Nemesis-Archiv   WWW    

Willkommen bei Nemesis - Sozialistisches Archiv für Belletristik

Nemesisarchiv
Kurt Huhn - Solange das Herz schlägt (1950)
http://nemesis.marxists.org

Regen

Ob der Regen mit oder ohne Warnungszeichen eintrifft, ist völlig egal. Die Arbeit geht überall weiter. Wir dürfen keinen Schutz aufsuchen. Von den Türmen beobachten uns die Posten bei Unwetter besonders streng. Die Sonderstreifen tragen ihr Regenzeug. Die SS vom Arbeitsdienst sucht Deckung, in der Schmiede, in der Ziegelei, auf dem Zimmerplatz im Werkzeugschuppen, bei den Eisenbiegern. Ihre Augen bleiben wie Jagdgläser in das Gelände gerichtet. Es sind junge Augen, gefährliche Augen. Sie suchen eine herumstehende Nummer. Die Nummer ist deutlich genug für ein schwaches Auge an unsere Jacken und Hosen genäht. Sie und der Winkel sind aus haltbarem Stoff. Jacke und Hose sind scheußliche Fetzen, von Lauge zerfressen, von Knüppelhieben durchgeschlagen, während der Arbeit von Brettern, Balken, Ziegelsteinen, Eisenteilen zerlöchert. Wir schlafen darin, wir arbeiten darin, wir sind krank darin und sterben in dem Plunder. Darum sind ihnen die herumhängenden Fetzen nur noch für die Zerreißmaschine wichtig. Wichtiger ist die Nummer. Ihre Eintragung in das Notizbuch bedeutet beim Abendappell Essenentzug oder Prügel für den Häftling, Strafkommando an der Straßenwalze und Himmelsreise durch den Schornstein, aber lobende Anerkennung für die Posten, Urlaub, Beförderung, Diensterleichterung.
Die Eintragungen entsprechen deshalb auch nicht der Wahrheit, sondern dem aufgestachelten Geltungsbedürfnis, der hochgezüchteten Angeberei, dem täglich ein-
geplanten Tod von Häftlingen, und sie werden eines Tages alles auf befolgte Instruktionen und Befehle zurückführen.
Soeben steht noch die erhobene Sonne in meinem Nacken, da lässt eine Wolke ihrem Überdrang freien Lauf und stürzt ihren Inhalt herunter, als sei ein Riesenwasserbecken geplatzt. Zugleich setzt ein schneidender Wind ein. Ich schlottere vor Nässe und Kälte. Schon schlägt die zweite Woge herunter, aber der Wind, der diesmal mitkommt, zwingt mich in die Knie. Die Wolke zieht ab. Die aufstrahlende Sonne kann mich trocknen. Das ist der Anfang, denke ich. Es wird mehr Regen geben. Obwohl sich nun die Düfte aus Pflanzen und Erde erheben, ich denke an den furchtbaren Regen, der uns bald alle Tage heimsuchen wird. Er läuft an mir herunter. Die Wege in diesem Gartenteil sind glitschig wie eine Eisfläche. Das kommt von dem blauen Ton, der dicht unter dem Mutterboden liegt.
