Solange das Herz schlägt
Die Schlafstunde ist gekommen. Ich bin auf die mir zugewiesene Pritsche geklettert. Der Raum ist eiskalt. Kopfkissen und Laken sind durch Feuchtigkeit und Frost fast steif gefroren. Einige Zugänge schnarchen schon. Draußen knarrt eine Kiefer. Sie steht in ihrer vollen Lebenskraft und versucht mich mit der Lockung ihres Wesens zu erfüllen, mir Selbstvertrauen und Ruhe zu schenken. Die Winde blasen durch ihre Nadeln, und wenn ich das Lied recht verstehe, erinnert es mich an alte Beziehungen in diesem Landstrich, den ich durchwandert bin, als er noch nicht parzelliert war, um junge und alte Menschen durch einen getarnten Justizapparat zugrunde zu richten.
Ich bin ehrlich bemüht, meine innere Erregung abzubauen und still und müde zu sein, wie die Gesellschaft der schlafenden Männer, die im Sturm und Schneetreiben vor den grünen Baracken wohl das Wiegenlied ihrer in Arbeit und Sorge ergrauten Mütter vernehmen. Der Scheinwerfer streicht an den Fenstern vorbei. Langsam suchend, prüfend, den Ausbrecher erkennen wollend, die dicken Eisblumen durchleuchtend, die am Glas knistern, schiebt das Licht vorüber. Meine Schlafdecke ist zu kurz. Der eiskalte Luftzug trifft auf meine Füße oder kriecht mir um den kahlgeschorenen Schädel.
Ich habe in meinem Leben viel gehungert und gefroren. Hunger und Frost haben meine Empörung geweckt, denn ich sah den Nachbarn schwächer und nackter im Dasein stehen, als Hund oder Katze der reichen
Leute, als ihre Zierfische oder bunten Papageien. Der arbeitende Mensch des XX. Jahrhunderts musste erkennen lernen, dass seine miserablen gesellschaftlichen Zustände niemals von selbst aufhörten, sondern nur durch die Leidenschaft, mit der er kämpferisch die Veränderung des Lebens vornahm.
Die Kälte lässt mich nicht in Ruhe. Die Gedanken galoppieren, und die Frostschauer überrieseln mich. Die Baracken krachen in den Fugen. Ein Mann fällt aus dem oberen Bett. Es gibt eine kurze Auseinandersetzung, grollende Stimmen und klatschende Hiebe. Der Scheinwerfer wandert, die Eisblumen wachsen knisternd, eine winselnde Stimme, die durch Barackenwand und Zaun will, um das Erlittene in die kristallklare Nacht zu tragen, wird mit einem klatschenden Hieb zur Ruhe gebracht.
Dann beginnt eine endlose Wanderung nackter Füße, denn nicht alle Nieren halten die Kälteprüfungen des Winters durch.
Ich will nichts hören, keine Geräusche deuten, keine Betrachtungen anstellen, sondern die Ruhezeit nützen und rolle mich wärmesuchend zusammen und verstecke mich unter der Decke. Ferne Erlebnisse wollen mich erneut zwingen, meinen Weg zurückzuverfolgen. In dieser eisigen Frische, die mich so gewaltig schüttelt, zittert auch meine Pritsche. Schlimmer empfinde ich den klaren Kopf, dem ich die tiefste Müdigkeit wünsche. Ich lege keinen Wert darauf, vor nicht aufgegangenen Lebensträumen schwach zu werden. Sie drängen sich zwar in die Reihe des bisher Erreichten, aber sie müssen zurück ohne Leid, ohne Seufzer vor dem Fehlenden. Wer nur die Verluste im Leben addiert, schwächt seine Kräfte. Wer die Träume zu neuen Zielen macht, wird sich auch behaupten.
Der Weckruf geht durchs Lager. Nun erst könnte ich die Augen schließen, denn jetzt, wo der Morgen anrückt, bin ich voll Müdigkeit. Aber ich steige doch hinunter.
