Nemesis-Archiv   WWW    

Willkommen bei Nemesis - Sozialistisches Archiv für Belletristik

Nemesisarchiv
Kurt Huhn - Solange das Herz schlägt (1950)
http://nemesis.marxists.org

Wieder zu Haus

Der Morgen hat ein verklärtes Lächeln. Müdigkeit und Lebenslust bilden ein spätherbstliches Gemisch. Ich gehe spazieren. Es ist ein alter Weg zwischen staubigen Häuserfronten und Fensterreihen voll bunter Auslagen, und doch ist es ein neuer Weg, auf dem ich mich nachdenklich erinnere, obwohl mich die Gegenwart verlockt hat, mich einzureihen in den anonymen Menschenschwarm, der hin und her schwingt. Wie grau und wie farbig ist das Leben!
Es ist viel Zeit vergangen, seit mich zwei Dienst­ ausübende Männer gewaltsam in ihre Mitte nahmen. Misstrauisch behielten sie mich im Auge. Ihre Erscheinungen hatten etwas Bedrückendes. Ihre Fragen hatte ich mit der Distanz beantwortet, die unserer Begegnung zukam. Es war ein eiskaltes, trockenes Wortduell. Dann gingen wir und schwiegen. Einer verbarg die linke Hand in der Brusttasche, der andere trug die rechte Hand im Mantel versteckt. Unsere Schultern lagen wie bei vertrauten Freunden eng aneinander. Dass sich in dieser Methode jedoch grundlegende Meinungsverschiedenheiten über menschliche Qualitäten ausdrückten, wussten wir drei nur allein. Auch dass zwei präzis gearbeitete Revolver losgehen würden, wenn ich nicht Schulter an Schulter mit den bewaffneten Männern blieb, war nur uns bekannt.
Die Luft roch an jenem Morgen nach Herbstlaub, nach Kastanien und Eicheln, und die Sonne streute etliche Goldfäden in die Straße. Wenige Frauen tätigten ihre Einkäufe. Die Kinder befanden sich in der Schule. Die Väter arbeiteten in den Fabriken. Sie suchten während der Freizeit mit viel Phantasie das bunteste Leben und arbeiteten sich bei der naiven Ausübung ihres Berufs in das graue Elend hinein. Gern und fröhlich, gesund und lange wollten sie leben, doch ihre Tätigkeit diente dem Schmerz, den Tränen, dem Tod. Ich hatte ihnen helfen wollen, das zu erkennen. Sie sollten nicht auf den Schlachtfeldern verkrüppeln, fallen und verderben. Sie sollten Frieden halten und im völkerverbindenden Wettstreit Geist und Körper, Landschaft und Städte zu ungeahnter Schönheit bringen.
Nun wurde ich von zwei Revolvermännern abgeführt. Staatsbeamte. Rüstig, behände und gewohnt, auf Menschen zu schießen. Ich war gefasst darauf. Aber mir fiel ein, ihre scheußliche Bedrohung zu ignorieren.
Mein Platz war für unbestimmte Zeit nicht mehr dort, wo mein Bett stand und die geschätzten Bücher warteten. Wissenschaft und Dichtung ließ ich zurück und Menschen, die oft mit sorgenverdüsterter Stirn kamen, um sich über die Familie, die Arbeit und die Zukunft zu unterhalten. Denn unsicher war ihnen ihr von der Gesellschaft der Besitzenden angewiesener Platz immer. Verzweiflung in der Arbeitslosigkeit, größere Hoffnung bei wirtschaftlicher Besserung, aber doch Angst vor neuer Krise und dem Alter, dem ungesicherten Brot nebst bedrohtem Wohnraum blieben die unerschöpflichen Themen.
Also ließ mich das Dritte Reich fühlen, dass der Versuch, das Menschenleben zu begreifen und zu deuten, die Verzweiflung zu durchbrechen und dem Frieden und der Freundschaft der Völker zu dienen, das Gewissen der Arbeiter und Bauern zu stärken, damit sie zu ihrem Selbstvertrauen fänden, nur den Hass der Herrschenden zur Folge hatte.
Deshalb verschwand ich. Ungesehen. Es hätte mir auch nichts genützt, wenn uns ein bekanntes Gesicht begegnet wäre. Unbeschadet käme jener befreundete Mensch sicher nicht davon. Das wurde mir bewusst, während das Gefühl wieder den Verstand verschob und umgekehrt.