Schon längst wollte ich Schlacke von den Brennöfen der Ziegelei heranbringen. Aber bisher war es ja noch so gut wie Sommer. Die heiße Schlacke zu karren, gehörte zu meinem Winterplan. Den Weg am Tomatenfeld hatte ich schon gut beschüttet und in der ofenheißen Schlacke etliche Rüben gebraten. Mohrrüben zuerst. Sie wurden süß wie Honig. Und ich hatte mir dabei vorgenommen, wenn ich doch einmal nach Haus komme, dann werden Mohrrüben nur im Ofen gebraten, als lukullisches Festmahl den Freunden gereicht. Wirklich, nichts hatte mir bisher besser geschmeckt, als die in Schlacke gebratenen Mohrrüben. Aber der Weg an den eigenen Tisch war weit, und das Rezept für das gebackene Wurzelgericht konnte ich mir immer nur wieder selbst empfehlen. Drei Beete der roten Wurzeln waren ausgesät. Der Scharführer hatte mir schon längst halb geraten, halb befohlen, sie umzugraben, weil sie nicht gedeihen wollten. Er war ein Gärtner. Als die ersten winzig grünen Puscheln des Krautes aus der Erde kamen, hielt ich das Zeug für Petersilie. Er nannte es Mohrrüben und deshalb nannte ich es nicht anders. Er war ja ein Fachmann. Ich stand weit bescheidener diesem nahrhaften Beruf gegenüber, und meine jetzige Geschäftigkeit war Stümperei, Selbsterhaltungstrieb und ein Schuss beharrliche Frechheit. Ich goss die Pflänzchen und las das fröhlich treibende Unkraut heraus, und jedes Beet zeigte fünf schnurgerade grüne Striche. Mehr nicht. Eine heitere Tischdekoration oder so. Wenn es wirklich Mohrrüben waren, dann mussten es prachtvolle Wurzeln werden. Die ich gebraten hatte, gehörten zwar in die Häftlingsküche, waren aber den Enten des Kommandanten zugeteilt. Die paar Pfund weniger machten die watschelnden Bratvögel nicht magerer. Sie waren schon jetzt pfannenreif. Sie würden also keinen Anspruch mehr auf die Mohrrüben erheben, denen aus eigenen Nahrungssorgen meine besondere Aufmerksamkeit galt. Der Scharführer konnte sie zwar an die Küche abgeben. Aber er hatte eine Wut auf sie. Er schrie sie an, spuckte darauf und nannte sie Hundsdreck. Jeden Morgen, wenn er zur Kontrolle durch den Garten ging, waren die Beete frisch gehackt und gegossen. Er nannte mich höhnisch allerlei, nur keinen Gärtner. Ich glaubte an die Mohrrüben. Vor Hunger glaubte ich daran. Ich hatte doch schon längst ein Versteck für meinen erwünschten Anteil, um sie in der Schlacke köstlich wie nichts auf der Welt zu braten.
Jetzt nass und frierend, denke ich stärker an die warme Schlacke. Es treibt mich in die Richtung des Ofenhauses, um mich dort einige Minuten aufzuhalten. Die trockene Wärme in dem Halbdunkel streichelt mich. Sie tut mir bis auf die Knochen gut. Die hier beschäftigten Häftlinge sind nicht erfreut, dass ich aufkreuze. Sie sehen aber, wie ich tropfe. Da ich nicht an den Öfen längere Zeit stehenbleibe, lassen sie es zwar geschehen, ohne den Eindringling mit Steinkohle zu bewerfen, schieben mich aber förmlich mit ihren deprimierenden Augen hinaus. Ich winde mich an der ausstrahlenden Wärme vorbei. Natürlich sind die Straßenbauer, die Maurer, Tonstecher und Ablader in der gleichen Lage. Sie müssen im Regen bleiben. Sie müssen Nässe und Wind ertragen, als sei die Haut auf den geschundenen Knochen ein Panzer.
Kurz hinter dem Koksbunker gibt es zwei enge Schornsteinwände. Ich passe hinein. Das ist längst ausprobiert. Da mir kein Kapo, kein Scharführer begegnet, steige ich über die Bunkerwand und quetsche mich zwischen die Abzugswände. Vor Behagen hole ich Luft. Obwohl meine Lungen den Brustkorb nicht wie einen
Blasebalg ausdehnen können, sind sogar mir durch die engen Wände Grenzen gesetzt.