Vorwärts, rate ich mir, während die in der Dunkelheit tastenden Füße auf dem unteren Bett landen. Im nächsten Augenblick liege ich am Boden. Ich denke noch nicht an Böswilligkeit, obwohl mir die angeschlagenen Knochen im Leibe weh tun. Ich lege die Hose an und mache dabei dem Kumpel mit gedämpfter Stimme Vorhaltungen, rede von Leichtsinn, von Unüberlegtheit ... will von der gemeinsamen Gefahr sprechen, doch er lässt mir schon keine Zeit mehr dazu und springt mich wie eine tollwütige Katze an. Meine Faust trifft blitzschnell seine Brust, sein Kinn, bevor er aufgibt.
Ich gehe in den Waschraum. Die Duschen sind eiskalt. Die schwingende Nebelwand steigt von den Leibern der Häftlinge auf, wenn sie der harte Wasserstrahl trifft. Nur mit der Hose bekleidet, setzen wir die Oberkörper dem Druck aus.
Es gibt eine Mehlsuppe zum Frühstück. Dann müssen wir zum Appell. Wir bauen uns vor der Baracke auf. Es findet ein Vorappell durch den Blockältesten statt. Der Wind fegt uns durch die Lumpen. Die Kälte kneift uns mit ganzer Härte. Im Block liegen Ohrenschützer, Handschuhe und Mäntel. Nur Kapos und Blockälteste dürfen davon Gebrauch machen. Es ist müßig, sich dabei vom Zorn anfressen zu lassen.
Deshalb blicke ich in die Kiefer, wage einen poetischen Spaziergang in ihr verschlungenes Geäst und höre der Krähe zu, die mit rostiger Stimme über dem Lager plärrt. Sie hüpft munter und wirft mit ihren Schwingen den über Nacht aufgestockten Schnee zu Boden. Ich bin ganz in der herben märkischen Landschaft, der man Langweile nachsagt, Öde und Traurigkeit.
Aber wer sah denn ihre glühenden Sonnenaufgänge, wer das Abendleuchten an den Kiefernstämmen an versteckten Seen? Wer schwamm wie ein Haubentaucher am Binsen- und Schilfgürtel entlang, wer tat es den Fröschen nach, die sich zwischen den Seerosen tummelten? Wo gab es einen Horizont wie diesen, der die Felder und Wälder schmückte?
Die harte Stimme des Blockältesten führt mich zurück. Die Bodenkälte hat die Füße zu Eisklumpen gemacht, meine weitschweifenden Gedanken müssen in das Hässliche hinein, ich muss nach Befehlen strammstehen, mich nach dem Vorder- und Seitenmann ausrichten, rühren, mich in den Schnee werfen, abzählen, die Kniebeugen, Mütze auf- und abreißen und bin nur noch ein Drecksack, den eine Mutter in die Welt setzte, damit er im Abgrund des XX. Jahrhunderts versinkt.
Das wird uns in den Kopf gehämmert. Aber das sind für mich längst verbrauchte Informationen oder Befehle, die nie meinen Geschmack gefunden haben. Ich habe nie meinen Schritt an die Leine nehmen lassen und habe keine Veranlassung, davon abzuweichen.
Nach einigen Übungen zum Hinlegen und Aufstehen, die uns in der Kälte nur dienlich sind, ebenso wie der Dauerlauf um den Block, marschieren wir zum Appellplatz. Kranke und Tote werden mitgeschleppt, ohne Unterschied will der Kommandant den Haufen zusammen haben. Es wimmelt von SS-Männern. Über dem Eingangstor stehen SS-Wachposten mit Gewehren, vor ihnen bewegen unsichtbare Posten die Maschinengewehre. Die Waffen sind zwar gut eingepackt, besser als wir, aber trotzdem werden sie sekundenschnell schießen, wenn der Befehl dazu erfolgt.
Heute noch nicht. Aber sie werden zu gegebener Zeit nicht darauf verzichten.
Die Blockführer schleichen um uns herum. Sie blicken von hinten in die Reihen und treten uns ins Gesäß. Sie treten uns hinein wie Fußballschützen, die zwölf Meter vom Tor entfernt sind. Aus ihrer Brust kommt dabei jener Laut, der die Kraft verrät, mit der der Tritt geführt wurde.