Einige Sperlinge sah ich. Sie mussten sich für die nahe kalte Zukunft eine andere Futterstelle suchen. Mein Fensterbrett würde ohne Korn und Krume bleiben. Die Katze des Molkereibesitzers klebte am Zaun. Nur die weißen Pfötchen und der kohlschwarze Kopf hoben sich von den verwitterten Brettern ab. Das Hinterteil blieb verborgen. Mochte sie sich über meine Gleichgültigkeit wundern, über meine Abwesenheit, wenn sie etwas davon verstand. Sie zeigte keine Neigung, über den Zaun zu springen.
Zuerst vermeinte ich, in die Ferne sehend, dass sich meine Augen irrten. Sensationsdurstig, mit seinem Watschelgang, kam uns der Briefträger näher. Ich roch zur Beruhigung tief in die Luft, die voll der Urkraft aus Eicheln und Kastanien war. Sekunden schloss ich dabei die Augen. Ich hatte sie wohl überanstrengt. Die verschiedenartigen Rüche aus Eicheln und Kastanien im lauen Wind, dieser gelackten Wildfrüchte, die aus den Schalen barsten, taten zur Abwechslung meinem Gemüt wohl. Dann sahen die Augen wieder den Briefträger, der auf seinen Plattfüßen wie angewurzelt inmitten des Bürgersteigs stand. Er trug auf seiner Dienstuniform das nagelneue Abzeichen der Gewalt, des geistigen Bankrotts, der Zerstörung. Gebeugt unter der Last seiner ledernen Tasche kam er dann tapsend näher. Er bewegte sich in den Schuhen eines Riesen, deren Spitzen weit nach außen liefen. Sein gedrungener Körper war fest, doch klein.
Er hatte mir Briefe, Zeitungen und Zeitschriften des In- und Auslands ins Haus gebracht, bis die faschistischen Scheiterhaufen vor der Universität flammten. Das war für ihn nicht in Vergessenheit geraten. Er kam mit dem schweren Schritt des ehemaligen Landarbeiters, der schon als Schuljunge hinter dem Pflug des Rittergutsbesitzers über die Äcker ziehen musste. Devot lächelnd, mir zuerst die Briefe und Karten mit den bunten Verlagsköpfen überreichend, später, nach Auflösung und Zerstörung jener Unternehmen, kühler, strenger, ironischer auf mich blickend. Entsann er sich wohl auch meiner Bemerkungen, dass er sehr bald Gestellungsbefehle in die Mietskasernen tragen würde und auch jene Wehrmachtsmitteilungen, in denen der Soldatentod für die Hinterbliebenen das Letzte bedeutete? Hatte ich ihn mit meiner Verhaftung in Beziehung zu bringen? Er besaß ein gutes Gedächtnis. Traf mich aus dieser Quelle der Blitz jener Beamten, die dem Kreuzzeichen dienten? Zu erwarten war es schon. In solche Gedanken geriet ich. Vorher kam mir das nie in den Sinn.
Es kamen Frauen aus den Läden und nahmen ihm die Post ab. Sie waren daran gewöhnt, ihm die Arbeit zu erleichtern. Sie erfuhren durch die offenen Karten so viel. Wo Geburtstag im Haus war, Kindtaufe und wo die Mahnungen der Abzahlungsgeschäfte hingingen, behördliche Vorladungen zugestellt wurden, das kam den Frauen nicht ungelegen.
Ich zündete mir eine Zigarette an. Etwas aufgeregt, zerbrachen zwei Streichhölzer, und vom dritten Hölzchen flog der Kopf davon. Erst darauf gelang es, obwohl die Hände sich noch nicht beruhigt hatten. Nichts hatte sich beruhigt. Die Gedanken nicht, das Herz nicht, und deshalb flatterten die Lippen mit der Zigarette.
Wir stiegen in die U-Bahn hinunter und fuhren davon. Wir standen. Es war noch hier und da ein Sitzplatz frei. Meine Begleiter bestanden darauf, in der Ecke zu bleiben.
Das war nun alles vorbei. Ich schlief wieder in meinem Bett. Ich hörte die Uhr ticken und schlagen. Bett und Uhr und Bücher konnte ich berühren, mich sauber anziehen, lesen und schreiben.