Ich höre, dass wieder eine Regenwoge fällt, und ich höre vom Eingang her Marschstiefel und Stimmen, höre an den Öfen Schaufeln und Schürhaken, und die knirschenden Stiefel bleiben in meiner Nähe stehen. Es regnet sehr, doch ich bin trocken und warm untergebracht. Meine Lumpen riechen nicht gut. Sie riechen immer nach Schweiß und Schmutz, aber nun, leicht dampfend, riechen sie besonders übel. Es ist merkwürdig, dass die Nase nicht endlich daran gewöhnt ist, sondern den Gestank registriert, bis mir im Magen flau wird. Zorn packt mich, aber die Ohnmacht, dem Zorn zum Durchbruch zu verhelfen, setzt den Zorn zurück.
Ich bin durchgewärmt, und die Nase läuft, als ob sich der Regen einen Abfluss sucht. Ich kann es nicht verhindern. Die steife Haltung gestattet mir nicht, mit dem Handrücken an die Nase zu fahren. Ich habe mich ja förmlich zwischen die warmen Wände gepresst. Außerdem sind etwas unter mir ein Kapo und ein Scharführer. Sehen kann ich sie nicht. Es ist zu dunkel. Ich höre sie nur durch die wechselnde Anrede heraus. Jeder Kapo hat einen Namen. Der SS-Mann einen Rang. Wir sind nur Nummern, Drecksäue, Aasgeier, Banditen, Scheusale und Untermenschen. Das gehört zur Kultur unserer Erzieher. Mitunter wird es zur Sucht, ein neues Schmähwort zu finden. Darin entwickeln sie eine  ungeheure Regsamkeit.  Sie  sind  bemüht,  so abfällig, so ordinär, so wuchtig zu sein wie nur möglich und machen sich nur erbärmlich.
Allmählich wird mir wärmer, als ich's vertragen kann. Die beiden Wächter haben nicht die Absicht, das Ofenhaus zu verlassen. Meine Situation wird unmöglich. Es handelt sich nicht nur darum, dass mir der Schweiß über den Körper rennt und die Beine die steife Haltung nicht mehr ertragen, es kann sein, der Posten im Turm vermisst mich. Solange die Schaufeln ununterbrochen scharren, ist auch Gefahr in der Nähe. Die Öfen müssen zwar ständig mit Feuerung beschickt werden, es sind auch die Roste zu reinigen, damit sie nicht verschlacken und die Temperatur gleichmäßig die Klinker umspielt, aber die Ziegelbrenner sind um so geschäftiger, je näher ihnen selbst die schwarze Gefahr ist. Hier sind sie trocken und warm aufgehoben, das Essen ist für sie reichlicher, sie haben Trinkwasser und einen Bottich, in dem sie baden. Ihre Arbeit findet eine gewisse Anerkennung. Sie wollen diesen Platz halten, solange ihre Haft dauert.
Nun stockt das Geräusch der Schaufeln und Kratzen. Tiefes Schweigen darauf. Dann ein zaghaftes Wort, weit entfernt. Das ist mein Augenblick. Das Herz klopft. Ich muss es wagen, aus dem Haus zu verschwinden. Muss mich mit eventueller Entdeckung abfinden. Schon bin ich aus den Wänden, übersteige die Feuerung, sie rutscht nicht ohne Geräusch unter mir weg, mir ist, als packt mich eine Zange an der Gurgel. Herum um den Ziegelstapel drehe ich, achtsam und entschieden, die Tigerhacke nehme ich vom Boden hoch, einen Blick zum Turm mit kurzer Kopfdrehung, gut, alles in Ordnung!