Was konnten denn die modernen Kannibalen anderes geben? Hatten sie sich nicht bei Lohnstreiks als Verräter an die Seite der Unternehmer gestellt? Hatten sie nicht zur späten Abendstunde Gewerkschaftsfunktionäre in dunklen Straßen mit Gasrohren niedergeschlagen? Hatten sie nicht etlichen Sportfunktionären die Lauben angesteckt und wie rasende Teufel auf Frauen und Kinder eingeschlagen, die das Dach über dem Kopf retten wollten?
Wir haben uns nie in Gedanken gewiegt, dass sie uns einmal glücklich machen werden. Sie wollten von Anfang an die Welt für sich. Wir hatten sie bis in den dunkelsten Teil ihres Wesens erkannt und die Zeit bis in die Nächte hinein genützt, um Tod und Tränen den Weg in die Häuser zu verschließen.
Wir stehen wie Statuen, bis das Kommando zum Abrücken kommt. Wir dürfen jedoch nicht in den Tagesraum, sondern werden in die Toilette gepfercht, die sich im Mittelteil der einzelnen Blocks befindet. Stehkommando, ist die sinnige Bezeichnung zu diesem Stelldichein. Aber dann muss dieser und jener seine Notdurft verrichten. Die Wasserspülung ist jedoch abgestellt. Der Geruch ist fürchterlich, aber er tötet nicht. Die Fenster zu öffnen ist verboten. Wir stehen enggedrängt und erzählen uns etwas aus dem Leben. Irgendein Begebnis, ob erlebt oder erdacht, hilft uns den Abscheu überwinden, den wir vor der Gegenwart haben.
Der Blockführer schreit uns vor die Baracke. Er jagt uns auf die Toilette, er schreit uns heraus. Es geht ihm zu langsam, und er hilft mit Fußtritten und Faustschlägen nach. Am geöffneten Fenster warten Kapos mit Stöcken, und sie prügeln. Nun stauen sich die Männer an der Tür. Etliche stürzen, es ist ein chaotisches
Durcheinander. Es gibt keine Menschen mehr, es gibt nur noch heulende Stimmen, Arme und Beine, die sich aus dem Bereich der schlagenden Stöcke retten wollen. Sie spielen Saalschlacht, diese Feinde des Denkens und der Arbeit. Nicht immer wollen sie Karten spielen, Schnaps schlucken oder schlafen. Sie müssen ihrer Langeweile eine neue Ablenkung geben, damit ihnen das Mittagbrot besser bekommt. Musik oder Dichtung hat keinen Platz in ihrem Leben. Menschen in Gefahr, Menschen im Blut, das gibt ihnen ihr Gleichgewicht wieder.
Nach diesem Auftritt kühlen wir die Stirnen an den kalten Wänden, befeuchten mit Speichel die Augenschwülste, belecken die Wunden und warten in der vergifteten Luft auf den nächsten Appell.
Langsam kommt hier und da ein Gespräch in Gang. Deutsche aus vielen Landstrichen sind wir. Abenteurer, Zuhälter, Schaubudendarsteller, Strichjungen, Portokassendiebe, Wohnungseinbrecher, Landstreicher, Wilderer, Heiratsschwindler, Apostel der verschiedensten Sekten, doch nur wenig Männer mit rotem Winkel. Auch hier eine nüchterne Berechnung unserer Erzieher, eine Angriffsspitze ihres ausgeprägten Hasses, um uns Umstürzler über unsere Würdelosigkeit zu belehren.
Ich sehe meinen Mitgefangenen in die Gesichter, höre ihre Stimmen, zucke empfindsam zurück, fühle mich innerlich gebrannt, geschwächt und geschändet. Sie aber kochen Suppen und feine Gerichte, sie garnieren Nachspeisen, trinken Liköre, auserwählte Weine und löffeln Torten. Ich höre das wohl und spüre, wie qualvoll der Eintopf im Blechgeschirr für sie sein wird. Ich höre auch die Magensäfte kullern, denn die fremdländischen Salate, gefüllten Fische und das gebratene Geflügel schmausen sie mit feuchten Lippen.