Ich hatte versucht, ein Buch zu lesen. Es gelang nicht. Mich blickten nur Buchstaben an. Irgendwelche dekorativen Zeichen. Ihre Form war mir nicht verlorengegangen. Mein Hirn baute jedoch den Sinn nicht weiter. Es gab keine Zusammengehörigkeit. Die Sätze blieben undeutbar. Die Sätze verflachten, wurden zum Wort und das Wort verschwand im dekorativen Zeichen der Buchstaben. Ich erschrak. Versuchte erneut und wie ein Kind mit dem Finger von Wort zu Wort tippend den Sinn in mir sprechen zu lassen, doch das Echo blieb aus. Ich gab nicht nach. Ich versuchte, das gesprochene Wort mit dem Ohr zu belauschen, als wäre es der Glockenschlag der Uhr. Das Wort sollte leben wie der Gongton, der durch das Zimmer schwang. Die Buchstaben ließen mich im Stich. Auch ausgesprochen war das Gelesene nur ein unbedeutendes Geräusch.
Ich suchte verzweifelt einen anderen Weg. Es gab ihn wohl nicht. So schlief ich ein, den Kopf auf die Hände gestützt. Als ich erwachte, flog das Licht wie ein Pfeil auf meinen Schreibtisch zu.
Eine winzige Bronze, die zwei lesende Kinder darstellt, befindet sich auf meinem Schreibtisch. Das Mädchen sitzt stärker vorgeneigt und spricht wohl laut hin, was in den Kapiteln an Kummer und Glück geschrieben steht. Der ernst blickende Knabe verfolgt zwar die Zeilen mit, lauscht jedoch dabei mehr der fesselnden Stimme seiner Vorleserin und sieht die Begebnisse der Schilderung, wie sie ihm nun das vom lebendigen Wort angeregte Innere erscheinen lassen.
Er hat seinen rechten Arm um die Schulter des anmutigen Mädchens mit dem Ponnykopf gelegt. Sie hält den Burschen an der Hüfte fest. Beider Knie berühren einander, denn das Buch mit seinem geheimnisvollen Inhalt braucht eine sichere Stütze.
Ob der Schöpfer der Bronze ein großer Meister war oder ob hier nun die Aussage eines unbekannten Gießers zur Entwicklung kam, die plastische Wirkung überrascht durch die intime Gestaltung der Kinder, die sich gemeinsam die wunderbare Welt des Buches erschließen.
Weit geöffnet sind die Augen des Mädchens. Der Mund lächelt verständnisvoll in das Buch hinein, dessen Wortgefüge die Phantasie in Gang bringt.
Über wie viel Jahre der Entwicklung hatte wohl jener Träumer in Bronze vorausgesehen, als er sein kleines Kunstwerk schuf? Die Menschen waren damals weder reich gesegnet mit Zeit noch mit Büchern. Pflichterfüllung im Haushalt oblag schon den kleinsten Händen. Zwölf und vierzehn Stunden waren die Väter in den Betrieben beschäftigt. Die Mütter nähten Blusen und Kleider. Sie beugten auch nachts den Rücken über die ratternden Nähmaschinen. Kinder trugen Zeitungen aus, räumten die enge Wohnung auf, bereiteten die Mahlzeiten vor, hüteten die jüngeren Geschwister. Die erarbeitete Nickelmünze wurde für das Brot ausgegeben. Es tobten heftige Kämpfe in den Familien darum, das notwendige Lehrbuch für den Schulunterricht zu beschaffen oder das Brot zu bezahlen. Wo gab es in der Mietskaserne den stillen Winkel, um die Schulaufgaben zu machen, wo war das Versteck, um ein Buch zu lesen? Wer ein Buch las, der verschwendete die Zeit, und die Zeit verschwenden, hieß das Brot verkleinern.
Das Mädchen aus Bronze liest vor. Der Knabe daneben hört vertrauensvoll zu. Begehrend richtet er den Blick auf die Äußerungen, die sein Gefühl durch das Wort in Bewegung bringt. Er spürt dem Klang und der Musik der Sprache nach. Das Wort entzündet seine Empfindungen, seine Sehnsüchte und weckt die Freude am Leben. Das Buch bereitet mit seinem Inhalt ein neues Bewusstsein vor. Soeben war der Leser noch bedrückt, verwirrt, verängstigt, hilflos, die Schöpfung des Dichters verändert diesen Zustand. Die Zukunft schmeckt nicht mehr kalt, ist nicht mehr öde. Seelische und geistige Kräfte beginnen sich zu regen.