Der Himmel ist bezogen. Weit kann ich von hier nicht sehen. Verwaltungsgebäude, Ofenhaus und Ziegelpresse nehmen mir die Sicht. Aber die Mohrrüben stehen wunderbar. Sie haben mich nicht im Stich gelassen. Sie zeigen sich für meine Pflege dankbar im Wuchs und im Geschmack. Alle, die ich probiere, sind völlig madenfrei. Mit einer Drahtschlinge zerlege ich sie in Scheiben. Eine andere technische Möglichkeit ist nicht vorhanden. Ich muss ja meine zusätzliche Verpflegung verbergen. Darf nicht sehen lassen, dass ich kaue. Morgen werde ich zum Wintervorrat sammeln, bevor sie in die Kommandanturküche kommen. Jeden Tag werde ich am Stamm des Zwetschgenbaumes etliche vergraben. Der Posten im Turm kann das Stück nicht einsehen. Ich betrachte die Stelle noch mal kritisch. Wie ich nun knie und etwas zum Schlosserschuppen hinblicke, ist doch darunter Platz für mich. Es ist mir leichter, die Mohrrüben zu vergessen, als dieses Versteck zu übersehen. Ein wunderbarer Regenschutz. Ich probiere ihn sogleich aus. Nun habe ich zwei Möglichkeiten, der Nässe zu entgehen. Das Ofenhaus und die Lücke unter dem Schlosserschuppen. Ich danke dem Baumeister für seinen verrückten Einfall. Es fängt auch grad wieder an vom Himmel zu brausen. Flach auf dem Bauch kann ich nicht liegen bleiben, dann ist mein Arm sichtbar. Aber seitlich zwischen Erde und Holzdecke verklemmt, lässt sich's machen. Dann ist plötzlich vor Regen nichts mehr zu sehen, noch etwas anderes in der Umgebung zu hören. Er kommt mit unglaublicher Gewalt, er kommt aus übersatten Wolken und gießt im Augenblick ein ganzes Meer aus. Er will mich aus der Lücke vertreiben. Er strömt vom Dach, schlägt unweit von mir auf die Erde und schleudert mir Nässe und morastigen Brei ins Gesicht. Das ist keineswegs erfreulich. Gerade, als ich meine Lage etwas verbessern will, tapsen schwere Schritte heran und ein Doppelposten stellt sich am Schuppen auf.
Wie sie auf diesen Einfall kamen, lässt sich nicht erklären. Sie hatten unendlich viel Möglichkeiten, dem Regen auszuweichen. Sie trugen Regenzeug und dreißig Schritt von mir ab hauste der Tierpfleger mit den Schweinen des Kommandanten in einem Steinstall. Ein winziges Treibhäuschen war da. Im Schlosserschuppen, in der Ziegelei konnten sie gut, warm und trocken unterkommen, ich konnte nicht herausfinden, weshalb sie nun hier und gerade, als es mir äußerst unbequem wurde, herkommen mussten.
Sie reden leise. Nichts ist zu verstehen. Dazwischen klingelt der Regen, und im Schlosserschuppen dröhnen Hammerschläge auf Eisen. Und ich habe den Drang, meine Haltung in dieser engen Höhle nur ein klein wenig zu verändern. Ich mache einige krampfhafte Bewegungen, aber Erleichterung finde ich im Zufluchtsort nicht. Im Gegenteil, der Boden scheint immer rücksichtsloser meine Knochen zu malträtieren. Dabei habe ich durch die zusätzliche Rohkost schon etwas zugenommen. Die Tomaten, Kohlrabi, der Blumenkohl, die Mangoldblätter und die Petersilie polstern ganz klein wenig die Haut auf den Knochen. Mein Atem ist länger und mein Gang sicherer. Aber der Boden drückt und zwackt und peinigt mich unausgesetzt. Wir schlafen im Lager zwar nicht auf Daunen, sondern auf dünnen Papiersäcken, in denen das Stroh zu Häcksel geworden ist, doch in meiner jetzigen Lage ist mir zumute, als ob ich auf Schotter gebettet bin. So gut es geht, versuche ich mich zu beherrschen. Vor mir stehen die Marschstiefel, die unbarmherzig zutreten, wenn mich ihre Träger unter dem Schuppen entdecken. Dann bin ich für sie nicht mehr als ein Regenwurm, ein Käfer oder eine Spinne.
