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Kurt Huhn - Solange das Herz schlägt (1950)
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Frost

Das Land ist weiß vom Schnee, und der Frost schneidet tief in die Erde hinein, und immer noch fällt Schnee. Wenn die Wolken verschwinden und der Himmel ein Sommerblau zeigt, dann pfeift der Wind, als sei an einem Dampfkessel das Ventil undicht, und der Frost zeigt seine Macht. Der Schnee leuchtet, und die Sonne leuchtet, doch der Frost setzt in die Nasen und um den Mund seine Eiskrusten an.
Auf jedem Barackenflügel ist ein eiserner Ofen. Er wartet auf Feuerung. Aber er wartet darauf, wie wir auf die Entlassung warten oder doch auf ein milderes Wetter. Die Kälte und der Schnee scheinen ewig bleiben zu wollen, und nur sie entlassen jeden Tag eine Anzahl Männer dorthin, wo sie in Zukunft weder Hunger noch Frost spüren. Es ist ihr letzter Appell.
Der Frost ist uns in die Ohren, in die Nasen oder in die Hände gekrochen. Bei mir bat er seine Arbeit an den Zehen begonnen. Sie sind aufgebrochen und eitern. Ich binde die Schuhe an den nackten Füßen fest. Auf den vereisten Wegen rutschend wie ein Schiläufer, mach ich den Weg zum und vom Appellplatz.
Schlimmer als der Frost und die schmerzenden Zehen ist jedoch für mich die Beschäftigungslosigkeit, zu der ich nun verdammt bin. Wenn man wenigstens Schnee schaufelt oder den Hauptweg mit Sand bestreut, spürt man nicht so sehr den Mangel an Nahrung. Im Stehkommando machen sie sich mit ihren Kochereien verrückt. Sie krümmen sich vor Bauchweh, hören aber
mit ihrem wahnwitzigen Geschwätz nicht auf. Es scheint, hier sind nur Köche in Haft, die auf den behaglichsten Überseeschiffen und in den teuersten Luxushotels am Herd standen. Sie mixen ihre Sprache aus Dialekt-, Ganoven- und Fremdwörtern und verständigen sich wunderbar. Dazu kann ich nur stumm bleiben. Aber wenn ich nun die Löffelei in der Suppe aus erfrorenen Kartoffeln sehe, denke ich doch an die Einflüsterungen delikater Beköstigung durch ein Muschelgericht, Hammelrücken, Geflügelauflauf, Kompotte und Weine.
Merkwürdig, dass sie nie von einem Beruf reden. Wie sie je im Leben zu Geld gekommen sind, das bleibt ihr Geheimnis.
Am Nachmittag schlurfe ich zur Arztbaracke. Mal sehen, ob ich nicht eine Binde und Salbe für die Zehen erhalten kann.
Die Schneehaufen stehen in dichten Ballen zwischen den Baracken, aber der Wind bläst mich doch mit seinen wilden Sprüngen an. Meine Jacke flattert, der Frost schneidet wie mit Rasierklingen und die Zähne klappern aufeinander. Durch die Lautsprecheranlage singt eine Frauenstimme: Freut euch des Lebens!
Noch glüht ja dein Lämpchen, denke ich. Zwar nicht in solcher Pracht wie das der singenden Dame im Funkhaus, du hast ganz dunkle Augenringe und eitrige Zehen, bist dünn wie ein Komma und stinkst abscheulich nach den erfrorenen Kartoffeln, aber du bist auch kein Fabrikbesitzer oder Landjunker. Das musst du eben teuer bezahlen.
Unterdessen habe ich den Appellplatz erreicht, will zum Revier abschwenken und werde von einem Blockführer aufgehalten. Ich muss ihm dreimal mein Vorhaben wiederholen. Er tut so, als habe er ein schwaches Gehör. Ich krächze gegen den Wind wie hundert wildgewordene Krähen. Das gefällt dem jungen Mann. Er rülpst aus seinem überfütterten Magen heraus und lacht mit erstklassigem Gebiss. Seine Faust mit dem gefütterten Handschuh funkt gegen mein Kinn, ich überschlage mich und stecke mit dem Kopf im Schneehaufen. Dort tritt er mich fest. Ich höre seine Stiefel auf dem Weg knirschen, verhalte mich noch still, dann rapple ich mich heraus und humple zum Revier.
Eine Häftlingsschlange steht davor. Ich reihe mich an. Die Zeit vergeht. Melodie um Melodie kommt aus dem Lautsprecher. Der Wind jault. Der Frost umschleicht uns. Er beugt unsere Köpfe. Dann folgen die Schultern. Die Knie werden weich. Die Augen schließen sich. Ob ich will oder nicht, die Musik und der Wind lassen mich dämmern, als säße ich nach harter Arbeit am Ofen, in dem Bratäpfel summen. Mit Gewalt reiße ich mich aus diesem Zustand. Die Musik darf mich nicht einlullen, wenn ich das Lager der grünen Scheunen einmal zu gegebener Stunde verlassen will. Die Gegenwart ist schwierig, doch das seelische und körperliche Elend lässt sich auch überwinden. Es ist ja von Menschen gemacht.