Als ein Hirn die sinnvollen Bronzefigürchen erdachte, als dann die Hände immer klarer formten und der Guss gelang, war darin eine Zeit vorweggenommen, die eine mögliche Zukunft bedeutete. Ein Traum der Gesinnung war in das Metall gelegt. Schmerzensreicher Zustand ist durch den vorausdenkenden Menschen aufgehoben. Die wunderbare Welt des Buches spricht mit ihrem Wort jeden an. Es gilt, das Buch sinnvoll zu nutzen, es ist allen nahe.
Der Prophet der kleinen Bronze, der Anlass nahm, lesende Kinder darzustellen, hat dabei nicht die Auseinandersetzung mit seiner Zeit gemieden. Er mag seine eigene Kindheit dargestellt haben. Er hatte sich der Unordnung seines kindlichen Daseins vergewissert. Er hatte das Buch und vor allem den Menschen geliebt.
Er wusste um die Sprachmächtigkeit der Dichtung, die Gedanken bewegt und Herzen glühen lässt. Er wusste von den grauen Hinterhöfen und den Nöten seiner Jugend, die vor lauter Arbeit kaum lesen und schreiben lernte. Darum hatte er sich die Pflicht auferlegt, mit der Bronze seine heimliche Liebe zu verkünden. Sein Atemzug, sein Herzschlag galt weder dem Behagen über das Vorhandene noch der Resignation für das Fehlende. Er hatte sich bemüht, ein Werk zu vollbringen, das den klaffenden Abgrund einer vorgetäuschten Ordnung aufriss, indem er den Kindern ein Dichtwerk in die Hände gab. In seiner metallenen Handschrift des Dargestellten überlieferte er Sehnsucht und Hoffnung des Lernens und Lesens.
Nach dem letzten Gedanken bin ich davongelaufen.
Was ist schon eine Straße im Arbeiterviertel, was gibt sie an Überraschungen her mit ihren glatten Fassaden? Nichts Denkwürdiges noch Historisches, das auf Postkarten verewigt wird. Sie altern wie die Schlösser, sind im Grundstücksamt registriert, doch für die Kunstgeschichte kommen sie nicht in Betracht.
Für mich sind sie heut besonders köstlich, diese Hausgruppen, zwischen denen ich schlendere und meinen Gedanken nachhänge, von keinem unflätigen Gebrüll behindert, von keinem Wehgeschrei verprügelter Männer. Nein, niemand sieht mir in die verschleierten Augen, wie ich in die Konditorei starre, das leckere Gebäck entdecke und vor Entsetzen an den Abend im Lager denke.
Drei Mann ein Messer, drei Mann und ein Brot. Alles ist müde an ihnen. Nur die Augen leben. Dicht hinter den Augen steckt der Wunsch, dass der Mann mit dem Messer ungleich teilen wird. Ihre Nasen laufen. Sie wischen mit dem Handrücken drüber. Auch der Speichel schwimmt aus den Mundecken zum Kinn. Der Handrücken wischt. Sie beobachten das Brot und das Messer. Das Brot liegt dem Verteilenden auf den Knien. Es ist ein gut durchbackenes, duftendes Brot. Der Mann mit dem Messer setzt die Schneide mehrmals auf. Er bekommt das letzte Stück. Auch er will nichts verlieren. Ihm bleibt der Rest, aber der Rest soll nicht weniger sein als der Teil, den der erste wählt. Es geht zwar immer reihum unter den dreien, aber jeder zittert um das Gramm, um den Krümel, der am Messer kleben bleibt. Das Brot hat Stromlinienform. Der, der es schneiden muss, quält sich mit seiner Aufgabe und denkt, dass er sie nicht schafft. Gut schmecken die durchbackenen Enden, doch die Mitte ist eben die hohe Mitte und das Rätsel der Gleichung bleibt dem zu lösen, der das Messer führt. Er kann an niemand die Arbeit übertragen. Immer wird ihm das kleinere Stück bleiben. Heute ist er der letzte. Morgen ist er der erste. Morgen, ja morgen, wenn er lebend ins Lager kommt. Wer weiß, ob er lebend ins Lager kommt? Verzweifelt setzt er das Messer an und drückt es ins Brot, macht den zweiten Schnitt und wartet, bis er den Rest nehmen darf.
Ich möchte weiter. Meine Beine zittern. Ich kann nicht weg von der Konditorei. Ich bin schon der flinken Verkäuferin aufgefallen. Wohl auch den Kundinnen, um deren Münder ein verschmitztes Lächeln spielt. Die Scheibe schließt mich von ihren heiteren Bemerkungen aus. Ihre Blicke treffen mich und rätseln herum, was ich so vor dem Laden treibe, in dem eine Verkäuferin hantiert, die dem leckeren Backwerk gleicht. Aus dem steifen, weißen Häubchen kringeln sich die blonden Haare, leicht geöffnet ist der rote Mund, der Schürzenlatz schweift aus zu wohlgelungener Linie, die Augen blitzen auffordernd und mutig.