Der Boden verschlammt mehr und mehr. Ich liege noch trocken. Der Regen schlägt dicht neben mir Löcher, es bildet sich eine Pfütze, und das Wasser läuft zu meinem Glück in den tieferen Teil des Gartens ab. Spritzer treffen mich. Die SS-Schützen rühren sich nicht vom Fleck. Sie unterhalten sich. Kein Wort, kein Landschaftsdialekt ist zu verstehen, nur ein gedämpftes Gemurmel, der Regen und zwei Schmiedehämmer. Ein Glück, dass die Stiefelspitzen nicht zufällig in mein Versteck fahren, weil eine Feldmaus vom Regen vertrieben bei mir Unterschlupf sucht. Es ist dann ihr Tod und mein Tod. Eventuell kommt sie auch davon. Ich bin das größere Wild, aber auch keinen Schuss Pulver wert.
Während mir das alles durch den Kopf schießt, fällt ein Zigarettenstummel in die Pfützen. Er zischt. Eine kleine Rauchfahne kräuselt empor. Der Stummel bläht sich im Wasser, dann löst sich das Papier ab, und die Tabakfäden schwimmen auseinander. Ich sehe überrascht zu, wie es dicht vor meinen Augen geschieht. Ich bin entsetzt, dass ich's nicht verhindern kann. Der Tabak ist verloren, und ich habe kein Verständnis für die große Verschwendung, die vor meinen Augen geschieht. Da zischt es schon wieder. Der zweite Stummel ist gefallen. Bedeutend größer treibt er in der Pfütze. Ich schiebe meine Hand hinein, um ihn vor der Auflösung abzufangen.
Die Posten haben ihre Dienstvorschrift verletzt. Sie werden beide in die Umgebung sehen, doch nicht zu Boden. Ich wage das Risiko, fasse den Stummel, juble innerlich ... und sitze in der Falle. Ein Posten steht auf meiner Hand. Ich öffne sie sofort vor Schreck. Bin ich entdeckt? Ist es Zufall oder Absicht, dass mich der Schuh festhält? Ich bleibe still. Ein bittrer Gedanke treibt den andern. Der schwere Mann drückt meine Hand in den Schlamm, der Stummel ist verloren, hat sich aufgelöst. Meine innere Stimme mahnt mich zur Ruhe, aber der Schmerz in der Hand ist so stark, dass ich mich wohl nicht sehr lange beherrschen kann. Mir wird abwechselnd heiß und kalt. Ich werde bald dem Schmerz nachgeben müssen. Noch halten mich meine Bedenken zurück, und wütend ermuntere ich mich, um nicht zu stöhnen.
Ich höre die Trillerpfeifen der Kapos. Ja, es klingelt nicht das aufgepeitschte Blut in meinen Ohren, es sind die Signale für die Kommandos, an den Stellplatz zu kommen. Die Schufterei ist beendet. Die Posten ziehen sich zurück. Ich warte. Spähe ihnen nach. Dann trabe ich durch den Regen zum Stellplatz, ohne meine schmerzende Hand zu betrachten. Von überall kommen die Kumpel heran, krumm vor Nässe und Kälte, die Klotzen vom Ton verklebt, zitternd und übermüdet taumeln sie in die Reihen. Es regnet und regnet. Fünf Tote liegen im Schlamm, und der sechste legt sich ohne Seufzer dazu. Er fällt aus der Reihe. Die Reihe rückt auf. Der Kapo schlägt noch einigen, die sich wundern, mit der Faust gegen den Kopf. Er läutet ihnen die Glocken von Jericho, meint er dazu.