Die Schlange schiebt sich nicht weiter. Ist sie gestorben? Ist sie am Boden festgefroren? Sie gibt keinen Laut von sich. Sie bewegt sich in der Eisluft nicht einmal auf der Stelle, um das Blut in Bewegung zu halten.
Etliche Blockführer stürzen aus dem Revier, prügeln unter tierischen Schreien die Häftlinge in die Schneeberge. Sie können nicht überall zu gleicher Zeit sein, und ich habe mit hastigem Griff die Schuhe gelöst und hinke so schnell es geht davon. Aber es kommen uns auch Blockführer entgegen. Sie teilen sich in die Gänge auf und verstellen uns den Fluchtweg. Ein tiefer Schreck packt mich. Ratlos laufe ich vor, zurück, vor, zurück. Zwei Häftlinge erklettern katzenhaft die Schneeberge. Ich packe eine Barackentür. Sie ist abgeschlossen oder verklemmt. Der Abstand zwischen den Blockführern wird immer geringer. Das Geheul der verprügelten Häftlinge nimmt zu. Die nächste Baracke! Tür auf! Tür zu!
Alles an mir flattert. Die Baracke tanzt. Eine Hand zieht mich von der Tür. Die Blockführer amüsieren sich draußen nicht schlecht. Ich höre sie gehässig lachen bei ihrem Zeitvertreib, während sie ihre Stöcke auf durchgefrorene Männerrücken schmettern. Mein Schmerz ist noch ungewiss. Die Häftlingshand, die mich festhält, kann mich im nächsten Augenblick auf den Weg hinausstoßen. Meine Flucht in den fremden Block kann für alle hier anwesenden Häftlinge Ärger, Aufregung, Strafe geben. Ich kann mir die Sache schon ausmalen. Ich schlottere.
Der Häftling sieht auf meine Schuhe, die ich unter dem Arm trage. Er sieht auf meine geschwollenen Füße und offenen Zehen, zieht die Stirn kraus und seufzt. Nun sind ja meine Zehen keine Sensation, keine individuelle, einmalige Abnormität. Es handelt sich nur darum, dass der Frost sie verändert hat. Der Häftling redet mich in einer Sprache an, von der ich kein Wort verstehe. Darum habe ich das Wort: Revier für ihn bereit, schüttle den Kopf und sage dann: SS und schüttle wieder den Kopf und wiederhole: Revier, Doktor, SS. Er tut es mir geduldig nach. Darauf macht er mir verständlich, ihm nicht zu folgen, sondern an der Tür zu warten. Ich binde mir die Schuhe fest. Endlich kommt er zurück, gibt mir ein Stückchen Binde und etwas Badeseife.
Welch ein Glückspilz bin ich doch. Wenn auch der eisige Wind erneut in die Zehen beißt und den Rücken kühlt, ich hinke ja reich beschenkt in den Block zurück.
Dort sind die Häftlinge am Bettenbau. Es genügt nicht, das Laken glatt und gerade zu spannen, das Kopfkissen aber in die Mitte der gefalteten Decke zu bringen, das ist ziviles Hinterhofprogramm. Hier werden die Betten künstlerisch gebaut. Hier wird nicht in Scheunen oder auf Öfen gepennt und am Morgen wie aus der Wildschweinkuhle aufgestanden, ihr Galgenvögel, Stinkkröten und Kackmaden, hier ist ein Salon, ein Galablock, ihr Zigeuner, Karnickeldiebe und Aasfresser!
Nach diesem entzückenden Deutschunterricht aus dem SS-Wörterbuch folgt ein Erdbeben, bei dem die Betten durcheinanderstürzen. Unternehmungslustig Strapaziert der junge Blockführer seine Muskeln. Er reißt sogar den dicken Mantel ab, denn es wird ihm darunter zu warm. Natürlich bewundern wir seinen Elan, seine Kraft, seinen unterhaltsamen Umgangston, wobei unter seinen Händen alles in Scherben fällt. Er stürzt noch im Tagesraum die Schränke um, wie das wohl sein Vater macht, wenn er den Schnaps verflucht, um hinterher heulend zu schwören, ab morgen ein besserer Mensch zu werden. Nun ist zwar kein Stück mehr an seinem Platz, und jetzt sollte der junge Blockführer zeigen, wie man einen Salon herrichtet, doch hat er sich derart verausgabt und verachtet uns als Fachmann so sehr, dass er mit langen Schritten aus dem Block geht.
Appell, und wir treten an. Der Eiswind weht und der Schnee stiebt. Wir lüften die Mützen, legen beide Hände steif an die Hosennaht und trampeln wie Dressurpferde zum Appellplatz. Ich verliere meine Schuhe, ein Fangspiel beginnt, ich stecke Tritte ein und humple barfuß über die Eisfläche weiter. Wieder bestehen wir das Abzählen, den Gesang, den Schneewirbel, die Kniebeugen und hinterhältigen Fußtritte, tragen die Toten weg, heben die Kranken auf und marschieren zum Block.