Ich war nur äußerlich verwandelt. Innerlich war ich noch der Häftling aus Block zwei.
Ich könnte Ihnen einige nachdenkliche Geschichten erzählen, meine Damen! Sie würden sie für Sensationen halten, um mich vor Ihnen wichtig zu tun. Sie würden einen Abscheu vor mir bekommen, weil ich in Ihrem Gemüt schmerzhafte Brandwunden hinterlasse. Ihre Söhne, Ihre Brüder oder Männer würden kurzen Prozess mit mir machen, weil ich Ihnen nur imponieren wollte, den Staat dabei verleumdet habe und die Organisation wie auch das Bild der Herrenrasse mit Schmutz besudelte. So verworfen, so viehisch, so scheußlich könnte nie und nimmer ... Pfui Teufel!
Also gehe ich. Der Wind ist kühl. Mir ist sehr warm. Ich trage ja nicht mehr die Fetzen aus blauweißen Leinenfäden, die Füße stecken nicht nackt in den Schuhen. Meine Stirn ist feucht. Deshalb lüfte ich den Hut etwas und fahre mit dem Handrücken über den Schweiß. Erst
dann fällt mir ein, dass ich wieder Taschentücher bei mir trage. Nun wird mir heiß vor Scham. Ich muss den Häftling in mir bezwingen. Muss ihn verbannen, auslöschen, damit er mich nicht ständig überrumpelt.
Gleichmäßig laufe ich, denke über die Verwirrungen nach und blicke auf die eingesetzten kleinen Steine, mit denen der Fußsteig gepflastert ist. Sie haben vielerlei Farben. Wenn man einen herausnimmt, dann gibt das ein wunderbares Loch zum Murmelspiel. Die Jungen vom Bann haben das verlernt. Sie lernen, wie man Menschen verfolgt, jagt und tötet.
Eine halbe Zigarette liegt auf dem Pflaster. Wunderbar! Ich gehe auf sie zu. Hebe sie auf. Welch ein Glück, dass mir noch niemand zuvorgekommen ist. Eine gute Sorte aus Orienttabaken. Ich werde sie mit Walter teilen.
Ich begreife nur schwer, dass ich erneut etwas Dummes getan habe, etwas unerträglich Dummes. Sie haben mich aus dem Lager entlassen, aber sie haben mich betrogen. Es gibt keine Entlassung. Die Barackengesetze, die Lagerordnung, die innere Auflehnung gegen die Scheußlichkeiten haben mehr Kräfte beansprucht, als ein Mensch in sich trägt. Ich weiß, dass ich kämpfen oder untergehen muss. Ich darf nicht in Panik verfallen. Sie haben mich entlassen und doch hinter dem Draht behalten. Ich ertappe mich fortwährend dabei. Meine Handgriffe und Gedanken sind die des Häftlings vom Block zwei.
Schon das üppige Frühstück ist mir nicht gut bekommen. Nichts vertrage ich. Außer mir vor Neugierde versuche ich dies und das, alles hindert mich, plagt mich, stiftet im Magen oder Kopf Unruhe, Störungen, Schmerzen. Es ist eine gefährliche Entlassung.
Dem Park habe ich mich genähert. Er ist nicht groß. Er gibt gerade einer Mietskaserne Platz. Der Ahorn trägt noch etliche bunte Blätter. Die Hängebirke wedelt mit den kahlen Schnüren. Dekorativ steht eine Wolke aus weißem Papier dahinter. Hier setze ich mich. Die Bank ist etwas feucht. Aber was tut das. Ich werde die feuchte Kühle nicht spüren. Die Eiche hält ihr Laub noch fest. Auch Schnee und Frost und zügelloser Winterwind werden sie stark finden. Die Erinnerung daran nütze ich aus. Mein Herz pocht wieder besser. Spatzen haben mich beobachtet und kommen herbei. Husch, sind sie da, ohne Laut, picken, drehen sich, husch, sind sie weg. Aber dann kommen sie in Fülle und bringen eine Meise mit. Hinter mir zausen Amseln im feuchten Laub. Die Meise fliegt zu mir auf die Bank. Vorsichtig betrachtet sie mich. Aber ich habe nur kalten Schweiß in der Hand.