Was soll da ein marinierter Hering, Brühnudeln oder ein Eierkuchen bedeuten? Was kann ihnen meine Arbeit bedeuten? Wackerer Steuerzahler, werden sie sagen, kleiner sparsamer Prolet, du Antifaschist und wir Bösewichter gehen an den Galgen, und die Krähen werden keinen von uns verschmähen. Dein Fleiß, dein Lerneifer, deine Geschicklichkeit haben dir nichts genützt. Du hast geschuftet und gespart, und die Erwerbslosigkeit fraß oft dein Sparbuch leer. Wir sind abgeurteilt, gemeinsam auf den Tod zu warten. Wir kennen nur noch nicht die Stunde, in der uns das volle Maß der Grausamkeit erdrückt.
Der Blockälteste sucht zehn Essenträger. Ich bin ihm dankbar, dass er auf meinen freiwilligen Finger achtet. Der Gestank und das Geschwätz sind mir zuwider. Weder im Schädel, noch in den Muskeln will ich nachgeben, solange das Herz schlägt... und wie gut es schlägt... trotz Not und Gefahr ... trotz Raserei oder Stillstand . . . Herz, du hast dich immer wieder in den rhythmischen Takt gebracht, der dir eigen ist.
Der Blockälteste hat nur zwei Essenträger zusammen. Nun stellt er keine Frage mehr. Er durchbricht die Menschenmauer wie ein Wolf die Schafherde, und mit einem Kinnhaken fliegt der Schänder kleiner Schulmädchen durch die Luft. Ihm folgt der Scheckfälscher und der Wäschedieb, dann will alles hinaus, rennt sich erneut die Schädel an den Türpfosten ein, drückt sich an die Wände und bezieht Faustschläge in einem wahren Wirbel.
Im Laufschritt rücken wir zehn Häftlinge ab. Die Luft ist messerscharf. Wir werfen die Beine wie Paradepferde und trampeln uns warm. Wir umkreisen noch einige Baracken, ehe wir uns der Küche nähern. Unser Atem knistert in der Luft. Sie riecht nach Schnee, doch durchdringender schweben die Küchendämpfe unter der Bläue des Winterhimmels. Jeder Atemzug setzt uns plötzlich Eiskristalle in die Nase.
Wir warten vor der Küche. Hunderte Häftlinge warten auf die Kessel. In Blockordnung reihen wir uns auf. Der Küchenkapo sieht aus wie ein Schutzmann aus der Kaiserzeit. Uniform, Mantel und Mütze geben seiner Gestalt den entsprechenden Rahmen. Er lässt uns um die Kessel marschieren und singen, kommandiert zum Dauerlauf, hängt sich lässig den Mantel um die Schultern wie ein General bei der Parade, zwingt uns die Mützen herunter und lässt uns wieder singen.
Endlich dürfen wir die Kessel aufnehmen und in die Baracken abrücken. Wir tragen die Kessel in den Tagesraum und müssen sofort alle zum Appell vor die Baracke. Die Blockältesten öffnen die Deckel, rühren im Inhalt und rücken einen Kessel zur Seite. Sie sind die Macht, die hier Selbstverwaltung genannt wird. Sie haben uns in der Hand wie die SS. Ihr Befehl ist SS-Befehl. Protest ist Meuterei und am Ende steht immer der Tod. Ob aus SS-Hand oder Häftlingshand, das Strafmaß ist ihrer Laune überlassen.
Wir erhalten Kartoffelsuppe. Sie ist schmackhaft, aber dünn. Die Kartoffeln sind schwarz. Sie haben Frost bekommen. Alle löffeln. Kein Wort fällt. Mich schüttelt der Ekel. Ich habe es nicht auf Braten und Gemüse abgesehen. Ich bin ja nicht im Erholungsheim auf dem Wintersportgelände. Ich bin im Erziehungsheim der SS. Deshalb putzt man auch seinen Blechnapf mit der Zunge aus und blickt nach vorn, ob nicht ein Nachschlag im Kessel ist.