Ich frage einen Kapo nach dem Block aus, in den ich geflüchtet bin, und erfahre, dass dort Tschechen liegen, die typhuskrank sind. Ein Sperrblock. Da wird mir klar, weshalb die Blockführer nicht gefolgt sind. Die Mutigen fürchten einen kleinen Bazillus.
Bevor wir unser Brot empfangen, richten wir den Tagesraum wieder her. Das Lagergesetz verbietet bei Todesstrafe den Diebstahl. Es gestattet dem Kapo, dem Blockältesten und seinen Helfern, aus eigenem Ermessen das Urteil zu vollziehen. Die Selbstverwaltung dient als Blitzableiter, sie ist die Verschleierung für die Bluttaten der SS. Die Entarteten wollen die Henkerarbeit verteilen, und sie formen einen Teil der Häftlinge nach ihrem Bilde.
Zuerst betreten die Häftlinge die Baracke, die im Verwaltungsapparat sind. Nach einiger Zeit dürfen wir folgen. Etwas ist schon aufgeräumt. Und merkwürdig, ich finde meine Zahnbürste nicht mehr, habe ein verrostetes Besteck und einen verrosteten Napf. Es ist kaum zu fassen, wie dieser Kram trotz täglicher Spindkontrolle vorhanden sein kann. Ein Kampf entsteht an den Schränken, Angriff und Verteidigung, die Schlägerei um das Eigentum wird vom Blockältesten und seinen Helfern mit Knüppelhieben beendet. An ihre Schränke kommen wir nicht heran. Das Recht steht uns nicht zu. Die Art von Selbstverwaltung funktioniert wunderbar. Wir können diese ungewählte Selbstverwaltung nicht auswechseln. Wir sind ihre Opfer, wie wir die Opfer der SS sind.
Ich gehe in den Schlafraum, um meine Erfahrungen beim Bettenbau zu bereichern. Denn bevor nicht das letzte Bett einwandfrei steht, gibt es kein Brot. Sofort ist ein Häftling da, der sich anbietet, die Pritsche in Ordnung zu bringen, wenn ich mein Brot mit ihm teile. Ich sage nicht ja und nicht nein. Ich bin kein Bäcker. Mir tritt selbst immer eine kleine Träne ins Auge, wenn ich das Brot rieche. Ich bin auch kein Snob, der nur gelangweilt herumsitzt oder mit einem Aktienpaket durch die Gegend promeniert. Dann wäre ich ja nicht hier.
Ich steuere an den Betten vorbei und tue so, als müsse ich mich überzeugen, dass alle gerichteten Pritschen nach Vorschrift gebaut sind. Es ist gut, diesen Nebenweg zu gehen. Dabei sehe ich, mit wie viel künstlerischen Griffen ein Strohsack verschönt werden kann. Vorsichtig schiele ich nach dem Häftling aus, der es auf mein Brot abgesehen hat und beginne, mein Bett in Ordnung zu bringen.
Nach einiger Zeit bin ich von meiner Arbeit ganz hingerissen. Wenn mir auch der Himmel nicht gerade das schönste Bett gönnt, so ist es doch sehr adrett. Ich betrachte noch sehr viele Pritschen und billige mir die Note: mittlere Qualität zu.
Der Blockälteste hat keinen Einwand. An diesen und jenen verteilt er Maulschellen, und dann verteilt er das Brot. Die Zeit drängt, aber das Stückchen Brot macht den geschwinden Zähnen keine Mühe. Die Kumpel, die noch verzweifelt ihre Betten bauen, legen ihr Brot in den Schrank. Wir putzen uns die Mundecken schon mit dem Handrücken sauber, ziehen uns nackt aus und gehen in den eiskalten Schlafraum. Kaum haben wir uns in die Decken gerollt, müssen wir in den Tagesraum zurück. Ein Stück Brot fehlt.
Das Gericht sitzt angezogen am Tisch. Wir stehen nackt herum. Der Täter soll sich melden. Niemand tritt vor. Der Blockälteste lässt uns Zeit. Zwei Brotportionen hat er vor sich auf dem Tisch. Drei Tote haben wir, an einer Portion kaut der bestohlene Häftling. Wir hören ihn schmatzen. Wir blicken das Brot an, das auf dem Tisch liegt. Die flackernde Kerze daneben wirft einen Schatten umher, der zwei ausgewachsenen Krähenflügeln gleicht. Todesschatten!
Einen Brotdieb wird man hängen. Das ist Lagergesetz. Wir alle wissen darum. Gleich, ob nun die SS oder ob der Blockälteste mit den Kapos das Urteil spricht. Ein Stück Brot wird demjenigen zugesagt, der den Täter nennt. Zuerst ist alles still. Dann schwirren Verdächtigungen auf. Ein Häftling tut sich besonders hervor. Er benimmt sich, als ob er das Verhör zu führen hat. Der Blockälteste bleibt beherrscht. Er steckt sich eine Zigarette an. Uns klappern die Knochen. Wir rücken eng aneinander. Der Blockälteste verspricht dem Täter nur eine Tracht Prügel, wenn er sich sofort meldet. Er legt einen dünnen Stock auf den Tisch zu Ansicht, dass er ohne Ochsenziemer schlagen wir Aber wir rücken nur enger zusammen. Unsere Zähne rattern wie Nähmaschinen. Die Kapos protestieren gegen das milde Urteil. Der Blockälteste legt ein Stück Brot neben den Stock. Beides soll der Täter haben. Zuerst den Stock und dann das Brot, und er will auf der Stelle gehängt werden, wenn er nicht sein Wort hält.