Ich erfreue mich sehr lange der Vogelgesellschaft. Sie nehmen es mir nicht übel, dass ich nichts weiter für sie habe als einen lockenden Pfiff oder ein wiederholendes: Sisisisisi! Aber sie zeigen mir ihre Sprünge, ihre kleinen Raufhändel und Flugkünste und manchmal, aus mir unverständlichen Gründen, schrillen sie im Chor.
Ich nehme den unterbrochenen Orientierungsgang wieder auf. Es zieht mich ins Zimmer. Es lockt die Straße mit ihren Passanten, und ich hebe den Kopf und gehe und betrachte die Fußgänger und bin innerlich sehr ruhig und fest. Ich entdecke wieder einen Stummel, diesmal von einer guten Zigarre, muss zwar meinen Kopf wenden, aber ich gehe nicht zurück, um mich zu bücken. Ich messe ihn nur mit den Augen, gebe jedoch seiner Lockung nicht nach. Es zuckt zwar in Hand und Hüfte, aber ich bleibe stark. Ich richte meinen Blick in die Schaufenster, in die Gesichter, in die trotzigen, schönen, faltigen, törichten, gelangweilten Gesichter, auf den schleppenden, eitlen, lässigen, beschwingten Gang.
Ein SS-Mann klirrt heran, stampft, schurrt. Mütze ab! Laufschritt! Er blickt auf mein Herz, wo Nummer und Winkel sitzt. Er ist die Instanz, das Gesetz, der Jäger mit dem Totenkopf, der erbärmlichste Sünder, dem das Ergebenheitsgelübde das Herz raubt und ihn in die schwarze Uniform der Verwesung steckt. Ich war sein Muselmann, sein Drecksack, sein Mistvogel. Mein Tod war sein Urlaubsziel. Sein Wahn bleibt seine Schande.
Es überläuft mich zwar heiß und kalt, aber in die Knochen geht mir sein Blick nicht. Das ist mehr, als ich von mir selbst erwarten konnte. Aber das ist erst der Anfang der Arbeit. Ich werde mit mir noch schwer und hart zu tun haben, aber durchhalten.
Vor meiner Haustür begegne ich dem Briefträger. Er fummelt sofort nervös am Tragegurt der Ledertasche.
Seine prallen Backen werden schlaff. Die Grußhand will sich in den Himmel recken. Aus seiner Kehle gluckst ein gurgelnder Laut. Das Kinn vibriert. Die Füße grätschen auf der Stelle. Gehen kann er nicht. Er hebt die Beine an, doch er grätscht auf der Stelle. Er möchte fliehen und tapst, als sei die Welt voll Schnee. Dass ich am Leben bin, weiß er. Jeden Monat bringt er den ekelhaften Briefumschlag ins Haus, auf dessen linker Seite ein verlogener Auszug aus der Lagerordnung steht, der Postsendungen betrifft. Daneben prangt ein roter Stempel der Postzensur. Natürlich zeigt er mal solch einen Umschlag herum. Nun bin ich selbst da, und er möchte weg wie eine Katze und hinter den Müllkasten. Ich koste unsere Begegnung nicht weiter aus. Es ist zu erbärmlich.
Es sind andere Menschen da. Menschen voll Besinnung, Mut und Hoffnung, Zielstrebigkeit, Geduld und Klugheit. Wozu die Erbärmlichen im Vordergrund sehen? Es geht um die Treuen, die Unerschütterten, die Aufrechten!
Hier zogen wir mit unseren Fahnen durch die Straße und unser Gesang pochte an Fenster und Türen. Wir wollten nicht auf das Leben verzichten und besangen den Frieden der Arbeiterwelt. Wir waren voll Optimismus und besangen die Einheit der Klasse, die Zukunft der Klasse, den Sieg der Klasse.
Wir werden unser Ziel erreichen. Sie fürchten Marx und Lenin. Sie fühlen sich schwach, obwohl sie mit allen Mitteln unsere Vernichtung betreiben, das Proletariat wird und muss aus sich herauswachsen. Die Arbeiter und Bauern sind die neue Geschichte.
Die Stufen emporsteigend, bin ich wohl nun erst wirklich zu Haus.

Sozialismus • Kommunismus • Sozialistische Belletristik • Kommunistische Unterhaltungsliteratur • Proletarisch-Revolutionäre Literatur • Utopische Klassiker • Arbeiterroman • Agitationsliteratur