Die Kommandos zählen ihren Bestand durch, und wir rücken im Gleichschritt ab. Jeder greift sechs Klinker vom Stapel, und die letzten tragen die Toten. Ein Lied wird verlangt. Das Dorf soll uns hören. Denn trotz Regen und Plackerei, trotz Hunger und Toten dürfen wir einfach das Singen nicht lassen. Wir grölen immer die gleichen Lieder, und wir grölen sie schlecht. Der Scharführer und die Kapos schlagen mit ihren Knüppeln in die Reihen, die Klinker fallen, die Männer fallen, und die Toten erhalten noch Hiebe und Fußtritte. Der Regen rauscht. Unsere Herzen beben, das Blut kocht, wir greifen die Klinker, die Toten und ziehen weiter. Wieder wird ein Lied verlangt. Wir grölen lauter. Wir zittern vor Kälte, der Wind nimmt uns die Stimmen vom Mund, die Prügelei beginnt von vorn, bis sich der ganze Trupp auf der Straße wälzt. Steine und Tote werden erneut aufgenommen, und nun brüllen wir wie eine verstimmte, krächzende Orgel.
Endlich sind wir im Lager. Schichten die Steine. Formieren uns auf dem Appellplatz zu Blocks. Der Platz ist ein kleiner See geworden. Wir stehen zum Teil bis an den Knöcheln im Wasser. Der Regen fällt und der Wind bläst. Der Kommandant lässt auf sich warten. Wir zittern und werden immer krummer. Einige nässen schon durch die Hosen. Es kommt ja nicht mehr darauf an, wo das Wasser herkommt, aus den Wolken oder aus dem Leib, das macht der SS nichts aus. Die Reihen darf niemand verlassen. Alle haben auf den Kommandanten zu warten. Der lässt uns stehen, und wenn es die Nacht über ist. Wir erhalten den Befehl zum Strammstehen, dann Mützen ab, ein Lied, und wir singen. Nun schlägt uns noch der kalte Regen auf den kahl geschorenen Schädel und rollt uns ungehindert das Rückgrat entlang. Wir sind nass bis auf die Haut und ziehen doch die Schultern hoch, um nicht so direkt vom Regen getroffen zu werden. Da fallen die SS-Schläger über uns her und knüppeln drauflos. Plötzlich entdecken sie während der Prügelei, dass einige Häftlinge Zementtüten unter dem Zebraplunder haben.
Ausziehen! Nackt stehen wir im Regen, und der peitscht uns wie mit stachligen Ruten. Die Lumpen liegen im Schlamm, und wir versuchen, uns nackt aufrecht zu halten. Einige brechen tot zusammen, einige wälzen sich: in Krämpfen und schreien wie besessen.
Nun dürfen wir in die Lumpen. Die Toten haben für die Zementtüten bezahlt. Wir rücken in die Baracken ab. Der Regen trommelt auf das Dach, gegen die Wände. Wir breiten die Strohsäcke aus, hüllen uns in die Decken und warten auf das Brot. Der Wind jault im Lüftungskasten. Er rast über die Niederung und tobt sich an den Baracken aus. Unheimlich knarren die Bretter, unheimlich knattern die Regenstöße, aber den zwanzig Toten können sie nichts mehr anhaben.
Meine Hand ist dick aufgeschwollen. Sie schmerzt. Aber die warme Decke tut gut. Wenn nur der Regen und der Wind in der Frühe aufhören. . . Zementtüten ... denke ich ... Brot, höre ich ... Zementtüten im Garten... ja, wo finde ich Zementtüten ... wie bringe ich die Zementtüten bis in den Garten... Brot! ... schreien viele Stimmen ... ich höre den Wind und den Regen deutlicher ... Brot ist zwar Leben, aber Regen und Wind, solch ein Regen und der Wind hier, da fallen die Menschen wie Herbstlaub aus dem Leben ... Zementtüten ... Zementtüten ... Zementtüten ... grüble ich die ganze Nacht im Schlaf weiter.

Sozialismus • Kommunismus • Sozialistische Belletristik • Kommunistische Unterhaltungsliteratur • Proletarisch-Revolutionäre Literatur • Utopische Klassiker • Arbeiterroman • Agitationsliteratur