Pause. Gemurmel in unseren Reihen. Und die SS wird nicht informiert, der Block soll nur für die Zukunft vor diesem Brotdieb gewarnt sein, da wir alle ja noch keine erfahrenen Häftlinge sind.
Schluss.
Wir denken an den gemeinen Kerl, der uns das eingebrockt hat, wir denken an unsere Decken, wir sehen das Brot und riechen den Zigarettenrauch und sehen beim Kerzenschein den Brotschatten auf Tisch und Wänden wie Todesschwingen flattern. Und wieder meldet sich die Stimme jenes Häftlings, der sich vorher schon benahm, als hätte er eine Mordkommission zu leiten. Er stelzt wie ein Offizier vor uns auf und ab, und sein schiefer Mund putzt uns herunter und fordert die Kapos heraus. Er wiegt sich sodann in den Hüften wie ein Strichmädel und seine Handbewegungen deuten auf eine tanzende Bajadere. Irgendetwas ist mit ihm nicht in Ordnung. Hat er nun einmal eine taillierte Uniform getragen oder lila Jumper? Er versteht es jedenfalls, mit beiden Möglichkeiten gleichzeitig zu prunken.
Der ganze Block lacht. Das Gericht lacht. Ich kann nicht lachen. Nein, ich kann nicht! Hier ist keine Schaubühne.
Der Blockälteste lässt uns in den feuchtkalten Schlafraum gehen. Unter der Decke ist das eisige Laken zu spüren, denn das Blut wärmt kaum die durchfrorene
Haut. Durch meinen Traum zieht der märkische Wald, die Föhren und Birken, die Eichen und Buchen, die Seen und Fließe, aber dann bin ich an einer Feldschmiede und wärme in der fauchenden Glut viele Nieten für ein Krangerüst. Ja, ich bändige das Feuer, werfe die rotwarmen Nieten hoch, und der Kollege in den Trägern fängt sie wie Fliegen aus der Luft. Ich lebe inmitten des Eisens und der Feuerspritzer und trotz der Schinderei denke ich mit den Kollegen vom Eisen über den Tag in die Zukunft hinaus, wo diese Produktion von uns geregelt wird, ohne Streiks und Arbeitslosigkeit, ohne Krise und Krieg. Aufstehn! Aufstehn! Aufstehn! Mühsam finde ich in die Gegenwart zurück. Noch einen Augenblick besinne ich mich. Nur schnell in den Waschraum! Der mit Wucht geschleuderte Strahl lässt die Kälte des Raumes nicht so spüren, das Blut pulst, und der Kopf wird frei, um drohenden Gefahren zu entgehen.
Wir erhalten unsere Mehlsuppe. Die Kessel stehen dicht neben dem Tisch des Blockältesten, der auch im Tagesraum schläft. Auf dem Tisch liegt immer noch der Stock, und wenn man an den Ochsenziemer der SS denkt, wenn man sich ihn gut eingeprägt hat, dann ist ein Hieb mit diesem Stöckchen eine Spielerei. Ein Stück Brot liegt neben dem Stock. Gestern ging es um zwei Portionen. Ein Gemurmel wie im Bienenstock schwingt im Raum. Eine verdammt gedrückte Stimmung. Der Blockälteste sieht sich jeden Häftling lange und eindringlich an. Wodurch soll sich denn der Täter verraten? Ein ganzes Brot treibt seinen ausgehöhlten Bauch nicht auf, und die Suppe hinterher schafft er allemal.
Es ist kurz vor dem Appell. Der Blockälteste geht an seinen Schrank und legt ein ganzes Brot neben die Portion. Für den, der herausfindet, wer den Häftling bestohlen hat und in der Nacht die eine Portion vom Tisch genommen hat, ja selbst für den Meisterdieb, wenn er sich stellt, ohne Schläge, ohne Meldung an die SS.
Niemand rührt sich. Wirklich ein Meisterdieb. Immer wandelt dieser oder jener in der Nacht zum Mittelblock, erkältet sind wir alle. Auch ein Kapo hat auf der Lauer gelegen. Aber eine Brotportion ist wie nach Auftrag vom Tisch verschwunden.
Der Schiefmäulige stelzt herausfordernd zwischen Tisch und Häftlingen umher. Er beschwört mit seinen weibischen Händen bald den Blockältesten, bald die Häftlinge. Seine Stimme flüstert, sie donnert, sie beschwört, sie wird weich und hochmütig drohend.