Ob der Magen auch rebelliert, er wird sich an die erfrorenen Kartoffeln gewöhnen, oder der ganze Mann geht kaputt. Der Magen wird eines Tages betteln, verzweifelt zerren. Er wird Küchen und Kochbüchervergessen und keinerlei Vorstellung mehr haben, wie er sich einem Stück Fleisch gegenüber benehmen soll, einem Brötchen, einem Fisch. Solange das Herz schlägt, wird er dich mahnen.
Wir spülen die Näpfe und trocknen sie aus. Wir erhalten ein Stück Schmirgelpapier und scheuern Napf und Besteck blank. Wo ein Gespräch aufkommt, kreist es um den Küchenherd oder um Marktplätze, um Fruchtkörbe oder Bäckereien. Die SS jagt uns hinaus in die Kälte, sie treibt uns durch die Fenster, sie prügelt dazwischen. Darauf dürfen wir weiter am Napf und an den Bestecken scheuern, bis zum Abendappell.
Immer sind Tote dabei, immer wimmernde Kranke, die um den Tod bitten, aber nur verlacht werden, denn die SS lässt sich das Pensum für ihr Handwerk nicht durch die Wünsche der Häftlinge in die Höhe treiben.
Ich werde nicht danach gefragt, ob ich Kartoffeln schälen kann oder will, ich werde dazu bestimmt. Im Keller unter der Häftlingsküche kann ich nun meine Geschicklichkeit unter Beweis stellen, denn je mehr wir schälen, je besser, kräftiger, dicker wird auch die Kartoffelsuppe sein, die morgen zur Mittagszeit ausgegeben wird, lautet der Hinweis des Blockältesten. Obwohl wir Faulpelze, Meuterer und Staatsfeinde dem Dritten Reich nur Scherereien machen und Geld kosten, weil wir untätig umherlungern, will uns das Reich nicht verrecken lassen, erläutert uns der Blockführer die nächtliche Arbeit.
Also schälen wir. Die Kartoffeln sind eiskalt. Unter der Haut hat sich eine Eisschicht gebildet. Zu unseren Füßen rollen sich die Schalen, klirren die Eiskristalle und bilden in kurzer Zeit einen stinkenden Brei. Er wächst mit jeder Kartoffel. Einige Männer husten hart und anhaltend. Ich sehe Eiterbeulen auf Köpfen, im Nacken und auf den entblößten Unterarmen. Ich blicke den Männern ins Gesicht, die vor mir sitzen. Leid und Erschöpfung sind in ihre Gesichter geschnitten. Matt und kraftlos schaukeln sie auf dem Sitzbrett und schälen mechanisch wie Maschinen an den Kartoffeln. Ab und zu stecken sie eine Scheibe in den Mund. Verschlossen dösen sie vor sich hin. Ich fühle einfach nur, dass sie nichts sehen und sich selbst längst in das Krematorium getragen haben, wenn die Hände auch jetzt noch Kartoffeln schälen und die letzten Zähne an einer Scheibe mümmeln.
Ein Alter schabt etliche Kartoffeln zu Brei und klebt ihn auf die isolierten Heizröhren. Häftlinge und Blockführer treiben uns durch Zurufe an, schneller und schneller und noch schneller zu schälen. Der stinkende Morast zu unseren Füßen wächst an. Die Füße sind kalt, und die Feuchtigkeit dringt langsam durch die Schuhe. Mein Nachbar schiebt mir gegen die Nässe eine Rollmopsbüchse zu. Er trägt den roten Winkel. Niemand außer uns trägt ihn. Ich will mich bedanken, aber er beachtet mich einfach nicht mehr.
Er hat es sicher vorher genug getan, als ich die harten Köpfe, diese aus Holz geschnitzten Schädel mit ihren vorstehenden Knochen und den tiefen Hautfalten betrachtete, als sei ich in einem Museum, in dem Plastiken und Ikone aufgestellt waren.
