gefreiten auf, mit auf die Kommandantur zu kommen, wo er sich wegen Urlaubsübertretung zu verantworten haben werde. Felix, die Sinne zum Zerreißen gespannt, zog sich schweigend an, immer unter den Augen des einen. Der andere war inzwischen ein Zimmer weitergegangen. Als Felix sich bückte und mit dem Fuß in den Schafler stieg, wäre er fast mit dem Mann der Wehrmachtstreife zusammengestoßen. Der bückte sich gleichfalls und hob den blauen Briefumschlag auf. Er betrachtete ihn prüfend von allen Seiten und steckte ihn ein. „Aus Berlin?" sagte er nur. Aber es war weniger eine Frage als eine Feststellung.
Felix rutschten die Beine weg, als hätte sie ihm jemand abgeschlagen. Er musste sich setzen. Die Verordnung schoss ihm durch den Kopf, nach der es jedem Soldaten streng verboten war, persönlich einen geschlossenen Brief zu befördern. Die Übertretung dieser Verfügung wurde ihm nun zum Verhängnis. Sie verpflichtete den Feldpolizisten, den Brief dem diensthabenden Major auf der Kommandantur auszuhändigen. Der war seinerseits gehalten, sich vom Inhalt des Briefes zu überzeugen...
Felix fasste sich an den Kragen. Der war ihm plötzlich zu eng. Die Ereignisse dieses Tages spulten sich vor ihm ab. Die Begegnung mit Karl - das schien Jahre her. Karl, der ihn immer wieder gewarnt hatte. In der Tür blickte sich Felix noch einmal um. Die bunte Tapete, helle Gardinen - er wusste, dass er das alles zum letzten Male sah. Nie mehr würde er in einem weichen Bett schlafen können, nie mehr einen Raum betreten oder verlassen, wann es ihm gefiel. Er hätte damit rechnen müssen - gewiss. Aber er hatte nicht damit gerechnet, dass es so bald geschah.
Er fuhr sich über die Lippen; sie waren trocken geworden, trocken und spröde, wie bei einem Fieberkranken. Und wie im Fieber sah er auch Karls Gesicht: es war kantig und breit und erdrückte ihn fast. Die zwei Feuerstellen seiner Augen brannten sich in ihn ein. Felix wischte sich über die Stirn, aber Karls Augen blieben. Von ihnen gefolgt, trat er über die Schwelle, ging neben der Wehrmachtstreife über die Straße zur Kommandantur.

Sozialismus • Kommunismus • Sozialistische Belletristik • Kommunistische Unterhaltungsliteratur • Proletarisch-Revolutionäre Literatur • Utopische Klassiker • Arbeiterroman • Agitationsliteratur