Wir sind alle erregt. Hilflos und brütend drücken wir uns zusammen. Wir denken nicht mehr an Wassersucht, Furunkel und Frostbeulen, wir denken an die Vernehmung durch die SS, an ihre bösen Raubtieraugen, an die unerbittliche Feindschaft, die den ganzen Block treffen wird. Wir flüstern oder schweigen und starren das Brot an und wünschen dabei, das fehlende Brot möge zurückkommen, wie in fixen Märchen.
Wir treten zum Appell an. Wir müssen uns beeilen. Wir sind dicht am Appellplatz, da wird von hinten durch geflüstert, dass nun auch die über Nacht liegengebliebene Portion verschwunden sei. Das ist ein tolles Stück! Wenn wir uns auch den Schmerz ausmalen, der diesem Streich folgen wird, der Trick verdient Bewunderung. Ein einziger Mann lacht den ganzen Block aus, alle scharfen Augen, alle klaren, asketischen Köpfe.
Der Appell verläuft in Ruhe. Die Blockführer spritzen zum Rapport. Sie verschwinden durch das Tor. Wir rücken ab. Dabei wird durchgeflüstert, der Brotdieb habe sich gemeldet.
Wird es für ihn ein Unglück geben? Der Blockälteste hat einen zufriedenen Ausdruck im Gesicht. Er hat seine Partie gegen den verwegenen Burschen gewonnen. Man sieht es ihm an. Er scherzt, er lacht, sein Ansehen ist gerettet. Mir wird leicht. Dann werde ich traurig.
Der Blockälteste wird sein Wort halten. Aber wer garantiert für die übrigen Häftlinge? Wer schützt den Brotdieb vor der Wut jener Männer, die sich schon kalt auf der Erde liegen sahen, als der Zugwind durch die schlecht verkitteten Fenster gegen die nackte Haut blies und die Vernehmung durch die SS immer bedrohlicher wurde? Ich vermute, sie werden ihn hängen. In Gedanken gönnen doch viele dem Nachbarn nicht das Stückchen Brot, weil ihnen der Magen schmerzt. Sie haben doch kein Mitleid mit der Arbeiterfamilie gehabt, als sie der Hausfrau das Kostgeld aus der Markttasche stahlen oder dem Arbeiter, der eine Woche schwer geschuftet, die Lohntüte entwendeten? Aber hängen? Der verwilderten SS zuvorkommen? Ihr ebenbürtig sein?
Ich will den Ausgang nicht miterleben. Darum hinke ich nach vorn und bitte den Blockältesten, mich zur Revierstube zu entlassen. Das Unheil im Block muss ich ja nicht in allen Einzelheiten aufnehmen. Er will schon nachgeben. Aber dann besinnt er sich. Nein, er will den ganzen Block beisammen haben. Für meine Füße verspricht er mir Warmwasser und Seife. Er ist großzügig.
Die Vorarbeiter werden in den Block entlassen. Der Blockälteste hält uns nochmals einen Vortrag über Kameradschaft. Den Brotdieb stellt er nicht vor. Noch existiert er nur für ihn.
Schweigend und unbeweglich am Gerichtstisch sitzend, empfangen uns die Kapos. Der Blockälteste geht in ihre Mitte. Der Brotdieb tritt vor. Er ist nervös, hohlwangig, und Kopf und Nacken sind übersät mit Furunkeln. Er hastet dem Brot entgegen und streckt bedenkenlos seine Hand danach aus. So einfach ist das nun nicht. Er muss beweisen. Er blickt sich verwundert um.
Enttäuscht steht er da, öffnet den Mund. Er weiß, seine letzte Stunde hat geschlagen, aber das Brot ist ihm den Einsatz wert. Er hat keine Zeit zu verlieren, er hat Brot gestohlen und Brot gewonnen, er will nicht hungrig auf die weite Reise gehen. Er zittert wie Pappellaub, vom Hunger und von bösen Ahnungen geplagt. Er windet sich und stöhnt, dann fängt er aufgeregt an zu erzählen, seine Stimme ist dünn, flüsternd.
Der Blockälteste berät sich mit den Kapos. Der Mann hat keine Chancen. Er hat den Tod herausgefordert, der aber verschmäht sein Angebot. Er hat ein Lügennetz gestrickt und das Netz ist zerrissen. Nun liegt das Brot noch länger auf dem Tisch und wartet auf den, der Anspruch darauf hat und nicht auf den, der sich bei seinem Anblick vor Hunger krümmt und sich des Diebstahls bezichtigt.
Der Blockälteste erhebt sich. Er geht langsam auf den Schiefmäuligen los und starrt ihn an. Der bemüht sich um ein freches Gelächter. Dann bricht er ohnmächtig zusammen. Der Blockälteste zeigt uns die zuletzt gestohlene Brotportion. Ein Kapo hat sie im Strohsack des Schiefmäuligen gefunden. Er liegt zu unseren Füßen. Seine Stirn ist voll Schweiß. Ein übler Dunst kommt aus seiner Hose.
Der Häftling, der sich des Diebstahls bezichtigt hat, schreit vor Enttäuschung wie eine Sirene, lacht und weint unbeherrscht durcheinander und flüchtet hinaus. Niemand setzt ihm nach.