Auf den Heizröhren dampfen überall geschabte Kartoffelhäufchen. Als ihre Besitzer der Hunger plagt, stürzen die Blockführer und Kapos auf sie los, schwingen rasend Stöcke, die fieberhaft schnell arbeiten und über Schädel und Buckel trommeln. Häftlinge wälzen sich am Fußboden im Schlamm. Triumphgeheul und wehes Wimmern erfüllen den Keller. Ich springe erregt hoch, doch der Nachbar zieht mich auf das Sitzbrett. Er schält... und ich tue es ihm nach.
Ein Blockführer packt einen Häftling, schleppt ihn zum Kellerfenster, reißt ihn hoch, steckt ihn in die Lüftung und riegelt ab. Das geschieht, bis alle Fenster besetzt sind. Dann hat er einen weiteren Einfall. Er lässt das Fenster öffnen und richtet den Wasserstrahl, mit dem die Kartoffeln gespült werden, auf jeden Mann.
In der Kommandanturküche werden Schäler gebraucht. Der Blockführer holt meinen Nachbarn heraus, und der verweist nun auch auf mich. Da ich keine Eiterherde habe, darf ich mit.
Im oberen Küchenraum erhalten wir warmes Wasser, Seife und Handtuch und werden nochmals auf Eiterherde überprüft, bevor wir in den Schälraum treten. Hier sitzen ein Dutzend Knochenmänner. Es sind Häftlinge, die aus den Reihen der SS stammen. Sie tragen auf den Spiegeln ihrer blauen Polizeiröcke nur die Knochen, die zum fehlenden Totenkopf gehören. Wir sechs mit rotem Winkel setzen uns ihnen gegenüber.
Sie betrachten uns mit verächtlichen Blicken. Hier haben wir, in ihrer Gesellschaft runde glatte Pellkartoffeln zu schälen. Der Raum ist hell, warm und trocken. Der Blockführer verschwindet. Wir Häftlinge sind unter uns. Die Knochenmänner stecken sich ab und an eine Pellkartoffel in den Mund, nachdem sie etwas Salz darangaben. Wir tun es ihnen nach. Zuerst ohne Salz. Mein Nachbar tupft dann doch in ihr Fässchen. Bald stippen wir nun alle ermutigt, als ob wir bewirtet werden.
Die Knochenmänner unterhalten sich über die roten Schweine. Sie protzen mit Heldentaten bei Saal- und Straßenschlachten. Wir schweigen, schälen und stopfen uns den Bauch voll. Schwach und lächerlich führen die Knochenmänner ihr Gespräch. Sie gehen zu Spott und Verachtung über und belachen ihre Dummheit mit Raubvogelgesichtern.
Mit drei Sätzen holt sie mein Nachbar in die Gegenwart. Sie murren. Er misst sie mit ruhigen Augen. Mir ist nicht wohl. Ich gebe es zu, mir erscheint es leichtsinnig. Wenn wir auch jede Sekunde mit dem Tod zu rechnen haben, aber den Knochenmann herausfordern? Aber der Nachbar ist am Zug und bleibt am Zug. Sind wir nicht seine Freunde? Sind wir voll trüber Gedanken? Wir sind Besiegte und werden Sieger sein! Der Nachbar greift in die Vergangenheit und zeigt den Kampf auf, den jede Sklaverei herausgefordert hat, es sind harte Geschichtsstunden, und die Knochenmänner lauschen mit entspannten Gesichtern.
Am frühen Morgen schworen sie, uns umzubringen, sobald sie ihre schwarze Uniform wiederhätten. Sie fürchteten die Wahrheit, sie fürchteten, aus der Finsternis ans Licht getragen zu werden.
Der Blockführer brachte uns in den Keller zurück. Die Knochenmänner sagten kein Wort mehr.
Das Lager rüstet zum Appell.
Im Keller werden die Fenster geöffnet. Wasser und Frost haben an den ausgesperrten Häftlingen ihre Arbeit längst getan. Steif und zusammengekrümmt fallen die Leichen aus dem Loch. Eis platzt von den Körpern.
Die Blockführer lachen aus Verachtung, doch die Toten kümmern sich nicht darum. Sie sind kalt und steif, und wer sie vermisst, wird im Gedenken an den Hingerichteten den Hut ziehen. |
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