Zwei Kapos schleifen den Schiefmäuligen in den Waschraum, werfen ihn in die Brauseschale, kommen jedoch nicht mehr dazu, die Wasserhähne zu öffnen, denn mit einem Satz ist der Ohnmächtige auf den Füßen. Mit frechen Augen beginnt er uns zu mustern. Er
lacht wie aus einem beständigen sicheren Leben heraus. Er knarrt eine Rede gegen das Lumpenproletariat und den marxistischen Irrwahn wie ein Automat herunter. Alter Krieger ... Vaterlandstreue ... Sturmtruppler ... fanatischer Kämpfer ... Baltikum ... Ruhrgebiet... blutgekittete Kampf schar ...
Er schwört darauf, dass seine Freunde blutige Rache an dem ganzen Block nehmen werden, wenn sich jemand an seiner Person vergreift. Er baut eine geheimnisvolle Armee zu seinem Schutz auf und wird nicht heiser mit seinen Drohungen gegen uns.
Mancher von uns trägt den roten politischen Winkel, aber weder die slowakischen Partisanen sind Marxisten noch die drei österreichischen Gendarmen, weder die pazifistischen Sektenprediger, noch der gelbe Gewerkschaftler. Unsere Weltanschauung einte sich jedoch in der einen Erkenntnis: Hitler, das ist der Krieg!
Appell!
Wir treten vor dem Block an. Wir zählen ab. Der flüchtige Häftling fehlt uns, aber schon wird die Nachricht durchgerufen, unser Mann hängt am elektrischen Draht. Er lebt noch, aber der Nachtfrost wird ihn von den Qualen erlösen. Der Blockälteste macht seine Eintragung im Rapportbuch. Im Laufschritt erreichen wir den Appellplatz, wieder zu spät. Ein Dutzend Blockführer prügeln uns zusammen und auch der Blockälteste erhält seine schallenden Ohrfeigen.
Im Anschluss an den Appell ist Auszahlung im Lager. Es ist das Geld, das wir bei uns trugen, als wir verhaftet wurden oder das uns Angehörige nachschickten. Nur wer über fünf Mark auf dem Konto hat, darf am Kassenblock Aufstellung nehmen. Die Blocks treten geschlossen an. Der Einkauf ist gesichert.
Der Mann im Draht ist vergessen und der schiefmäulige Brotdieb ist vergessen. Wir haben nur noch Brot, Kuchen und Tabak im Sinn. Wir reiben uns gegen die Kälte verzweifelt die Rücken, wir beugen die Knie und rollen Arme und Beine und warten ... warten ... warten. Wir müssen im Paradies angekommen sein, es gibt wirklich Geld, Brot und Rauchware. Nun kann sich der Magen füllen, jetzt kann man blaue Rauchkringel in die Luft blasen. Bebenden Herzens schweben wir zum Himmel empor. Unsere Ohren glühen, das Lager ist ja so unheimlich groß, und der Hunger ist gewaltig, die Finsternis zieht schon über die Barackendächer und das Männergetümmel nimmt und nimmt nicht ab. Es glitzern Lampen in den Wachtürmen, und an uns vorbei tragen Häftlinge ganze Brotstapel und Pappkartons voll Tabakwaren.
Der Wind weht, der Frost zwackt, das Eis blitzt von den Schneehügeln, es funkelt auf den Wegen. Sterne, helle Farbenkleckse zucken wie Lichtreklame.
Die Blockführer haben ihre Arbeit satt. Sie befehlen, dass wir uns sofort im Laufschritt in die Baracken begeben. Wir zittern vor Kälte und Enttäuschung. Wir können den Befehl nicht fassen. Aber die Blockführer besorgen das schon. Ihre Schläge bringen uns in Bewegung. Ich fühle Schuhe auf meinen nackten Füßen,
fühle eiserne Fäuste im Nacken, alle wollen schnell entrinnen, alle vertreiben alle, und die Schwachen fallen, ein riesiges Stimmenmeer braust und dazwischen einzelne gellende Kehllaute.
Keuchend kommen wir im Block an. Berge aus Brot, Berge Tabak. Wir starren durchfroren, von Enttäuschung geschlagen, wortlos den Reichtum an, der auf den Tischen liegt. Aber in der Tür zum Schlafraum steht der Schiefmäulige. Er hat ein Schild um den Hals: Brotdieb!
Wir erhalten unsere Portionen. Der Blockälteste ruft unsere Nummern. Er hat ein Büchlein, und wer ein Konto besitzt, dem stundet er bis morgen ein Brot und eine Zigarette. Niemand kommt zu kurz. Die Portion ist schneller aufgegessen als sonst. Alle überlegen ... Zigarette ... oder ein kleines Stückchen Brot... was wohl zuerst? Aber der Kampf ist kurz. Natürlich ein Stückchen Brot. Das Messer setzt an, man gibt noch einen Zentimeter dazu, oder besser auch zwei. Auf einmal ist das Brot weg.
Unglaublich, ein ganzes Brot!
Es ist im Magen und er tut, als sei nichts geschehen. Es wühlt kein Rülpser in ihm herum. Na denn ... die Zigarette!
Niemand beachtet den Schiefmäuligen. Er steht in der Zugluft mit seinem Schild. Er zeigt keinerlei Unsicherheit. Sein Gesicht ist fast gelb, doch unbewegt. Mein Tischnachbar erzählt mir eine Geschichte. Mit Langusten und Tintenfischen beginnt sie, aber es wird eine splitternackte Frauengeschichte unter italienischem Himmel. Das Brot im vollen Magen und die Zigarette machen ihn lebhaft. Ich lache dem naiven Boccaccio ins Gesicht, ich nicke oder schüttle verwundert den Kopf, aber meine Gedanken sind bei dem Schiefmäuligen, der unbeweglich in der Tür steht und allen das Schild zeigt. Er hat nichts erhalten. Neugierig blickt er umher. Ein Kapo legt ihm plötzlich einen Strick um den Hals und setzt sich wieder in den Kreis seiner Kumpel.
Der Schiefmäulige steht da wie vorher. Seine steife Haltung erregt mich. Seine Position ist doch verloren. Schmerzt ihn der Strick nicht und nicht das Schild: Brotdieb? Hat er kein Wort der Entschuldigung für seinen gemeinen Diebstahl, macht ihn nichts nervös? Denkt er nun an die Maschinengewehre, die auf seinen Befehl in die Arbeiterreihen feuerten, weil ihn die gutgenährten Herren von Industrie und Handel einen Helden genannt haben? Wird jener Vorläufer der augenblicklichen Staatsräsonpolitik genügend Mut aufbringen, das Dasein einer Plakatsäule aufzugeben?
Ich begebe mich in den Waschraum. Ich werde versuchen, die Zehen etwas in Ordnung zu bringen. Eine kalte Abreibung vor dem Schlaf mag auch nützlich sein. Ich mag auch den Schiefmäuligen nicht mehr ansehen, dessen Scharfschützenaugen durch den Raum wandern. Diese Augen können mich nur an die Attacken und blutigen Massaker in den grauen Gassen der Arbeiterquartiere erinnern.
Ich gebe viel Seife auf die Zehen und dann sauge ich daran, bis die Geschwulst nachgibt. Damit gut. Ich muss doch eines Tages wieder in die Schuhe können. Sie sind viel zu groß und es lässt sich kaum genügend Papier finden, um sie auszustopfen. Morgen soll es zwar schon Zeitungen geben. Der Blockälteste sammelt von jedem Häftling eine Mark ein. Nette Summe für Zeitungen! Teures Abonnement!
Draußen brüllen die Straßenhändler mit vollen Lungen den Stürmer, den Angriff und den Völkischen Beobachter aus, und die Passanten haben taube Ohren oder gerade kein Kleingeld. Hier, wo man uns zu Halbmenschen erzieht und man Brot gegen ein Zeitungsabonnement abgibt, lässt sich die Makulatur absetzen.
Der Blockälteste erscheint. Er betrachtet meine Zehen, die nun schon fast wie geheilt aussehen. Er entschuldigt sein Versäumnis mit dem heißen Wasser, aber die überraschende Auszahlung und der Ärger im Block, doch morgen wird es anders. Die Kohlenablader haben Holz und Kohle mitgebracht, morgen wird der Ofen warm sein. Er gibt mir zum Trost eine Zigarette. Er schreibt sie auf mein Schuldkonto. Ich bin es zufrieden.
Er wäscht sich und geht.
Es gibt ein rumorendes Geräusch im Block. Füße trappeln, Stimmen überschlagen sich. Wahrscheinlich ist ein Blockführer zur Kontrolle da. Es ist nicht gut, einem Blockführer allein zu begegnen. Ihre Einfälle, dem einzelnen Mann zu schaden, hat noch kein Gerichtsjournalist notiert. Alles, was bisher von Kriminalisten und Gerichtsärzten aufgezeichnet wurde, was englisches Theater an Massenmorden dargestellt hat, was der Film zeigte oder in Detektivreißern erdacht wurde, ist so leer, so trist, so dünn gegen die Aktionen der wilden Naturen, die ohne Opfer aus diesem geheimen Krieg hinter dem Stacheldraht hervorgehen.
Ich überlege hin und her, was ich tun soll. Ausharren oder hineingehen? So oder so ... ich falle auf ... aber besser einem rasenden Blockführer, einer Mutter liebem rassischem furchtlosem Sohn im Haufen unter die Fäuste kommen, als ihm hier begegnen.
Im Block ist alles still. Nur die Notlampe brennt. Die Häftlinge sind schon in den Betten. Der Blockälteste überschlägt in seinem Büchlein die gestundeten Summen. Er weist mich mit dem Daumen in den Schlafsaal ein. Ich entkleide mich. Lege die edle Garderobe auf den Hocker ab und ziehe mich mit Nachtgruß zurück.
Ich erklimme den feuchtkalten Diwan, schlage die Decke um mich herum und ... am oberen Fensterriegel hängt der Schiefmäulige.
Ich mache mich klein. Ich denke an den, der draußen im Draht klebt, den Hunger und Frost martern und dessen Todesstunde gestoppt wird wie eine sportliche Leistung. Ich schließe die Augen und sinke in den Schlaf.
Nach dem Morgenappell wird wirklich weiter ausgezahlt. Der Blockälteste hat mir in einer Heringsdose etwas Heißwasser gemacht. Er tut sogar Schmierseife hinein, und ich darf im Block warten, bis wir mit der Auszahlung an der Reihe sind.
Eine knappe halbe Stunde bade ich die Füße. Draußen randalieren Blockführer. Sie schlurfen über die vereisten Wege. Sie lachen und lallen einen Schlager. Ich muss hinaus. Es gibt keine Entschuldigung für meine Anwesenheit im Block. Die SS poltert in den Nachbarblock, und ich wetze los, hinkend, schlitternd, mit den Schuhen unter dem Arm.
Zwischen den Kumpeln wickle ich die Zehen in die Binde ein. Sie machen einen recht ordentlichen Eindruck. Ich probiere auch die Schuhe, na ja, die Füße sind nicht mehr so geschwollen, dass sie nicht unter Druck nachgeben. Ich laufe Probe. Ein glücklicher Mensch!
Die Sonne steht am Himmel. Sie ist nur ein rötlicher Fleck. Mit langsamen Flügelschlägen schwingt eine Krähe über das Lager. Ihr folgt ein Schwarm. Eine heisere Meldung, mehrere Antworten und das Rauschen der eilig abschwenkenden Vögel verliert sich.
Da habe ich eine Verszeile im Kopf. Sie lebt wie von selbst auf. Ich spüre ihren Rhythmus und beginne sie zu lieben. Ein zarter lyrischer Atem schwingt aus der Landschaft und fließt in eine zweite Zeile über. Aber was soll das? Bleistifte, Füller und Notizbücher sind in die Häftlingskammer gewandert. Außer der nackten Haut bekam ich die Zahnbürste mit. Die ist nun auch weg. Und unter dem staatlichen Häftlingsfetzen zieht mir der Frost die Haut zusammen. Was sollen empfindsame poetische Zeilen, ein Appell an die Herzen, wenn ein Mann vor Hunger in den Draht geht? Was soll die Vielfalt der Farben, die sich aus der Verborgenheit im Innern lösen, wenn dieser reale Raum so unergründlich schwarz ist?
He, du empfindsamer Muskel in der Brust, schweig!
Die Schuhe beginnen wieder zu drücken. Wir vermissen immer noch das Geld und rücken zum Mittagappell ab.
Am Nachmittag warten wir wieder. Die abgefertigten Blocks verschwinden. Wir halten im Frost aus und lassen uns vom Zugwind krumm biegen. Endlich bin auch ich soweit, um meine Auszahlung zu empfangen. Es gibt am Eingang Fußtritte, an der Kartei Maulschellen und vom Kassierer und seinen Beschützern Gummiknüppelhiebe. Es werden von fünf bis zehn Mark Auszahlungen vorgenommen und das nach Kassiererlaune. Er fragt, was du willst, und er wirft dir zu, was er will. Fang deinen Plunder auf! Er merkt nicht einmal, dass er das Zahlmittel seines heiligen Reiches verächtlich macht.
Es riecht auch nach Alkohol. Gewiss, die Kälte vor den Baracken lässt sich besser bezwingen, wenn nach dem fetten Essen Korn um Korn in die Kehle getröpfelt wird. Schon der Bazillen wegen, die wir Drecksäue in den geheizten Raum blasen.
Ich verfolge jeden Vorgang im Raum. Ich muss wissen, wie sich die SS benimmt und auf welche Weise ein
unerwarteter Ausfall erfolgt, vor dem man seine Haut leidlich retten kann.
Draußen hat niemand über Misshandlungen gesprochen. Wer sein Geld weg hatte, der stürmte davon, ohne sich umzudrehen.
Drei Offiziere hinter dem Tisch, drei Paar glasige Augen, auf dem Tisch drei Gummiknüppel, in der Mitte eine Stahlkassette und ein Dolchmesser in der Tischplatte aufrecht. Mein Vordermann bekommt sein Geld hingezählt. Er schiebt seine nervösen Finger vor. Da geht es schon los. Die Kassette klappt zu, die Hand des Scharführers packt den Dolch und mit einem gewaltigen Hieb nagelt er die Hand des Häftlings fest. Ich bleibe gefasst. Ich weiß nicht warum. Macht mich der Schreck steif? Mir bleibt keine Zeit zur Überlegung. Ich erhalte mein Geld, quittiere und verschwinde.
Aber draußen, wo der Luftzug pfeift, erwischt es mich doch. Die Beine schlottern, mir bricht der Schweiß aus, die ganze Szene wird noch einmal deutlich, dazwischen irrlichtern bunte Pünktchen. Feiner Schneestaub fährt mir ins Gesicht, und ich torkle in die Baracke.

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